Autor: Nathalia Schmidt

  • Abschied von Jean-Jacques Defago

    Abschied von Jean-Jacques Defago

    Manchmal beginnt ein Lebensweg nicht mit einem lauten Paukenschlag, sondern mit einem stillen Zufall. So war es bei Jean-Jacques Defago, der seit 1979 ein fester Bestandteil des Hamburg Ballett ist. Bis 2000 tanzte er in John Neumeiers Compagnie, seitdem ist er Mitarbeiter der Abteilung Kommunikation und ist bis heute verantwortlich für die Webseite und digitale Inhalte. Nun ist es Zeit, Abschied von ihm zu nehmen.

    Wie alles begann? Jean-Jacques war bereits 18 Jahre alt, als er durch einen Zufall erfuhr, dass es in seinem Geburtstort Monthey, einer Gemeinde im Kanton Wallis in der Schweiz, eine Ballettschule gab. Zwei Stunden Unterricht pro Woche – das war sein Einstieg in eine Welt, die bald sein Leben verändern sollte. Ein Jahr später, mit 19, besuchte er einen Sommerkurs in Cannes am Centre de Danse International von Rosella Hightower. Dort traf er auf die ehemalige Direktorin der Schule, Rosella Hightower, und dann nahm alles Fahrt auf. Sie trat auf ihn zu, beeindruckt von dem, was sie gesehen hatte. Und fragte ihn, auf welcher Ballettakademie er sei. Und er antwortete wahrheitsgemäß, dass er auf eine kleine Schule in einem Schweizer Dorf unterrichtet werde, nicht an einer renommierten Akademie. Als sie ihn fragte, ob er Tänzer werden wollte, zögerte er nicht lange – und sagte dann, ja, das wäre ein Traum, aber es sei unmöglich, wie solle er seinen Eltern sagen, dass er professionell tanzen möchte? Doch Rosella Hightower lächelte nur und sagte: »Sag nichts. Ich werde ihnen schreiben und deinen Eltern versichern, dass du eines Tages einen Job als Tänzer erhalten wirst.« Sie hielt Wort. Drei Wochen später packte er seine Sachen – und zog für drei Jahre zum Tanzstudium an die Ballettschule nach Cannes.

    Pas de deux-Klasse beim Centre de danse international Rosella Hightower (Cannes) / Jean-Jacques Defago und Mylène Rathfelder

    Nach seiner Ausbildung folgten zahlreiche Vortanzen: Genf, Zürich, Düsseldorf, München, Frankfurt – er hatte überall ein Angebot für ein Engagement. Und doch wartete er auf eine bestimmte Zusage: Hamburg. Damals war das Hamburg Ballett unter John Neumeier der Ort, an den alle wollten. Nur Hamburg ließ sich Zeit. 205 Bewerber*innen kamen damals zum Vortanzen. Er ging zurück nach Genf – und wartete. Dann, drei Wochen später, kam die Antwort. In Form eines Telegramms: »Jean-Jacques Defago. Centre de Dance Cannes. Offer contract letter follows. John Neumeier.« Er war überglücklich. Und Rosella Hightower sollte mit ihrer Aussage Recht behalten.

    Telegramm (19.12.1978)

    Ein Leben in Bewegung

    In Hamburg begann ein neues Kapitel. Und er wollte nie wieder weg. Die Arbeit mit John Neumeier war einzigartig – kreativ, fordernd, inspirierend. Er sagt selbst, dass er nie der Tänzer mit der makellosen Technik war. Bei seinem Vortanzen in Hamburg sei es ihm zum ersten Mal gelungen, die double tours nach links auszuführen. Aber er konnte Geschichten erzählen, Rollen verkörpern, Emotionen auf die Bühne bringen. Und das tat er – über Jahre hinweg – auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper und auf Tourneen weltweit. In seinen 21 Jahren als aktiver Tänzer kreierte John Neumeier mit ihm mehrere Solorollen in seinen Balletten, darunter in »Requiem« und »Matthäus-Passion«.

    »Requiem« (Premiere in Salzburg, 1991) / Anna Grabka und Jean-Jacques Defago © Holger Badekow

    Zu seinem Repertoire gehörten u. a. eine Hauptrolle in »Tristan« und Soli in »Magnificat« sowie in der »Dritten« und »Fünften Sinfonie von Gustav Mahler«. Er war auch in Balletten von Jerome Robbins, José Limón, Antony Tudor und George Balanchine zu sehen. In späteren Jahren tanzte er häufig noch als Bruder Lorenzo in »Romeo und Julia« oder als Herzog in »Die Kameliendame«.

    Probe von »Tristan« (Hamburg, 1985) / Choreografie: John Neumeier / Gigi Hyatt und Jean-Jacques Defago © Holger Badekow

    Mit Anfang 40 wurde es auf der Bühne etwas ruhiger für ihn. Und er fand langsam seinen Weg in andere Bereiche der Compagnie. Zunächst half er in der Presseabteilung aus. Als der damalige Pressesprecher plötzlich zur Metropolitan Opera wechselte – mitten in der Spielzeit – übernahm er kurzerhand dessen Aufgaben. Und das direkt vor einer wichtigen Paris-Tournee im Jahr 2000, bei der die Compagnie John Neumeiers Ballett »Illusionen – wie Schwanensee« im Théâtre du Châtelet tanzte. Er übersetzte Teile des Programmheftes ins Französische. Ganz selbstverständlich. Er musste Yves Saint Laurent in der Vorstellung begleiten und dann auf der Bühne (er kam gleich zweimal zur Vorstellung). Der Modeschöpfer wollte mit John Neumeier sprechen, er war begeistert von seiner Arbeit und interessiert an einer Zusammenarbeit, leider kam es nie dazu. Später wurde Saint Laurent krank und starb 2008. Doch allein die Vorstellung dieser Zusammenarbeit lässt noch heute etwas in Jean-Jacques leuchten.

    Ausschnitt aus einem Artikel in »Die Welt« (4.12.1998) über die Hamburg Theater online: Wie sich Hamburger Bühnen im Internet präsentieren © Die Welt

    Erster im Netz

    Ende der 90er-Jahre, das Internet steckte noch in den Kinderschuhen, hielt er zum ersten Mal ein Computer in den Händen. Und sah, dass das American Ballet Theatre eine eigene Website hatte. Kein Profi, keine Agentur hatte sie gestaltet, sondern eine Tänzerin der Compagnie. Er war fasziniert – und wollte das auch. Er lieh sich einen Computer, brachte sich HTML und Webdesign autodidaktisch bei. Was er aufbauen wollte, war mehr als eine Seite mit einer Telefonnummer für den Ticketverkauf. Er wollte mehr: Stückinformationen sammeln, Spielpläne, Biografien der Tänzer*innen und Hintergründe – ein echtes digitales Archiv. 1998 ging der erste Online-Auftritt des Hamburg Ballett live. Komplett selbst erstellt. Nicht programmiert im klassischen Sinn, aber gestaltet, strukturiert, organisiert – aus dem Nichts. Vorlagen oder Templates gab es nicht. Alles war damals noch Handarbeit. Nach etwa 15 Jahren entschied er sich, die Ballettseite mit der Website der Staatsoper zu integrieren. Der Aufwand wurde größer, der Pflegebedarf stieg. Auch visuell war der ursprüngliche Auftritt nicht mehr zeitgemäß. Die Fusion war der logische Schritt. Doch bis zum Sommer 2025 pflegt er die Eingabe der Daten und Informationen selbst.

    Erste Premiere mit dem Hamburg Ballett: »Songfest« (1979) / Choreografie: John Neumeier / Jean-Jacques Defago und Jean-Christophe Maillot © Holger Badekow

    »Ich bin einfach stur«, sagt er heute. Und meint das als eine seiner größten Stärken. Er sei ohne klassische Ausbildung und vom Alter her recht spät Tänzer geworden, und er habe ohne Vorkenntnisse eine professionelle Website aufgebaut. Was ihn dabei stets begleitet hat: ein Auge für das Visuelle. In Hamburg erlebte er die enge Zusammenarbeit zwischen John Neumeier und dem Designer Peter Schmidt – und lernte viel durch bloßes Beobachten. Warum machte Peter Schmidt etwas so und nicht anders? Dieses Gefühl für Gestaltung hat er sich im Laufe der Jahre angeeignet.

    »Matthäus-Passion« (vor dem Salzburger Dom, 1984) / Ivan Liska, John Neumeier und Jean-Jacques Defago © Schaffler

    Und jetzt, ein Leben im Dolce Vita? Nicht nur! Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs ist er zwar gerade in Nervi, einem Stadtteil in Genau, wo gerade das Nervi International Ballet Festival stattfindet unter der neuen künstlerischen Leitung von Jacopo Bellussi – ehemaliger Erster Solist des Hamburg Ballett. Aber ein neues Projekt wartet schon: Die Pflege bzw. der Aufbau der Webseite der John Neumeier Stiftung. Dort finden sich bislang nur ein Werkverzeichnis mit Titeln und Jahreszahlen der über 170 Ballette des Choreografen. Er arbeitet daran, die Seite zu erweitern, mit Kontexten, Bildern und Hintergrundinformationen. Weil es wichtig ist und diese Arbeit ihm schon immer großen Spaß gemacht hat.

    Lieber Jean-Jacques, danke, dass du über 45 Jahre lang Teil des Hamburg Ballett warst, wir werden dich hier sehr vermissen!

    Nathalia Schmidt

  • BallettTester*innen »Die kleine Meerjungfrau«

    BallettTester*innen »Die kleine Meerjungfrau«

    Als BallettTester*innen durften Ulukbek, Ning und Ruby unsere Neufassung von »Die kleine Meerjungfrau« bereits in der Hauptprobe erleben. Hier erzählen die BallettTester*innen von ihren Erlebnissen und Eindrücken.

    Ich bin Ulukbek, in einer Woche werde ich 28 – und studiere im Master PuNo an der Uni Hamburg. Ganz zufällig bin ich auf das Angebot gestoßen, als BallettTester bei John Neumeiers »Die kleine Meerjungfrau« dabei zu sein. Ballett fasziniert mich seit Langem, also sagte ich sofort zu.

    Die Probe heute hat mich tief bewegt. Direkt nach einem ganztägigen Blockseminar ins Opernhaus zu hetzen, war zwar anstrengend, aber ich wollte mir diese Chance nicht entgehen lassen. (Keine Sorge: Ich habe den Kurs nicht geschwänzt!) Nach dem Schlussapplaus sagte ich zu Nathalia [Dramaturgin Hamburg Ballett]: »Ich muss das zu Hause erst einmal verdauen.«

    Ehrlich gesagt war es mir fast ein bisschen peinlich, wie schwer es mir fiel, die Disney-Version mit Arielle aus dem Kopf zu verbannen, zumal ich das Original von Hans Christian Andersen nie vollständig gelesen habe. In der Pause tauschte ich mich mit anderen BallettTester*innen darüber aus: Wir alle hatten unsere eigenen Bilder im Kopf, und doch ist das, was wir auf der Bühne sehen, eine Interpretation des Choreografen. Dieses ständige Umschalten zwischen Kindheitserinnerung und Neumeiers vielschichtig-poetischer Umsetzung hat das Mitkommen nicht leichter gemacht.

    Lennard Giesenberg als Der Dichter in »Die kleine Meerjungfrau« © Kiran West

    Etwa nach 50 Minuten fand ich endlich meinen Rhythmus: Ich begriff, wer Hans Christian Andersen auf der Bühne ist, wer die Meerjungfrau, wer der Prinz und wie sich die Ebenen miteinander verweben. Dabei war ich gleichzeitig überwältigt von Choreografie, Licht, Kostümen und Bühnenbild. Alles griff ineinander, sodass ich manchmal gar nicht wusste, wohin zuerst schauen.

    In der Pause erzählte uns Nathalia noch eine biografische Anekdote über Andersen: seine Vormundschaft bei einer adligen Familie und seine tiefe, unerwiderte Zuneigung zu Edvard Collin. Plötzlich ergab die »Golfschläger Szene« – diese vom Prinzen – einen ganz neuen Sinn: Die vermeintliche »Bindung« war wohl nicht ernst gemeint, sondern vielleicht eher kleines Spiel, flüchtig, bedeutungslos. Ich spürte den Schmerz einer Liebe, die nie erwidert wird, und fragte mich, ob manche Menschen tatsächlich ihr Leben lang allein bleiben müssen.

    Diese Frage traf mich persönlich. Die Szene, in der die Meerjungfrau auf dem Schiff steht, noch ungeübt mit ihren neuen Beinen, während alle anderen mühelos tanzen, erinnerte mich an meine ersten Monate in Hamburg: neue Stadt, Pandemie, Online-Uni, fremde Sprache. Man fühlt sich unbeholfen, sehnt sich nach Zugehörigkeit.

    Am Ende blieb ein bittersüßer Nachhall: Entscheidet man selbst, ob man allein bleibt, oder hofft man weiter und wählt das Glück vielleicht auch im Alleinsein? Dieses Ballett hat in mir einen Sturm aus Kindheit, Gegenwart und Zukunft losgetreten. Ich weiß, dass ich in den nächsten Tagen viel darüber nachdenken werde und ich bin dankbar für jede einzelne Emotion, die es freigesetzt hat.

    Ulukbek, 27 Jahre

    Lennard Giesenberg, Xue Lin, Matias Oberlin und Ida Praetorius © Kiran West

    Im Ballett »Die kleine Meerjungfrau« geht es um eine junge Meerjungfrau, die einen Prinzen vor dem Ertrinken rettet. Er war auf dem Weg zu seiner Hochzeit, als sein Schiff unterging. Sie bringt ihn ans Ufer und beobachtet ihn heimlich, bis Menschen auftauchen und sie schnell zurück ins Meer muss. Ein Mädchen aus der Gruppe, die Prinzessin, bleibt bei dem bewusstlosen Prinzen. Als er aufwacht, denkt er, sie hätte ihn gerettet, und verliebt sich sofort in sie. Die Meerjungfrau beobachtet das aus der Ferne und wünscht sich, selbst ein Mensch zu sein. Also geht sie zu einer »Oktopushexe«, die sie in einen Menschen verwandelt. Doch der Prinz erkennt sie nicht. Sie versucht, ihm näherzukommen, aber es klappt nicht. Am Ende heiratet er die Prinzessin. Die Hexe will, dass die Meerjungfrau ihn tötet, damit sie ihre Flosse wieder bekommt, doch sie liebt ihn zu sehr. Am Schluss wird ihr klar, dass sie ihn loslassen muss.

    Louis Musin als Der Meerhexer mit Xue Lin (Die kleine Meerjungfrau) © Kiran West

    Ich fand das Ballett wunderschön. Die Choreografie war beeindruckend, und die Tänzer*innen konnten nicht nur toll tanzen, sondern auch stark schauspielern, ihre Emotionen waren richtig spürbar. Auch das Bühnenbild war super kreativ, mit wenigen Requisiten wurde viel gezeigt, z. B. die Wellen und das kleine Boot. Eine coole Ergänzung war der Erzähler, der dem Ganzen eine extra Ebene gegeben hat. Mein Lieblingsteil war die Szene, in der der Prinz Golf auf dem Schiff spielt, total witzig und irgendwie tiefsinnig. Insgesamt war das Stück eines meiner Highlights. Ich kann es nur weiterempfehlen!

    Ning, 14 Jahre

    Xue Lin als Die kleine Meerjungfrau und Ensemble © Kiran West

    Ich durfte am 04.07.25 bei der Hauptprobe der kleinen Meerjungfrau zuschauen und es war sehr toll. Was am Anfang schon extrem auffallend bzw. beeindruckend war, waren die Lichter, die teilweise auch bunt waren. Ich hatte mir eine Ballettaufführung immer so mit klassischer Musik und nur Frauen in rosa Kleidchen vorgestellt. Aber es war ganz anders, viel interessanter und beeindruckender. Es waren echt viele Tänzer*innen, und alle hatten so ihre eigene wichtige Rolle. Auch hier dachte ich, dass eher alles synchron getanzt wird, aber jede einzelne Rolle war bis ins Detail durchdacht und abgestimmt. Man musste immer darauf achten, was der oder diejenige, auf den das Licht gerichtet war, macht, während gleichzeitig eine andere Person im Hintergrund etwas genauso Grandioses gemacht hat. Die Kostüme waren auch sehr verschieden, besonders und vor allem bunt. Von der Schlabberhose bis zum Hochzeitskleid war alles dabei.

    Ensemble in »Die kleine Meerjungfrau« © Kiran West

    Es war auf der Bühne sehr viel los, und man musste immer gut aufpassen, um allem zu folgen, aber genau das hat es auch so spannend gemacht. Ich war sehr beeindruckt, wie man nur durch Tanzen so gut eine besondere Geschichte verstehen kann. Zumal ich das Buch vorher nicht gekannt/gelesen habe.

    In dem ganzen Tanzstück hat einen alles ein bisschen zum Nachdenken angeregt, und ich habe sehr stark gemerkt, wie viele Gedanken hinter dem Stück stecken.

    Die Musik hat alles sehr schön begleitet, und alleine durch sie hat man sich schon ein Bild von dem Ganzen machen können. Das Einzige, was ich kritisieren würde, ist, dass manche Stellen sehr lang waren. Etwas kürzer wäre vielleicht noch toller gewesen, in der Kürze liegt die Würze. Das gilt vor allem für jüngere Gäste. Ich dachte, dass die Meerjungfrau eher für junge Gäste ist, aber in Betracht der Länge und der Konzentration würde ich das Stück nicht für ganz junge Gäste empfehlen.

    Alles in allem fand ich es aber sehr atemberaubend. DANKE!

    Ruby, 13 Jahre

  • BallettTester*innen »Tod in Venedig«

    BallettTester*innen »Tod in Venedig«

    Als BallettTester*innen durften Elise, Nicolas und Mascha unsere Wiederaufnahme von »Tod in Venedig« bereits in der Hauptprobe erleben. Hier erzählen die BallettTester*innen von ihren Erlebnissen und Eindrücken.

    Es herrscht gespannte Konzentration im so ungewohnt leeren Saal der Hamburgischen Staatsoper. Drei Tänzer, noch in Trainingsmontur, darunter der herausragende Louis Musin, gehen im Stillen Schritte des Stücks durch, die sie dabei andeuten. Das Regiepult im Parkett wird gleich voll besetzt sein und in der Mitte die große Legende und der Schöpfer dieses Balletts und der Hamburger Ballettcompagnie sitzen und mit liebevollen, aber prüfenden Argusaugen über sie wachen: John Neumeier.

    Die Hauptprobe zur Wiederaufnahme von Neumeiers Stück »Tod in Venedig« steht an. Alle beteiligten Werkstätten sind anwesend für den kompletten Durchgang des Ballettabends, Licht, Bühnentechnik, Regie, Dramaturgie und Ballettmeister*innen. Dunkelheit legt sich über den Zuschauerraum und schon geht es los.

    Was folgt, ist ein überragendes, mitreißendes und emotionales Balletterlebnis!

    Man blickt auf ein reduziertes Bühnenbild, in dem nur Akzente gesetzt werden. Trotzdem füllt sich durch Requisite, Licht und besonders den Tanz das Bild mit Leben und zu der vollständigen Atmosphäre Venedigs. Fotografien, entstanden in der Lagunenstadt, zeigen schmale Details wie das blau-grüne Wasser oder die Spiegelung einer venezianischen Häuserwand und skizzieren so das mediterrane Lebensgefühl.

    Caspar Sasse (Tadzio), Charlotte Kragh und Javier Monreal in »Tod in Venedig« © Kiran West

    Die Rolle Aschenbachs wird in der A-Besetzung von Edvin Revazov getanzt und er geht völlig darin auf. Mit Hingabe und unglaublicher Authentizität porträtiert er diesen facettenreichen Charakter und berührt dabei jede*n zutiefst. Es scheint, als wäre ihm diese Rolle direkt auf den Leib geschneidert, doch es verhält sich eigentlich genau gegenteilig. Bei der Uraufführung des Stücks 2003 verkörperte er den jungen Tadzio, den Aschenbach so fasziniert. Er hat sich also zur Rolle hin entwickelt, ja mehr noch, er ist hineingewachsen und das mit absoluter Bravour! Die Entwicklung Aschenbachs in dem Verlauf des Stücks ist deutlich spürbar und durch feine choreografische Nuancen dargestellt. Ein besonderes Detail, das mir wahrlich eine Gänsehaut bereitet hat, waren seine Fäuste, die sich an mehreren Stellen des Balletts langsam öffneten, bedeutsam hervorgehoben. Genau so wird Gustav von Aschenbachs pedantische, korrekte und ehrgeizige Haltung zur Kunst und zum Leben im Buch beschrieben, und sein Wandel hin zum erlebten Leben mit all seinen Unberechenbarkeiten und großen Emotionen symbolisieren die entspannten Hände. Auch Tadzio wurde mit Caspar Sasse großartig besetzt. Mit seiner strahlenden, mystisch und mythisch anmutenden Schönheit und der so lebensnahen lebendigen Sprunghaftigkeit und Federkraft der Jugend ist er perfekt für diese Rolle und verleiht ihr gebührend Ausdruck! Die Jungsgruppe um ihn herum war ebenfalls herausragend mit ihrem perfekten Einklang von tänzerischer Höchstleistung und jugendlicher Lebhaftigkeit, beeindruckender Kraft und spielerischen Leichtigkeit.

    Edvin Revazov (Gustav von Aschenbach) und Caspar Sasse (Tadzio) © Kiran West

    »Tod in Venedig« ist ein detailreiches Ballett, das von seiner Vielseitigkeit lebt. Wahnsinnig anspruchsvolle Abfolgen von Hebefiguren, mehrere berührende Pas de troix und große Szenen mit vielen Tänzer*innen sprechen eine äußerst bildgewaltige Sprache und sind alle erstklassig choreografiert, absolut gelungen! All diesen Herausforderungen wird diese phänomenale Compagnie mehr als gerecht. Mit Herz, Leidenschaft und tänzerischem Können erweckt sie dieses Ballett zum Leben. Das Ensemble erschafft eine authentische venezianische Hotelgesellschaft mit all ihren Subebenen an Drama und Konflikten, die angedeutet werden. Und sie tanzt schließlich den Totentanz, eine spektakuläre Erfrischung untermalt mit Heavy Metal Sound, eine eindrucksvolle Hommage an mittelalterliche Vorlagen und mit schauderhaften Verweisen auf die Corona- Pandemie. Die beiden Boten dürfen nicht ungenannt bleiben, die mit ihrer enormen Versatilität überzeugen konnten, hier getanzt von Artem Prokopchuk und Louis Musin.

    Louis Musin und Artem Prokopchuk als Der Wanderer © Kiran West

    Raffiniert und clever kreierte Neumeier imaginäre Pas de deux von Aschenbach, bei dem Tadzios Blick stets entrückt schön bleibt und die Interaktion seltsam zufällig wirkt, doch so gefühlvoll ist. Höhepunkt findet dies in der stürmischen Umarmung, bei der Tadzio mit dem Rücken zum Publikum unerkennbar und irgendwie anonym bleibt, während wir Aschenbachs aufgewühltes Gesicht sehen, als er lange in dieser Umarmung verharrt. Wagners berührendes Stück, gespielt vom meisterhaften David Fray, läuft einfach weiter, bildet die große Bewegung in Aschenbachs Innerem ab, die seinen Körper erstarren lässt. Was eine unglaublich eindringliche, ergreifende Szene!

    Neumeiers Ballett ist eine Auseinandersetzung mit Kunstschaffung und ihrer Bedingungen, die in dem vollen Fühlen des Lebens bestehen, eine wirklich fantastische Adaption von Thomas Manns literarischem Werk.

    Und dabei zitiert er Nijinsky, der einst sagte: »Man soll Ballett nicht verstehen, man muss es fühlen!«

    Elisa, 22 Jahre

    Ein letztes Flüstern geht durch den Saal, das Licht dimmt sich und die ersten Töne von Bachs »Das Musikalische Opfer« durchdringen die Stille. Die Hamburgische Staatsoper präsentiert derzeit John Neumeiers Handlungsballett »Tod in Venedig«, eine freie Interpretation der Novelle von Thomas Mann. Ich hatte die Ehre, auf Einladung des Hamburg Ballett bei der Hauptprobe am Freitag, den 07. Februar 2025, dabei sein zu dürfen und als einer der ersten die Wiederaufnahme des Stückes bestaunen zu dürfen.

    In den nachfolgenden zweieinhalb Stunden wird eindrucksvoll mit viel tänzerischer Präzision die tragische Geschichte der Figur Gustav von Aschenbach (verkörpert durch Edvin Revazov) geschildert, einem intellektuellen, erfolgreichen, rationalen und alternden Choreografen. Getrieben von geistiger Erschöpfung reist dieser nach Venedig, wo er auf den schönen, jugendlichen Tadzio trifft (dargestellt von Caspar Sasse). Schnell zieht der wesentlich jüngere Tadzio diesen in seinen Bann. Fasziniert von Tadzios Anmut wächst Aschenbachs Bewunderung allmählich zu einer stillen, unerfüllten Liebe. In Tadzio sieht Aschenbach all das, was er an sich selbst vermisst. Während sich die Cholera in der Stadt ausbreitet, kann er sich trotz des Altersunterschieds nicht von dem Jungen trennen. Gefangen in seiner inneren Zerrissenheit verliert er sich zunehmend in seiner Sehnsucht, bis auch er schließlich der Cholera-Epidemie zum Opfer fällt und nach einem physischen und geistigen Verfall zu Tadzios Füßen verstirbt.

    Edvin Revazov (Gustav von Aschenbach) mit Alexandre Riabko (Aschenbachs Konzepte) © Kiran West

    Begleitet wird die Handlung durch eine geschickte Auswahl an Klaviermusik von Richard Wagner, an diesem Nachmittag ausdrucksstark und technisch brillant gespielt von David Fray, und von musikalischen Werken Johann Sebastian Bachs. Doch das Publikum wird nicht nur akustisch verwöhnt, sondern auch von einem ansprechenden, symbolträchtigen Bühnenbild begleitet. Dieses ist minimalistisch, stilvoll und mit ästhetischen naturverbundenen Farben gestaltet. Der Designer Peter Schmidt gestaltete es so, dass einzelne Handlungselemente auch bühnenbildtechnisch akzentuiert werden, ohne von der tänzerischen Leistung abzulenken. Besonders hervorzuheben ist sicherlich die gelungene Auswahl der Fotos, die eigens für die Produktion in Venedig aufgenommen wurden. Auch das Lichtkonzept verstärkt den Kontrast zwischen der Dekadenz Venedigs und Aschenbachs innerer Düsternis. Ebenfalls positiv zu erwähnen sind die schlichten, ästhetischen Kostüme, welche in Zusammenarbeit zwischen John Neumeier und Peter Schmidt entstanden sind.

    Neumeiers Interpretation hebt die universellen Themen der Novelle hervor und macht die inneren Konflikte Aschenbachs auch für ein heutiges Publikum greifbar. Dabei gelingt es ihm, zentrale Elemente der Novelle tänzerisch zu erfassen, wobei insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen Aschenbach und Tadzio eindrucksvoll dargestellt wird. Jeder einzelne Tänzer und jede Tänzerin auf der Bühne erzählen eine eigene Geschichte, sodass beim ersten Betrachten des Stücks längst nicht alle Details erfasst werden können. Ein großes Lob gilt den Tänzer*innen, die ausdrucksstark auf einem hohen Niveau eine wunderschöne Choreografie zum Leben erwecken und dafür sorgen, dass Realität und Illusion auf der Bühne zu verschwimmen scheinen.

    Ich danke dem gesamten Team der Staatsoper Hamburg und des Hamburg Ballett dafür, dass ich nicht nur bei einer Hauptprobe dabei sein konnte, sondern auch bereits im Voraus diese rundum gelungene und kurzweilige Produktion sehen durfte!

    Nicolas, 24 Jahre

    Ensemble in »Tod in Venedig« © Kiran West

    Basierend auf der Novelle nach Thomas Mann aus dem Jahr 1912, deren Titel zunächst scheint, Unheilvolles zu verkünden, hat John Neumeier eine Ballettadaption auf die Bühne gebracht, welche die Seele berührt. Über das Ableben und das Abschiednehmen hinaus, spielen diverse Themen in dem Stück eine Rolle, die wohl dem ein oder anderen Zuschauenden bekannt vorkommen können: Von der Suche nach wahren Überzeugungen, dem stetigen Zweifel seiner selbst, der Leugnung eigener Sehnsüchte bis hin zur scheinbaren Selbstakzeptanz präsentiert Neumeiers Wiederaufnahme des Totentanzes »Tod in Venedig« ein Facettenreichtum an alltäglichen und lebensprägenden Themen.

    Eine wahre Stärke dieser Inszenierung liegt in den beeindruckenden Kostümen, die das Publikum in das Venedig der frühen 1900er Jahre entführen. Gepaart mit der darstellerischen Leistung und dem individuellen Ausdruck der Tänzer*innen wirkt es, als könnte jedes venezianische Pärchen eine ganz eigene Geschichte erzählen. Die detailverliebten Kreationen von Neumeier und Peter Schmidt vereinen Eleganz und Melancholie auf bemerkenswerte Weise und spiegeln so Gustav von Aschenbachs innere Zerrissenheit zwischen Melancholie und Sehnsucht wider. Auch das Spiel aus Bühnenbild und Lichtkomposition tragen maßgeblich zum Zauber dieser Aufführung bei. Die Bühne wird durch minimalistische, aber eindrucksvolle Elemente – beispielsweise projizierte Fotografien aus Venedig selbst – geprägt, welche das venezianische Flair perfekt einfangen und präsentieren. Die stimmungsvollen Lichteffekte verleihen dem Geschehen eine fast träumerische Qualität. Besonders in Erinnerung bleibt hier der klug eingesetzte Wechsel der Lichtfarbe. Befindet sich das Publikum in Aschenbachs Fantasien mit Tadzio, wird das Licht plötzlich blau und symbolisiert so, was der Wirklichkeit entspricht und was der Fantasie.

    Edvin Revazov (Gustav von Aschenbach), Silvia Azzoni und Alexandre Riabko (Aschenbachs Konzepte) © Kiran West

    Tänzerisch bewegt sich die Aufführung auf höchstem Niveau. Die präzisen und emotional aufgeladenen Bewegungen der Compagnie erwecken die inneren Konflikte der Figuren zum Leben. Besonders berührend sind die Interaktionen der Hauptrollen, verkörpert durch Edvin Revazov (Gustav von Aschenbach) und Caspar Sasse (Tadzio), welche die Gefühlswelten, Eigenschaften und Sehnsüchte der Figuren perfekt transportieren. Besonders das Pas de Deux, welches sich in Aschenbachs Fantasie abspielt, reißt das Publikum emotional mit:  Jede Geste und jede Drehung zeugen von dessen wachsendem inneren Aufruhr. Jede Begegnung mit Tadzio, elegant und kraftvoll getanzt, ist von einer zerbrechlichen Spannung, Bewunderung und Sehnsucht geprägt – Momente, in denen die Zeit auf der Bühne stillzustehen scheint. Hier zeigt sich Neumeiers Genie in der Choreografie: Er versteht es meisterhaft, psychologische Tiefe durch Körperbewegungen zu vermitteln.

    Edvin Revazov (Gustav von Aschenbach) mit Jacopo Bellussi (Friedrich der Große) © Kiran West

    Untermalt wird der Totentanz durch die liebevolle und prägnante Auswahl der Musik. Der Wechsel zwischen Stücken von Johann Sebastian Bach und Richard Wagner fängt die Atmosphäre des Balletts grandios ein und untermalt die Stimmung zwischen den Tänzer*innen. Gerade die Auswahl von Bachs »Das musikalische Opfer« verkörperte den royalen Anteil der Inszenierung – hier durch den Bezug zu Friedrich dem Großen – auf eindrucksvolle Weise. Demgegenüber wirkt die Auswahl der Wagner’schen Kompositionen, gespielt vom Pianisten David Fray, geradezu „intim“ – ein perfekter Gegensatz zu den imposanteren, orchestralen Stücken Bachs und eine fabelhafte Ergänzung für eine vollkommene musikalische Begleitung des gefühlvollen Balletts.

    Diese Adaption von »Tod in Venedig« bleibt noch lange im Gedächtnis haften. Sie verzaubert durch ihre ästhetische Perfektion, die meisterhafte tänzerische Leistung, klug eingesetzte moderne Elemente und die sensible, tiefgründige Regiearbeit Neumeiers. Ein Ballettabend, der sicherlich sowohl Liebhaber*innen klassischer Literatur als auch Tanzenthusiasten jeden Alters gleichermaßen begeistert.

    Vielen Dank für diesen unvergesslichen Nachmittag an das Hamburg Ballett und die Staatsoper Hamburg!

    Mascha, 24 Jahre

  • BallettTester*innen »Slow Burn«

    BallettTester*innen »Slow Burn«

    Als BallettTester*innen durften Melanie, Franziska und Nina unsere Ballettpremiere bereits in der Hauptprobe erleben. Der zweiteilige Ballettabend SLOW BURN präsentiert zwei Stücke von den Choreograf*innen Aszure Barton und William Forsythe. In der Hauptprobe wurde die Reihenfolge der Choreografien umgedreht, sodass die Tester*innen im ersten Teil der Probe Forsythes »Blake Works V (The Barre Project)« erleben durften, nach einer Pause folgte Aszure Bartons »Slow Burn«. Hier erzählen die BallettTester*innen von ihren Erlebnissen und Eindrücken.

    »Blake Works V (The Barre Project)« und »Slow Burn«zwei ganz unterschiedliche Choreografien, die Raum für Interpretationen lassen, die Zuschauer*innen aber nicht weniger in ihren Bann ziehen als ein klassisches Handlungsballett.

    In »Blake Works V (The Barre Project)« von William Forsythe wird das Publikum mit präzisen, dynamischen Bewegungen konfrontiert. 15 Tänzer*innen führen in unterschiedlichen Konstellationen teils große Bewegungen aus, die wie eine Welle durch den Körper gehen. Auffällig ist, dass die Bewegungen bis zum Maximum ausgeführt werden und die Tänzer*innen ihre Bewegung – meistens eindrucksvolle Positionen mit Beinhebungen häufig kurz halten, bevor sie in die nächste übergehen. Daneben enthält die Choreografie aber auch viele kleine Schritte, die vor allem durch die ungewöhnliche Musik mit wenigen Takten und kurzen Pausen schwer auszuführen sind. Denn die Musik würden die meisten im ersten Moment nicht mit Ballett in Verbindung bringen: Songs von James Blake. (Daher auch der Name des Stücks »Blake Works V«). Doch die einzelnen Songs von Blake sind nicht aufdringlich oder ablenkend, im Gegenteil, sie unterstützen die tänzerischen Bewegungen und passen perfekt zur Reduktion auf das Wesentliche: Das Bühnenbild ist einfach gehalten, die Kostüme lenken nicht von den Bewegungen der Tänzer*innen ab. Lediglich eine Ballettstange steht auf der Bühne, welche nach der Projektion einer solchen eingeführt wird: Mehrere Hände legen sich auf die Stange, berühren sich und legen sich wieder ab. Auch in der anschließenden Choreografie ist die Ballettstange das verbindende Element zwischen den Konstellationen und Soli der Tänzer*innen.

    Charlotte Larzelere in William Forsythes »Blake Works V (The Barre Project)«, Foto Kiran West

    Das zweite Stück, »Slow Burn« von Aszure Barton, ist eine Auftragskomposition des Musikers Ambrose Akinmusire und wurde gerade vom Hamburg Ballett uraufgeführt. Auch hier ist das Bühnenbild einfach gehalten, hauptsächlich das Licht bildet unterschiedliche Formen und Effekte. Die Kostüme der Tänzer*innen erstrahlen in verschiedenen Orangetönen, die ein lebendiges und vor allem warmes Farbenspiel ergeben. Besonders bei den Sprüngen fliegt der Tüll der Kostüme durch die Luft, was die Leichtigkeit der Bewegungen unterstreicht. Das Zusammenspiel aus Farbe, Kostüm und Bewegung führt zu einer positiven Stimmung, die durch warmes Licht unterstützt wird. Im Gegensatz zu »Blake Works V (The Barre Project)« sind die Bewegungen in »Slow Burn« fließender und zum Teil auch langsamer. Vor allem zu Beginn führen die Tänzer*innen als Gruppe kleine wiederholende Bewegungen auf dem Boden aus.

    Die Choreografie wird von einem Orchester begleitet, in dem neben den Streichern auch die Bläser deutlich zu hören sind. Besonders die Querflöten schaffen ein leitendes Motiv, das sich wie ein roter Faden durch das Stück zieht und bei zwei Tänzer*innen immer wiederkehrt. »Slow Burn« endet schließlich, wie es angefangen hat: mit der Gemeinschaft der Tänzer*innen, die wie ein Dominoeffekt die gleichen Bewegungen ausführen und wellenförmig ineinander übergehen.

    Nina, 23 Jahre
    Ensemble in Aszure Bartons »Slow Burn«, Foto Kiran West

    Ein Ballettabend mit den Werken von William Forsythe mit »Blake Works V (The Barre Project)« und Aszure Barton mit »Slow Burn«.

    Vorab zu meiner Person: Ich favorisiere klassische Ballettstücke, da diese eine Handlung haben und kaum Spielraum für Interpretationen lassen. Ich liebe es, die klassischen Bewegungen selbst auszuüben oder sie auf der Bühne von Profitänzer*innen sehen zu dürfen. Deshalb habe ich mich auch sehr gefreut, dabei sein zu können.

    Die beiden Ballettstücke sind Gegensätze, die auf ihre eigene Art und Weise ganz individuelle Geschichten des Lebens darstellen. Erlebnisse sowie positive wie auch negative Emotionen wurden verkörpert und in zwei unterschiedlichen Choreografien präsentiert, die sich dennoch gut miteinander kombinieren ließen.

    Im ersten Teil sah man drei verschiedene neuzeitliche Musikstücke. Insgesamt waren 15 Tänzer*innen auf der Bühne, die das Stück getanzt haben. Die erste Musik, die aus den Lautsprechern kam, war gewollt verzerrt, was die Neuzeit verdeutlicht hat – womit ich mich gut identifizieren konnte. Die Tänze waren angelehnt am klassischen Ballettstil, was mir außerordentlich gut gefallen hat. Manchmal setzte die Musik aus, und die Tänzer*innen mussten ihre Choreografie dennoch so fortsetzen, dass sie immer noch im Takt waren, als die Musik wieder zu spielen begann. Das hat mich persönlich beeindruckt und fasziniert, da es manchmal ausdrucksstarke und anspruchsvolle Posen waren, in der sie verharren mussten. Auch mussten sie ihre Sprünge so koordinieren und ihre Kraft so einteilen, dass der Einstieg mit der Musik wieder passte. Die klassischen Bewegungen wurden fließend und übertrieben, aber dennoch geschmeidig dargestellt, sodass ich beeindruckt und mitgerissen wurde. Die »Barre« wurde mit eingebracht, was die tägliche harte Ballettarbeit widerspiegelt. Passend dazu waren die Tänzer*innen in schwarzen Balletttrikots gekleidet, was ebenfalls verdeutlicht, wie der Ballettalltag hinter den Kulissen ausschaut.

    Alexandre Riabko, Joaquin Angelucci, Ida Praetorius, Moisés Romero und Francesco Cortese in »Blake Works V (The Barre Projekt)«, Foto Kiran West

    Im zweiten Teil sah man 26 Tänzer*innen, die teilweise zeitgleich auf der Bühne mitgewirkt und so zu einer lebhaften Atmosphäre beigetragen haben. Der zweite Teil wurde von einem Streichorchester begleitet, was mir gefiel, da damit den Gegensatz zum vorherigen Ballett verdeutlicht wurde. Die Tänzer*innen trugen unterschiedliche orangefarbene Kleider, die in drei Farbnuancen Freude zum Ausdruck gebracht haben. Der Titel »Slow Burn« war optimal auf die Bewegungen der Tänzer*innen und die Kleiderwahl abgestimmt. Optisch waren die Hebefiguren schön zu beobachten. Es sah sehr anspruchsvoll aus, wie sie ihre Körperspannung so einteilen mussten, dass es synchron und im Takt passte. Manchmal sah man, dass sie nicht immer synchron waren, was ich daran erkannt habe, dass die Tänzer*innen in zwei Gruppen zeitgleich auf der Bühne waren und dasselbe dargestellt haben. Dennoch war die Darbietung sehr anspruchsvoll und faszinierend. Der zweite Teil hat mich allerdings persönlich nicht so angesprochen, da der Stil zu modern war und für mich zu viele akrobatische Elemente sowie Inhalte wie das Kriechen auf dem Boden enthalten waren.  

    Insgesamt hat mir der Abend sehr gefallen, da der Kontrast zwischen den zwei unterschiedlichen Balletten verdeutlicht wurde. Die Formationen wurden klar dargestellt, sodass eine schöne Dynamik in den jeweiligen Choreografien entstand. Es herrschte eine lebhafte Stimmung, die mich hineinzog.  

    Melanie
    Lormaigne Bockmühl und Ensemble in »Slow Burn«, Foto Kiran West

    Der Ballettabend »Slow Burn« zeigt zwei Stücke: William Forsythes »Blake Works V (The Barre Project)« und das Stück »Slow Burn« der Choreografin Aszure Barton. Beides sind Werke, die ganz auf ihre eigene Art das klassische Ballett interpretieren.

    William Forsythes Stück, entstanden während der Corona Pandemie, ist ein Wechselspiel aus Ruhe und explosiver Energie. Die Zuschauer*innen sehen sich in der Bewegung vorsichtig annähernde Tänzer*innen, untermalt von fragmentarischer Musik und, im Gegensatz dazu, wummernden Bässen, begleitet von extrovertierten Bewegungen. Die Choreografie bewegt sich um die »Barre«, die Ballettstange, die für das Balletttraining verwendet wird. Das Bühnenbild ist sehr minimalistisch in Schwarz-Weiß gehalten und so zeichnen sich die Bewegungen der Tänzer*innen präzise davor ab. Die von Forsythe teilweise kantig interpretierten Ballettpositionen der Arme kommen ebenfalls durch das geradlinige Kostümbild gut zur Geltung. Den Wechsel von Ruhe und freudiger Aufgeregtheit bestimmt am Ende die Freude am Tanz, die sich auf die Zuschauenden überträgt. Zu den wummernden Bässen fängt der ein oder andere Fuß an zu wippen, und man möchte gerne selbst auf die Bühne und mittanzen.

    Aleix Martínez in »Blake Works V (The Barre Project)«, Foto Kiran West

    Aszure Bartons Choreografie stellt zwei Tänzerinnen in den Mittelpunkt, deren Bewegungen von der Weisheit, Stärke und Geduld älterer Frauen inspiriert sind. Die Choreografie zeigt verschiedene zwischenmenschliche Dynamiken. Mal interagieren kleinere Gruppen von 2-5 Tänzer*innen auf der Bühne, und mal nehmen 26 Tänzer*innen den gesamten Bühnenraum ein. Barton experimentiert mit der Gruppe und dem Individuum, das sich manchmal aus der Menge herausschält und losgelöst davon einen eigenen Bewegungsablauf verfolgt.

    Silvia Azzoni, Madoka Sugai und Ensemble in »Slow Burn«, Foto Kiran West

    Die Kostüme erinnern an buddhistische Mönche. Die Tänzer*innen sind in weite, wallende, orangefarbene Kostüme gekleidet, die Barton mit der Kostümdesignerin Michelle Jank aus dem Fundus zu neuen Kreationen umgestaltet hat. Im Buddhismus steht die Farbe Orange unter anderem für die höchste Erleuchtung und Weisheit. Damit kann vielleicht eine Parallele zum Kern der Choreografie gezogen werden.

    Beide Choreografien sind abstrakte Stücke, die Raum für Interpretationen aus individueller Sichtweise bieten. Sie ergänzen sich zu einem schönen Ballettabend, der auf großartige Weise das Spektrum menschlicher Emotionen und Interaktion widerspiegelt.

    Franziska, 29 Jahre
  • BallettTester*innen »The Times Are Racing«

    BallettTester*innen »The Times Are Racing«

    Als BallettTester*innen durften Lale, Franziska und Sehri unsere Ballettpremiere bereits in der Hauptprobe erleben. Hier erzählen sie von ihren Erlebnissen und Eindrücken.

    Der Ballettabend beginnt mit »Adagio« von Pina Bausch. Ohne Bühnenbild, ohne Requisiten und ohne eindeutige Handlung. Dafür mit wehenden Haaren und – einem Stuhl. Im Fokus scheinen stattdessen die Beziehungen zu stehen, die sich auf der Bühne vor unseren Augen entfalten. Und obwohl es keine klare Handlung gibt, vermittelt das Stück eine unglaubliche Emotionalität. Dadurch, dass keine Geschichte vorgegeben wird, konnte ich mich selbst in dem, was auf der Bühne passiert, wiederfinden. Beziehungen sind ja schließlich etwas, das wir alle erleben. Wir alle erleben Nähe, Distanz, Versuchung, Trauer – all das konnte ich auf der Bühne wiederfinden. Für mich war das das Schöne an dem Stück: Irgendwie versteht man es. Man versteht es eben im Kontext seines eigenen Lebens, seiner eigenen Erfahrungen. Man versteht es vermutlich anders als seine Sitznachbar*innen, aber man versteht es.

    Ebenfalls reduziert, aber doch ganz anders wirkt das zweite Stück von Hans van Manen. In »Variations for Two Couples« scheinen zwei Paare tänzerisch miteinander zu wetteifern – kraftvoll, ausdrucksstark und poetisch zugleich. Die Tänzer*innen tragen schlichte Balletttrikots als Kostüme, auch hier gibt es kein Bühnenbild. Stattdessen stehen die Bewegungssprache und die Körper im Vordergrund, durch die die Tänzer*innen so viel zu vermitteln vermögen. Hier war ich vor allem beeindruckt von dem puren tänzerischen Können, das so völlig ohne Ablenkung durch Kostüme oder Bühnenbild präsentiert wurde.

    Jack Bruce und Alessandro Frola in Demis Volpis »The thing with feathers«, Foto (c) Kiran West

    »The thing with feathers« ist das dritte Stück, dessen Name eine Anspielung auf das Gedicht von Emily Dickinson ist, in dem sie die Hoffnung mit einem Vogel vergleicht. Genau wie das Gedicht hat mich auch das Stück von Demis Volpi sehr gerührt. Das Stück sah für mich aus, wie sich das Gedicht anfühlt: voller Schwere, Wissen und Hoffnung. In dem Stück kommt es immer wieder vor, dass die Tänzer*innen sich in die Arme fallen. Dabei kam mir der Gedanke an eine spezifische Komponente von Hoffnung: andere Menschen. „Die Hölle, das sind die Anderen“, wusste Sartre – die Hoffnung aber eben auch. Für mich war dieses Stück ein Zeugnis davon, dass wir füreinander die größte Quelle von Hoffnung sind. Davon, dass wir uns trotz aller Schwierigkeiten gegenseitig haben und halten können, uns auffangen und stützen, so wie die Tänzer*innen auf der Bühne.

    Meine Melancholie wurde dann durch das letzte Stück von Justin Peck gebrochen. Das Stück »The Times Are Racing« ist so mitreißend wie unkonventionell. In Sneakers und Straßenkleidung, mit Elementen von Stepptanz und Breakdance, nehmen uns die Tänzer*innen mit auf eine Reise durch … was eigentlich? So ganz weiß ich es auch nicht, aber es fühlt sich wie eine Reise an. Auch hier ist wieder jede Menge Raum, seine eigenen Themen in dem zu finden, was auf der Bühne passiert. Ich konnte beim Zuschauen nicht mehr aufhören zu lächeln und wollte einfach nicht, dass es vorbei geht (was ich am Ende von so manchem dreistündigen Handlungsballett nicht behaupten kann). Ich habe den Zuschauerraum gerührt, euphorisiert und beeindruckt verlassen.

    Dadurch, dass vier sehr unterschiedliche Stücke gezeigt wurden, war der Abend für mich ungewöhnlich kurzweilig. Es mag ein Problem meiner Generation sein, die sich durch Instagram und Co. ihre Aufmerksamkeitsspanne zerschossen hat, dass so ein Ballettabend oder ein Theaterstück zwischendurch seine Längen hat. Das war an diesem Abend zu keinem Zeitpunkt der Fall. Im Gegenteil, es hätte von mir aus noch ewig so weitergehen können!

    Insgesamt werden also vier Stücke gezeigt, die in sehr unterschiedliche Richtungen gehen. Für mich ist dieser neue Ballettabend eine Demonstration dessen, was Tanz alles sein kann: Theater, sportliche Höchstleistung, poetisch und mitreißend zugleich.

    Lale, 23 Jahre
    Ensemble des Hamburg Ballett in Justin Pecks »The Times Are Racing«, Foto (c) Kiran West

    Als Ballett-Neuling freute ich mich riesig über die Möglichkeit, bei der Hauptprobe von „The Times Are Racing“ dabei zu sein.

    Anfangs beeindruckte mich die Anzahl aller Beteiligten. Von Tänzer*innen über Techniker*innen bis hin zum Orchester – es war faszinierend zu sehen, wie viele Menschen zusammenarbeiten, um solch einen Ballettabend zu ermöglichen. Umgeben von allen Mitwirkenden konnte ich dann ganz in die Proben eintauchen.

    Mit vier unterschiedlichen Werken von Pina Bausch, Hans van Manen, Demis Volpi und Justin Peck war der Abend wahnsinnig beeindruckend. Ob Spitzenschuhe, Sneakers oder barfuß – die Werke verdeutlichten eindrucksvoll die Vielfalt und Ausdruckskraft der einzelnen Stücke und weckten unterschiedliche Gefühle.

    Den krönenden Abschluss bildete Pecks modernes Werk »The Times Are Racing«. Die Energie und die Lebendigkeit hinterließen bei mir ein Gefühl voller Freude und Begeisterung. Mit genau diesem Gefühl erinnere ich mich an den großartigen Probenabend.

    Der Ballettabend „The Times Are Racing“ ist definitiv ein Must-See … auch für Neulinge!

    Franziska, 27 Jahre
    Charlotte Kragh, Lennard Giesenberg, Lormaigne Bockmühl, Olivia Betteridge und Ensemble in Pina Bauschs »Adagio«, Foto (c) Kiran West

    Vom Ballett in Sneakers bis hin zu einem wunderschönen Pas de Deux zwischen zwei Paaren, all das bietet uns der Ballettabend »The Times Are Racing«, den uns der neue Intendant des Hamburg Ballett in seiner ersten Spielzeit präsentiert. Doch bei diesem Ballettabend werden nicht nur Volpis eigene Stücke präsentiert, sondern auch drei andere sorgfältig ausgewählte Stücke von verschiedensten Choreograf*innen. Jedes Stück hatte einen eigenen Fokus und ein eigenes Thema, das wunderschön getanzt wurde. Genau das macht es auch so unmöglich zu sagen, welches Stück mir am besten gefallen hat; eins kann ich aber sagen: Jedes war unglaublich schön zu sehen.

    Fangen wir bei Pina Bauschs »Adagio« an: Für mich hat sich »Adagio« sehr mit dem Übernatürlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen beschäftigt, da es teilweise so aussah, als würde der in der Mitte liegende Tänzer tot sein und nur zum Tanzen „aufwachen“. Vielleicht ist es aber auch gerade das, was das Stück so eindrucksvoll macht. Die Bühne war, abgesehen von einem Stuhl, vollkommen leer, aber trotzdem füllte der Tanz die ganze Bühne, sodass ein Bühnenbild fast schon überflüssig war.

    Als Nächstes möchte ich gerne über »Variations for Two Couples« von Hans van Manen schreiben. Dieses Pas de Deux wurde von zwei Paaren getanzt und war wie eine Art Wettbewerb zwischen den beiden. Jedes Paar übertrumpfte das andere immer wieder mit noch beeindruckenderen Schritten, zwischen beiden Paaren lag eine Art Spannung in der Luft, ich war vom Pas de Deux völlig mitgerissen.

    Madoka Sugai, Alexandr Trusch, Ida Praetorius und Matias Oberlin in »Variations for Two Couples« von Hans van Manen, Foto (c) Kiran West

    Das vorletzte Stück war »The thing with feathers« von Demis Volpi. Auf dieses Stück war ich schon die ganze Zeit gespannt, weil es von Emily Dickinsons Gedicht »Hope is the thing with feathers« inspiriert ist, und ich das Gedicht sehr gerne mag. Um es kurz zu fassen: Dieses Stück hat mich keinesfalls enttäuscht! Es war wunderschön und befasste sich meiner Meinung nach mit der Hoffnung. Man sieht die Tänzer*innen als eine Gemeinschaft, die sich gegenseitig in Liebe, Trauer und Freude unterstützen und es gemeinsam schaffen, aus der Trauer Hoffnung zu gewinnen.

    Auch »The Times Are Racing« von Justin Peck befasst sich mit dem Thema Zusammenhalt, aber eher in dem Sinne, gemeinsam etwas zum Guten zu verändern. Die Kostüme waren für mich das Beste aus all den Stücken, weil sie die Botschaft der Choreografie stark unterstützt haben. Dieses Stück war alles andere als klassisch, aber so schön anzusehen und ein gelungener Abschluss für einen wunderbaren Ballettabend.

    Sehri, 14 Jahre
  • Die Ahnengalerie in »Dornröschen«

    Die Ahnengalerie in »Dornröschen«

    John Neumeiers Ballette sind voller Details. Während man als Zuschauer*in vorrangig auf Bühnenbild, Kostüme, die Musik und die Choreografie achtet, werden einzelne Requisiten und Kulissenteile erst auf dem zweiten Blick wahrgenommen. Kennt Ihr in »Dornröschen« die sechsköpfige Ahnengalerie? 

    »Dornröschen«, Erster Teil. Während Prinz Désiré immer tiefer in sein rätselhaftes Erlebnis eintaucht, beobachtet er Szenen aus Auroras Kindheit und Jugend. Im Hintergrund ist eine sechsköpfige Ahnengalerie sichtbar. Aber wer sind die abgebildeten Portraitierten? Natürlich sind hier keine zufälligen Personen zu sehen, sondern sechs Abbildungen von historischen Persönlichkeiten des Tanzes, die eng verknüpft sind mit dem Ballett »Dornröschen« und dessen Schöpfer Marius Petipa. 

    Wir blicken zuerst von links oben nach unten: Das Gesicht der ersten Dame ist Olga Preobrajenska (1871-1962) zuzuordnen. Sie war Primaballerina am Mariinski Theater in St. Petersburg und wichtige Lehrerin zahlloser Tänzerinnen von Weltruf, darunter Margot Fonteyn. Ausgebildet wurde sie an der kaiserlichen Ballettschule in St. Petersburg, zu ihren Lehrer*innen gehörte u.a. Marius Petipa, der Choreograf von »Dornröschen«. Ihr wurde übrigens auch schon in einem anderen John-Neumeier Ballett eine Hommage gesetzt: Eine der Solo-Ballerinen im Ballets Russes Teil in »Nijinsky« ist inspiriert von Preobrajenska, im Besetzungszettel zur Uraufführung des Balletts im Jahr 2000 wurde sie zudem namentlich aufgeführt. Aber auch wenn wir ihren Namen auf den Programmzetteln nicht mehr finden, ihr Geist bleibt weiterhin auf der Bühne präsent. Und das hat auch einen guten Grund: Preobrajenska hatte eine enge Verbindung zu den Ballets Russes: Ihre Schülerinnen Tamara Toumanova, Tatiana Riabouchinska und Irina Baronova wurden im Alter von nur 13 Jahren zu Stars der Ballets Russes-Compagnie; als sogenannte »Baby-Ballerinas« begann ihre aufsteigende Karriere.

    Vor der Ahnengalerie wird getanzt – hier verkleidet sich die 11-jährige Aurora als Königinmutter © Kiran West

    Weiter geht es mit dem mittleren Portrait auf der linken Seite der Ahnengalerie: Nicht viel schreiben muss man über Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893), der unvergessliche Ballettmusik komponiert hat, unter anderem zu »Dornröschen«, »Der Nussknacker« und »Schwanensee«, drei Ballettklassiker in der Choreografie von Marius Petipa.

    Die dritte Portraitierte links unten ist Carlotta Brianza (1867-1930). Sie war eine italienische Primaballerina aus Mailand mit internationaler Karriere, gefeiert wurde sie für ihre virtuose italienische Technik. Berühmtheit erlangte sie, weil sie 1890 von Marius Petipa ausgewählt wurde, um in der Uraufführung von »Dornröschen« die Hauptrolle der Prinzessin Aurora zu tanzen.

    Foto: Stiftung John Neumeier (c) Theater Museum, St. Petersburg

    Während ihres Engagements am kaiserlichen Mariinski-Theater in St. Petersburg tanzte sie weitere führende Rollen in Balletten von Petipa. 1891 verließ sie Russland und setzte ihre Karriere in Italien, Wien, Paris und London fort. Wie auch Olga Preobrajenska unterrichtete sie nach ihrem Rückzug von der Bühne als Ballettpädagogin.  

    Drei Portraits sind noch unbekannt? Wir blicken nach rechts oben zu einem Mann, der lange an der Seite von Marius Petipa gearbeitet hat: Lew Iwanow (1834-1901). Er war ein außerordentlicher Tänzer, später Ballettmeister, Choreograf und Assistent von Petipa in Sankt Petersburg am Mariinski Theater. Als langjähriger Assistent übernahm er 1892 von dem erkrankten Petipa die Arbeit an »Der Nussknacker«, der berühmte Schneeflockenwalzer gilt als typisch für seinen lyrischen Stil. Für eine Neufassung von »Schwanensee«, die er gemeinsam mit Petipa erarbeitete, schuf er eine neue Choreografie für den zweiten Akt. Der sogenannte »Weiße Akt«, den John Neumeier in seiner Version »Illusionen – wie Schwanensee« rekonstruiert, beruft sich auf Iwanows Choreografie.

    v.l.o.n.r.u.: Olga Preobrajenska, Peter I. Tschaikowsky, Carlotta Brianza, Lew Iwanow, Pierina Legnani, Marius Petipa © M. Reidemeister

    In der Mitte der rechten Spalte ist Pierina Legnani (1868-1930) zu sehen, Primaballerina assoluta der Mailänder Scala, später im Mariinski-Theater in St. Petersburg, dessen Ballettdirektor Marius Petipa war. Sie ging in die Ballettgeschichte als beste Tänzerin ihrer Zeit ein, Petipa selbst ließ sich mehrmals von ihr inspirieren und kreierte für sie wichtige Rollen oder änderte Choreografien so um, dass sie ihre technischen Fähigkeiten zeigen konnte. So wurden zum Beispiel im Coda-Teil des Grand Pas de deux im dritten Akt von »Schwanensee« 32 fouettés en tournant eingefügt, zu diesem Zeitpunkt beherrschte nur sie diese Drehungen.

    Der Name des letzten Portraitierten auf der Ahnengalerie fiel des Öfteren: Marius Petipa (1818-1910). Ein bedeutender Choreograf, aus Marseille kommend, der 1847 als Tänzer nach St. Petersburg ging und blieb. Er wurde zum Ersten Ballettmeister ernannt, was bedeutete, dass er für jede Spielzeit des Mariinski Theaters einige neue Ballette kreieren sollte. Über 50 Jahre lang war Petipa in Russland tätig. Mit über 70 Jahren schuf er, gemeinsam mit dem Komponisten Peter Tschaikowksy, seine vielleicht besten Ballette, darunter »Dornröschen«.

    Seine Bedeutung für die Balletthistorie kann an dieser Stelle nur angerissen werden: Petipa kreierte das klassische Repertoire für die Zukunft, alles was wir aus dem 19. Jahrhundert kennen – mit Ausnahme der Inszenierungen von August Bournonville, der in Dänemark tätig war – kennen wir durch seine Augen, er hat das klassische Ballett kodifiziert. Die Tänzer*innen trainieren jeden Vormittag noch dieselben Exercises wie die Tänzer*innen im 19. Jahrhundert, sie bedienen sich quasi derselben Codes. Natürlich hat sich einiges geändert, aber im Kern ist das immer noch die Sprache des klassischen Balletts. Petipas Choreografien sind in der Ausbildung klassischer Tänzer*innen auf der ganzen Welt nach wie vor gängig. Und auch Choreograf*innen setzen sich immer wieder mit seinen Stücken auseinander. So auch John Neumeier, der mit seinem »Dornröschen«-Ballett das Erbe Marius Petipas aufs Sorgsamste integriert und gleichzeitig ein eigenes Werk geschaffen hat, das sich bis heute größter Beliebtheit erfreut.

    Am 6., 7., 8. und 10. Oktober kann John Neumeiers »Dornröschen« im Festspielhaus Baden-Baden erlebt werden – die Ahnengalerie selbstverständlich auch.

    Nathalia Schmidt