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Eindrücke von der Theaternacht

Wenn Menschen in der Caspar-Voght-Straße in Hamburg-Hamm Schlange stehen, kann das nur eins bedeuten: Es ist Theaternacht und das Ballettzentrum öffnet seine Türen. Über 1000 neugierige Besucher schwärmen am 8. September durch den Fritz Schumacher-Bau, um sich Proben des Hamburg Ballett und Trainings der Ballettschule anzusehen. Die 18-jährige Abiturientin Franziska Vollstedt ist eine von ihnen und berichtet von ihren Eindrücken auf unserem Blog.

»Dieser Abend wird etwas ganz Besonderes, denn heute zeigen wir Ihnen Dinge, die wir noch nicht können.«

Ein Versprechen, das John Neumeier nach der Eröffnung der Theaternacht im Ballettzentrum Hamburg nur zum Teil halten kann. Denn eines erkennen alle Zuschauer. Sowohl das kleine, aufgeregte Mädchen im Ballettkostüm neben mir, das von einer eigenen Karriere als Ballerina träumt, als auch der Junge in der ersten Reihe, der zugeben muss, dass Jungs überraschenderweise doch tanzen können, oder die ältere Dame, die feststellt, dass sie sich in dieser Theaternacht wohl nicht mehr losreißen kann und keinen anderen Vorführungsort aufsuchen wird: Wenn das Publikum heute Nacht etwas nicht geboten bekommt, dann sind es Tänzer, die etwas nicht können.

Einblicke in »Bernstein Dances« kurz vor der Wiederaufnahme © Kiran West

Doch dass wir Teil haben dürfen an etwas ganz Besonderem, das wird von der ersten Sekunde an klar, in der die Tänzer nach und nach in ihren weiten Hosen und Moonboots-artigen Schuhen in den großen Ballettsaal geschlurft kommen. Wobei – schlurfen –, das würde vermutlich jeder andere von uns. Aber bei ihnen wird schon bei der kleinsten Bewegung deutlich: Das sind wahre Tänzer! Selbst dann, wenn nicht getanzt wird, haben sie eine Ausstrahlung, die den meisten der zunächst schüchtern und unglaublich jung wirkenden Tänzerinnen und Tänzern vielleicht gar nicht bewusst zu sein scheint. Wenn sie tanzen, dann ziehen sie in ihren Bann.

Als Besucher der Theaternacht bekommen wir die einmalige Gelegenheit, ganz nah dabei zu sein und aus nur wenigen Metern Entfernung zu bestaunen, wie jede kleine Bewegung, jedes Abrollen des Fußes und jede Regung im Gesicht Bedeutung bekommt. Wir dürfen Zeugen werden bei etwas, was die wenigsten im Leben schaffen: Jeder Sekunde die Wichtigkeit zuzumessen, die sie verdient. 

Es ist beeindruckend, mit welcher Ausdauer die Tänzerin Emilie Mazon bei dem »Mistake Waltz« aus »Chopin Dances« nach John Neumeiers Anweisungen unzählige Male die bereits perfekt wirkende Endpose wiederholt und minimal verändert – soeben konnten wir Zeugen werden, wie aus einer schon sehr guten Bewegung absolute Perfektion geworden ist. 

Glückliche Gesichter im Publikum © Kiran West

Es herrscht eine hochkonzentrierte Arbeitsatmosphäre, in der jeder einzelne so vertieft dabei ist, als gäbe es in diesem Moment nichts Wichtigeres, keine Sorgen, keinen Druck und vor allem: keine Konkurrenz. Im Gegenteil, der enge Zusammenhalt der Tänzer untereinander, egal ob bei der gegenseitigen Hilfe beim Erlernen der Choreografie, einer freundschaftlichen Umarmung oder dem gemeinsamen Lachen, wenn etwas mal nicht perfekt funktioniert, ist bemerkenswert. Nie wirkt jemand genervt oder scheint dem anderen die Schuld an einer missglückten Bewegung zu geben.

Besonders deutlich wird dies, als die Tänzerinnen in einer Probe von »Chopin Dances« von ihren Partnern scheinbar unkontrolliert wie gliederlose Puppen über die Bühne getragen werden, und man sich fragt, wie es hierbei noch nicht zu einem Zusammenstoß oder dem einen oder anderen ausgerenkten Bein hat kommen können.

Sie können es sich leisten, das Lachen mit- und übereinander, denn wenn es wirklich darauf ankommt, dann liefern sie ab: Ob bei dem Ballett »Bernstein Dances«, in dem die Männer unglaublich hohe Sprünge mit diversen Drehungen ausführen, der mehr als komplizierten flugzeugartigen Bewegung (»You have to imagine to be an airplane, with wings out of steel!«), oder dem dargebotenen Auszug aus dem Ballett »Anna Karenina«, bei dem wir Zuschauer für eine Stunde eine ganz andere Welt betreten.

Anna Laudere und Edvin Revazov proben »Anna Karenina« © Kiran West

Hier entführen die beiden Ersten Solisten Anna Laudere und Edvin Revazov uns mit einer solchen Intensität in die Welt der Protagonistin und ihres Geliebten, dass man kurz vergisst, dass dies keinesfalls die Realität darstellt. In einem Moment so kurz wie ein Wimpernschlag schaffen es die beiden Tänzer, einen soeben noch romantisch spielerischen Augenblick in einen zutiefst bedrückenden, zum Zerreißen gespannten Moment zu verwandeln.

Nur widerwillig will man wieder auftauchen aus diesem magischen Paralleluniversum. Aber wir müssen, denn wie John Neumeier immer wieder betont: »Dies ist keine Aufführung im Theater, sondern eine Arbeitsprobe«. Doch manchmal müssen selbst die anspruchsvollen Lehrer den Tatsachen ins Auge blicken und, wie die Ballettmeisterin Leslie McBeth während der »Anna Karenina«-Probe, einsehen: »I know it´s my job, but I can´t find a problem here«.

Und zu dieser Erkenntnis fällt selbst John Neumeier nichts mehr ein, außer den Abend mit den Worten zu schließen: »Ich glaube, dass das ein ganz tolles Ende für diese besondere Nacht war«. Und hier kann ihm jeder Einzelne im Publikum nur aus vollem Herzen zustimmen!

Erschöpft, aber glücklich am Ende einer langen Nacht: unsere Bloggerin Franziska

Franziska Vollstedt