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  • »Wir sind da, um den Tanz zu unterstützen – und im Zusammenspiel die Kunstformen zu verbinden.«

    »Wir sind da, um den Tanz zu unterstützen – und im Zusammenspiel die Kunstformen zu verbinden.«

    In diesem Jahr ist das Bundejugendballett zum ersten Mal Teil der jährlichen Herbstresidenz des Hamburg Ballett in Baden-Baden. Auf der Akademiebühne feiert die junge Compagnie die Premiere des neuen Stücks »John’s-BJB-Bach«, das Ausschnitte aus John Neumeiers Balletten »Matthäus-Passion«, »Magnificat«, »Bach Suite 2« und »Bach Suite 3« enthält. Wir haben mit Marshall McDaniel, dem Musikalischen Leiter des Bundesjugendballett, über seine Arbeit und die musikalische Seite des Bundesjugendballett gesprochen.

    Die Musik von Johann Sebastian Bach sind zumeist große orchestrale Werke für große Besetzungen und Chöre. Deshalb hast du für die Premiere von »John’s-BJB-Bach« in Baden-Baden die Musikstücke für die Bedürfnisse des Bundesjugendballett »arrangiert«. Vielleicht erklärst du einmal, was genau das bedeutet und wie du dabei vorgehst?

    Marshall McDaniel: Arrangieren bedeutet die Musik umzuschreiben für die Instrumente, die wir für die Inszenierung des jeweiligen Stücks brauchen. Beim Bundesjugendballett bedeutet das meistens ein Streichquartett plus Klavier plus Flöte und Klarinette. Für die Inszenierung von »John’s-BJB-Bach« musste ich deshalb die Stimme der Klarinette hinzuerfinden. Denn zu Lebzeiten von Johann Sebastian Bach gab es ja noch keine Klarinetten. Da musste ich dieses Instrument irgendwie reinschieben. Ansonsten muss man aber auch sagen, dass manche Stücke funktionieren, ohne etwas zu arrangieren. Im Grunde genommen ist Bachs Musik sehr universell. Es ist möglich, seine Musik ganz unterschiedlich zu spielen: ob mit Synthesizer oder nur mit zwei Musikern – es klingt immer noch nach Bach. Von daher ist es nicht so schlimm, wenn man seine Musik reduziert oder expandiert.

    Marshall McDaniel studierte Cello und Englische Literatur an der California State University © Silvano Ballone

    Worauf muss man insbesondere achten, wenn man Musik für Tanz arrangiert?

    Ja, das ist eine gute Frage. Also meistens geht es vor allem darum, die Musiker für den Tanz zu sensibilisieren. Die Meisten wollen immer direkt loslegen und losspielen und verstehen anfangs nicht die Symbiose aus Musik und Tanz und was das wirklich bedeutet. Denn wenn wir proben und der Tanz dazukommt, dann ist das wie eine neue Stimme in der Partitur beziehungsweise meistens sogar mehrere zusätzliche Stimmen. Am Anfang fällt es den Musikern oft schwer, diese andere Stimme zu lesen. Die steht ja auch nirgends aufgeschrieben und ist einfach dazugekommen. Von daher muss man wirklich aufpassen, dass man nicht zu schnell oder zu langsam spielt. Die Bewegungen der Tänzer hängen ja davon ab, was und wie wir spielen. Wenn wir nicht »tanzgerecht« spielen, gehen die Bewegungen manchmal nicht mehr oder sind nicht so wie gedacht. Wir sind letztendlich da, um den Tanz zu unterstützen – und im Zusammenspiel die Kunstformen zu verbinden.

    Musik und Tanz sind beim Bundesjugendballett gleichberechtigte Künste. Oft sind die Musiker*innen Teil der Inszenierung © Kiran West

    Ist das denn eine Herausforderung für die Musiker*innen, sich in meist kurz bemessener Probenzeit auf den Tanz einzulassen?

    Also die Arbeit beim und mit dem Bundesjugendballett ist sowieso ganz anders, als es viele gewohnt sind (lacht). Nicht nur, dass die Musiker bei uns oft selber ein aktiver Teil auf der Bühne sind und zum Beispiel über die Bühne laufen, während sie spielen, auch die Proben sind ganz anders. Denn selbst wenn ich es schaffe vor den Proben fertige Partituren zu schreiben, wird dann meistens eh alles komplett anders oder geändert, wenn wir erstmal in den Proben sind. Kevin Haigen hat eine tolle Empfindung für Musik und gibt häufig Impulse, was passt und was nicht passt. Deshalb muss ich auch oft Dinge mündlich erklären oder selber kurz vorspielen. Andere Musiker würden sich wahrscheinlich erschrecken, wenn sie mit uns proben würden. Aber wir suchen gezielt Musiker, die Lust auf diese freie Arbeitsweise haben und da gerne mitmachen: Gerne improvisieren und sich ausprobieren. Und zum Glück finden wir auch immer tolle Musiker, die das schnell verstehen!

    Würdest du das als eine besondere Stärke des Bundesjugendballett bezeichnen, dass es auch in Bezug auf die Musik so kreativ arbeitet und so viel mit den verschiedenen Kunstformen experimentiert?

    Auf jeden Fall! Das ist wirklich etwas ganz Besonderes. Mir hat das beim Musikstudium auch sehr gefehlt: Diese Art der Improvisation, des Miteinanders und etwas zu spielen, was nicht in den Noten steht. Meiner Meinung nach sollte man sowieso immer so spielen, als würde man die Musik gerade im Moment neu erfinden. Auch wenn man die Noten vor sich hat. Das stärkt das kreative, improvisierte Spiel. Und das ist eben ein großer Vorteil beim Bundesjugendballett.

    Improvisation und Flexibilität werden beim Bundejugendballett großgeschrieben. Die Noten werden häufig auch handschriftlich ergänzt. © Silvano Ballone

    Würdest du sagen, dass du bzw. auch das Bundesjugendballett besonderen Wert darauf legt mit Nachwuchs-Musiker*innen zusammenzuarbeiten? Liegt das an dieser Spiel- und Experimentierfreude?

    Ich glaube, dass das in dieser Art nur mit jungen Leuten geht (lacht). Nein, wahrscheinlich geht es auch mit anderen Musikern. Aber viele erfahrenere Musiker, die schon länger in dem Beruf arbeiten, haben ihre eigene Routine und sind darin vielleicht ein bisschen festgefahren. Die wollen dann gerne alles vorbereitet haben und sind schnell genervt, wenn in den Proben nicht alles vorgeplant ist. Aber bei Tanz und Theater, zumindest so wie wir es machen, geht das leider nicht immer. Ich persönlich finde das auch besser so. Dass man bei jeder Show etwas Neues kreiert und weiterentwickelt. Selbst noch nach unseren Auftritten verändern wir, also Kevin Haigen oder ich, einzelne Stellen. Mal ein anderer Akkord, mal wird eine Stelle etwas länger oder kürzer. Ich glaube, dass das wirklich nur mit jungen, kreativen und flexiblen Leuten geht.

    Als Musikalischer Leiter des Bundesjugendballett arrangierst du nicht nur die Stücke und bist für die Einstudierung der Musik und die Leitung der Musiker*innen zuständig, du spielst außerdem selber auf der Bühne Cello. Ist das eine zusätzliche Doppelbelastung oder gefällt es dir, selbst Teil der Inszenierung zu sein?

    Also allen voran liebe ich es, Musik zu machen. Deshalb macht es mir auch wahnsinnig Spaß selber mitzuspielen. Aber natürlich hat die Medaille auch immer zwei Seiten. Denn wenn ich selber mitspiele, fehlt mir manchmal auch der Blick von außen beziehungsweise die Ohren. Ich muss mich ja dann selber auf meine Finger und meine Stimme konzentrieren und kann schwieriger beurteilen, ob alles klappt oder zusammenpasst. Aber trotzdem gefällt es mir besser mitzumusizieren.

    Friederike Adolph

  • Xue Lin ist La Barbarina

    Xue Lin ist La Barbarina

    In der Sonntags-Vorstellung von »Tod in Venedig« im Festspielhaus Baden-Baden verkörperte die Solistin Xue Lin erstmals die Rolle »La Barbarina«. In einem Interview erklärt Xue, wie sie sich auf ihr Debüt vorbereitet hat und auf welche historische Person »La Barbarina« verweist.

    Am 3. Oktober hast du hier in Baden-Baden zum ersten Mal die Rolle der La Barbarina in »Tod in Venedig« getanzt. Was kannst du aus den Proben mit John Neumeier berichten? Gab es für dich die Gelegenheit mit Hélène Bouchet, für die die Rolle der »La Barbarina« ursprünglich kreiert worden ist, zu arbeiten?

    Xue Lin: Ja, als wir im letzten Jahr mit den Proben zur Wiederaufnahme von »Tod in Venedig« begannen, arbeiteten wir viel mit John Neumeier zusammen. Dadurch konnte ich mehr darüber erfahren, wie er sich diese Rolle in seinem Ballett vorgestellt hat und wie ich sie darstellen kann. Danach arbeitete ich auch viel mit den Ballettmeistern Lloyd Riggins und Leslie McBeth zusammen. Um mich noch besser mit einem anderen Tanzstil vertraut zu machen, der zur Rolle der »La Barbarina« gehört.

    Hélène hat mir sehr bei allen Schritten geholfen und mir gesagt, wie ich mich immer weiter verbessern kann. Ich bin wirklich dankbar, dass sie mir bei der Einstudierung der Rolle geholfen hat und ich so viel von ihr lernen konnte!

    Xue Lin mit Edvin Revazov und Ensemble in »Tod in Venedig« © Kiran West

    In Thomas Manns Novelle kommt die Figur »La Barbarina« nicht vor, John Neumeier hat sich vielmehr von einer historischen Person inspirieren lassen. Kannst du uns etwas zum historischen Ursprung der »Barbarina« sagen? Wer war sie?

    Sie war eine berühmte italienische Ballerina, eine der bedeutendsten Balletttänzerinnen des 18. Jahrhunderts. Sie wurde nicht nur als Tänzerin, sondern auch als Schauspielerin bekannt. Wegen ihrer tadellosen Ausführung der Entrechats nannte man sie »La Barbarina« oder »Die fliegende Göttin«.

    Xue, du bist seit 2011 Tänzerin beim Hamburg Ballett, seit 2016 Solistin, und hast schon viele Gastspiele des Hamburg Ballett nach Baden-Baden mitgemacht. Was gefällt dir besonders an Baden-Baden? 

    Das Erstaunlichste für mich in Baden-Baden ist die Natur, es gibt überall schöne Parkanlagen, Gärten und Blumen. Die Natur macht mich glücklich. Ich habe einmal den Nationalpark Schwarzwald besucht – dort kann man die wilde Schönheit des Waldes und die Magie der unberührten Natur erleben. Einfach schön!

    Vielen Dank für das Interview, liebe Xue, und Toi, toi, toi!

    Nathalia Schmidt

  • Alessandra Ferri in »L´Heure Exquise«

    Alessandra Ferri in »L´Heure Exquise«

    In unserer Reihe »Das Hamburg Ballett in Zahlen« veröffentlichen wir regelmäßig interessante Zahlen und Fakten rund um das Hamburg Ballett. Was verbirgt sich wohl hinter der heutigen Zahl?

    Während unseres Gastspiels in Baden-Baden gibt es ein Wiedersehen mit zwei in Hamburg bestens bekannten Tänzerinnen und Tänzern: Star-Ballerina Alessandra Ferri, für die John Neumeier die Rolle der Eleonora Duse in seinem Ballett »Duse« kreiert hat, sowie Carsten Jung, ehemaliger Erster Solist des Hamburg Ballett. Beide sind in Baden-Baden zu Gast und präsentieren heute Maurice Béjarts Ballett »L´Heure Exquise« im Theater Baden-Baden.

    Maurice Béjarts Ballett basiert auf dem Theaterstück »Glückliche Tage« von Samuel Beckett. Bei Beckett ist die Protagonistin zu Beginn bis zur Hüfte eingegraben. Bei Béjart ist die Protagonistin eine betagte Ballerina, die sich, in einen Berg ausgebleichter Spitzenschuhe gehüllt, an ihre großen Zeiten erinnert. Alessandra Ferri verkörpert diese Tänzerin, die unter über 2000 Spitzenschuhen begraben liegt.

    Foto: Alessandra Ferri in »L´Heure Exquise«.
    Copyright © Silvia Lelli.

    Fun Fact: Die Spitzenschuhe wurden vom La Scala Ballett, dem English National Ballet, dem Royal Ballet London und dem Hamburg Ballett gesammelt.

    Nathalia Schmidt

  • »The World of John Neumeier«-Festival: Eine Ballett-Werkstatt gibt den Auftakt

    »The World of John Neumeier«-Festival: Eine Ballett-Werkstatt gibt den Auftakt

    Das Hamburg Ballett gastiert vom 1. bis zum 10.10. in Baden-Baden. Den Auftakt machte gestern Abend eine von John Neumeier moderierte Ballett-Werkstatt, die nicht nur spannende Einblicke in die Produktionen gab, die während des diesjährigen Gastspiels im Festspielhaus gezeigt werden, sondern auch das Geheimnis eines neuen Festivals lüftete.
    © Kiran West

    Eine halbe Stunde vor dem Beginn des Ballett-Werkstatt konnte das Publikum die Compagnie bei einem öffentlichen Training auf der Bühne erleben.

    © Kiran West

    Punkt 20 Uhr betritt John Neumeier die Bühne und begrüßt das zahlreich erschienene Publikum. Seit 23 Jahren kommt er mit seiner Compagnie ins Festspielhaus. Gleich zu Anfang dann ein Paukenschlag: John Neumeier verrät, dass sich Baden-Baden ab Herbst 2022 in eine Tanzstadt verwandelt. Ein neues Festival mit dem Namen »The World of John Neumeier« soll Tanzfans aus aller Welt in den Schwarzwald locken.

    © Kiran West

    »Ich hatte nie Ambitionen, ein Impresario wie Serge Diaghilew zu sein. Dennoch finde ich es interessant, ein Festival in Baden-Baden zu kreieren, weil die Stadt einen besonderen Platz in meiner künstlerischen Entwicklung einnimmt«, so John Neumeier.

    © Kiran West

    Nach der Begrüßung durch John Neumeier folgte der erste Tanzausschnitt: Die international gefeierte italienische Ballerina Alessandra Ferri, die mit 50 Jahren in Comeback als Tänzerin feierte und seitdem ausgewählte, ihrem Alter entsprechende Rollen verkörpert, präsentiert auf Einladung von John Neumeier das Kammerballett »L´Heure Exquise« von Maurice Béjart im Theater Baden-Baden (zwei Vorstellungen am 2.10.). Ihr Partner ist Carsten Jung, ehemaliger Erster Solist des Hamburg Ballett und auch in Baden-Baden bestens bekannt. Viele im Publikum nicken zustimmend, als sein Name fällt.

    © Kiran West

    Ein Highlight folgt dem anderen: Eine »Gala-Werkstatt«, so nennt John Neumeier das heutige Programm. Schülerinnen und Schüler der Ballettschule des Hamburg Ballett sind am 4.10. im Museum Frieder Burda auf dem »Absprung« in die Ballettwelt. Sie zeigen teilweise preisgekrönte Choreografien in einem besonderen Ambiente. In einer spontanen Improvisation zur Musik von Queen reißen sie das Publikum fast von den Sitzen.

    Aus einer spontanen Improvisation entsteht im besten Fall eine Choreografie. Dieser Herausforderung stellten sich im »Corona-Jahr« Tänzerinnen und Tänzer der Ballettschule. Das Solo vom Ballettschüler Samuel Winkler, »Suppress«, gewann sogar den Preis für die beste Choreografie beim Young Creation Award 2021 des internationalen Tanzwettbewerbs Prix de Lausanne (siehe Foto).

    © Kiran West

    Das Bundesjugendballett, vor genau 10 Jahren von John Neumeier gegründet, ist ein Herzensprojekt von John Neumeier. Am 7. und 8. Oktober zeigen sie ihr Können auf der Akademie-Bühne im Stadtteil Cité. »John´s BJB-Bach«, eine Zusammenstellung von Ausschnitten aus ausgewählten Bach-Choreografien von John Neumeier. In der Ballett-Werkstatt tanzten sie »Opus 67« von Raymond Hilbert, denn auch dafür steht die Jugendcompagnie: Ballette von jungen Choreografinnen und Choreografen einzustudieren oder gar selbst Werke zu kreieren.

    © Kiran West

    In der Ballett-Werkstatt durften natürlich auch nicht Ausschnitte aus den beiden John Neumeier-Balletten fehlen, die in der zweiwöchigen Residenz des Hamburg Ballett im Festspielhaus Baden-Baden gezeigt werden. Anhand einzelner Szenen, zum Beispiel aus dem Beginn seines Balletts »Tod in Venedig«, erklärte John Neumeier dem Publikum, wie er mit einer literarischen Vorlage umgeht und sie in ein Ballett übersetzt. Bei Thomas Mann ist Gustav von Aschenbach ein viel geehrter Schriftsteller. John Neumeier macht in seinem Ballett aus dem Schriftsteller einen Choreografen. Im Buch und im Ballett ist Aschenbach ein kreativer Künstler, der in eine Schaffenskrise gerät.

    © Pressestelle

    John Neumeiers »Tod in Venedig« ist in großen Teilen in Baden-Baden entstanden. Noch vor der offiziellen Uraufführung in Hamburg, gab es hier im Festspielhaus eine Vor-Premiere. Im November 2003 gab es eine thematisch passende Ballett-Werkstatt dazu. Eine Schulklasse wurde zu dieser Werkstatt eingeladen und hat ihre Eindrücke in kurzen Essays aufgeschrieben. Charlaine aus der Klasse 4c war begeistert vom Tanz im Allgemeinen. »Es war auch sehr faszinierend, wie sie immer auf einem Bein und auch noch auf Zehenspitzen stehen konnten. Am liebsten tät ich jeden Tag dort hingehen«. Eine passende Zeichnung schickte sie Herrn Neumeier dazu.

    © Kiran West

    Als nächste Beispielszene aus seinem Ballett »Tod in Venedig« wählt John Neumeier die der beiden Wanderer aus. Diese fast irreal anmutenden Figuren tauchen im gesamten Stück immer wieder auf, in unterschiedlichen Kostümierungen, aber ihre Wirkung auf Aschenbach ist immer wieder die gleiche: Sie scheinen eine Art Todesboten zu sein, die Aschenbach in eine bestimmte Richtung lenken und sein Schicksal bestimmen.

    © Kiran West

    Das Publikum bekam auch einen Einblick von der zweiten Besetzung, die am Sonntagabend in »Tod in Venedig« tanzen wird. David Rodriguez debütiert am Sonntag in der Rolle des Tadzio. An seiner Seite tanzt Edvin Revazov als Gustav von Aschenbach. Bei der Kreation von John Neumeiers Ballett in 2003 war Edvin Revazov als Tadzio zu sehen.

    © Pressestelle

    David aus der damaligen Klasse 4 (im November 2003) spricht über die erste Begegnung zwischen Tadzio und Aschenbach in Venedig: »Als Tadzio mit seiner Hand langsam wie in Zeitlupe liebevoll Aschenbach heraufzog, spürte ich ein gleiches Gefühl wie Aschenbach. Sehnsucht!«

    © Kiran West

    Nach zwei Stunden reinem Tanzvergnügen und einer charmanten Moderation durch John Neumeier gab es rasenden Beifall und Bravo-Rufe für die Tänzerinnen und Tänzer und John Neumeier sowie Standing Ovations.

    © Kiran West

    In Worten des Schülers Alessio, der 2003 eine Ballett-Werkstatt zum »Tod in Venedig« mit seiner Schulklasse besucht hat: »Ich muss Ihnen was sagen, Herr Neumeier: Sie sind ein prima Choreograph! Ich hoffe ich sehe Ihre Kunstwerke mal wieder«.

    Nathalia Schmidt

  • Roland Geyer – Opernintendant mit künstlerischem Weitblick

    Roland Geyer – Opernintendant mit künstlerischem Weitblick

    Prof. Roland Geyer ist einer der profiliertesten Intendanten und Musikmanager Österreichs, der ab 2006 das Theater an der Wien als innovatives Stagione-Opernhaus international neu positionierte. Mit John Neumeier verbindet ihn eine 18-jährige Zusammenarbeit. Zum Saisonauftakt präsentiert er mit »Beethoven-Projekt II« das zehnte Gastspiel des Hamburg Ballett an seinem Haus innerhalb von 15 Jahren. Am Rande der Proben nahm er sich Zeit für ein ausführliches Gespräch mit unserem Kommunikationsdirektor Jörn Rieckhoff.

    John Neumeier hat ganz wenige Uraufführungen mit seiner Compagnie außerhalb Hamburgs realisiert. Wie haben Sie ihn im Vorfeld überzeugt, dass das Theater an der Wien für »Weihnachtsoratorium I-III« der richtige Ort wäre?

    Roland Geyer: Bevor das Theater an der Wien 2006 eröffnet wurde, habe ich seit 1997 als Musikintendant der Stadt Wien zwei Festivals geleitet: das Sommerfestival »Klangbogen Wien« sowie das Festival »Osterklang«, einen Gegenpol zu den Salzburger Osterfestspielen unter Beteiligung der Wiener Philharmoniker. Bereits bei diesem Festival, das sich der Kontemplation in einem großen künstlerischen Spektrum verpflichtet fühlte, gab es zwei gemeinsame Produktionen mit John Neumeier. Mit zwei oder drei Jahre Vorlauf habe ich mich damals um »Messias« für den Osterklang 2003 bemüht. Ich fand: Dieses wunderbare Werk der Besinnung, das auch außerhalb des sakralen Ansatzes weitreichende Fragen aufwirft, – das wäre ein regelrechter Hit in meinem Festival.

    Ich kann mich noch genau an die Schräge erinnern, auf der Lloyd Riggins als Hauptfigur tanzte. Johns Choreografien sind für mich Interpretationen, die im Zuschauer etwas erwecken: ein Darüber-hinaus-Denken, sodass man etwas mitnimmt, aus dem man immer wieder schöpfen kann – und das im Idealfall seinem Leben eine Bereicherung gibt.

    Jörn Rieckhoff im Gespräch mit Roland Geyer © Kiran West

    Johns vierte Produktion, die ich eingeladen hatte, war eine Uraufführung für das Theater an der Wien: »Weihnachtsoratorium I-III«. Das war für uns der Durchbruch, zusammen mit einer Opernproduktion kurz darauf mit Nikolaus Harnoncourt. Da ist der Musiktheaterwelt, zumindest Europas, plötzlich bewusst geworden: Im Theater an der Wien ist mehr los als gedacht, da muss man genauer hinschauen.

    Man spürt die Empathie, die Sie John Neumeiers Werken entgegenbringen. Sicher sind der Raum und die Zeit, die Sie ihm geben, seine Werke mit Live-Musik speziell für die Bühne im Theater an der Wien einzurichten, ein wichtiger Grund, warum er immer wieder gerne Ihre Einladungen angenommen hat.

    Dazu kommt natürlich das historische Haus mit seiner besonderen Akustik und seiner wunderbaren Intimität. Auf den meistern Plätzen hat man das Gefühl, man könnte der Sängerin oder dem Tänzer die Hand auf die Schulter legen. Gerade für das »Beethoven-Projekt II« ist die Historie gewaltig. »Christus am Ölberge« ist 1803 hier im Haus uraufgeführt worden. Die zwei Sonaten sind in der Zeit entstanden, als Beethoven hier intensiv gearbeitet hat.

    Daneben habe ich mit John über die Jahre eine Gesprächsfreundschaft aufbauen dürfen. Dafür bin ich sehr dankbar, denn John ist ein Mensch, der nicht sofort jeden umarmt. Gerade heute hatten wir zwei Stunden zusammen, in denen es nur wenige Minuten um das aktuelle Projekt ging. Uns beschäftigt: Was bedeutet die Existenz als Mensch, auch angesichts der menschenunwürdigen Flüchtlingssituation, die gerade in Afghanistan aufgebrochen ist? Wir tauschen uns aus, und sehen keine Trennung zwischen künstlerischen Fragen und der Welt um uns herum. Ich genieße solche Gespräche!

    Prof. Roland Geyer, Intendant des Theater an der Wien © Kiran West

    Trotz der großen internationalen Erfolge des Hamburg Ballett empfinde ich im Theater an der Wien jedes Mal eine besonders tiefe Resonanz. Wie erklären Sie die besondere Wertschätzung, die John Neumeier von Ihrem Publikum erfährt?

    Ich habe wohl eine gute Hand dafür, mit sensiblen, hochkreativen Menschen eine Gesprächsebene aufzubauen, sodass sie mir vertrauen. Ich sehe mich als Begleiter der Künstler und vermittle ihnen, dass ich mich mit aller Kraft dafür einsetze, aus dem gemeinsamen Projekt das Beste zu machen. Diese künstlerische Vertrauensbasis spürt auch das Publikum bei den Aufführungen, wofür das Theater an der Wien inzwischen bekannt ist.

    John hat im Gegenzug in 18 Jahren eine große Vielfalt an »Bewegungswelten« mitgebracht: Denken Sie sich den »Messias« neben »Orpheus« oder »Die Kameliendame« neben dem »Weihnachtsoratorium«. In seiner Art, an die Themen heranzugehen, war immer ersichtlich: Der Mensch steht im Mittelpunkt. Egal, ob es dann klassischer oder moderner, leichter verständlich oder den Intellekt stärker herausfordernd choreografiert war.

    Roland Geyer spricht mit Jörn Rieckhoff über die Verbindungen zwischen Wien und Hamburg und die Vorbereitungen auf das aktuelle Gastspiel © Kiran West

    Was hat Sie bei der Vorbereitung für das aktuelle Gastspiel beschäftigt?

    Es war eine wichtige Frage in den Vorgesprächen zu »Beethoven-Projekt II«, dass John in Hamburg das Orchester hinter den Tänzern platziert hatte. Die Akustik in unserem kleineren Theater hätte eine massive Verstärkung erforderlich gemacht. Weil John unser Haus gut kennt, hat er sofort verstanden, dass das Orchester im Graben spielen muss, um das Erlebnis im Zuschauerraum lebendig zu halten.

    Bei der Platzierungsprobe ist mir aufgefallen, dass er einiges für unser Haus adaptiert hat. Man kann schon sagen, dass wir eine Wiener Fassung zu sehen bekommen. Ich habe mich früh dafür eingesetzt, dass der Flügel nicht in der ersten Gasse, sondern an der Seite auf dem überbauten Orchestergraben steht. Diese Plattform gab es auch im »Weihnachtsoratorium«, und auch in »Beethoven-Projekt II« ist es eine wunderbare Brücke in den Zuschauerraum.

    Abgesehen davon sehe ich den Applaus des Live-Publikums als größte Anerkennung, die die Künstler für ihre Leistung erhalten. Insofern freut es mich ungemein, dass die hohe künstlerische Qualität von John Neumeiers Produktion mit den Tänzerinnen und Tänzern des Hamburg Ballett dieses Wochenende mit zwei vollen Sälen gewürdigt wird.

    Jörn Rieckhoff

  • Abschied von Ulrike Schmidt

    Abschied von Ulrike Schmidt

    Nach 30 Jahren verabschieden wir uns von einer ganz besonderen Person: unserer langjährigen Ballettbetriebsdirektorin Ulrike Schmidt. Dreißig Jahre lang leitete sie die Planungen und Geschäfte des Hamburg Ballett und hielt hinter der Bühne die Fäden zusammen. Sie überzeugte mit ihrer einzigartigen Mischung aus Menschlichkeit gepaart mit ihrem scharfen Blick fürs Praktische. Sie hat mit ihrer Art das Hamburg Ballett geprägt und geformt. Im Interview spricht sie über ihren ersten Arbeitstag, besondere Herausforderungen und ihre schönsten Erinnerungen.

    Frau Schmidt, erinnern Sie sich an Ihren ersten Arbeitstag beim Hamburg Ballett?

    Ulrike Schmidt: Jein. Mein erster Arbeitstag war der 15. September 1991. Der Übergang zwischen meiner vorherigen Tätigkeit bei den Salzburger Festspielen und meiner neuen in Hamburg gestaltete sich nahtlos. Ende August wurde ich in Salzburg verabschiedet, mir blieben also knapp zwei Wochen für den Umzug nach Hamburg. Eine Wohnung hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, also lagerten meine Sachen in Salzburg. Ich bin mit dem Auto nach Hamburg, mit einem kurzen Zwischenstopp am Fuschlsee für eine Abschiedsparty. Ich erinnere mich auch, dass ich noch in Mailand eine von Sir Georg Solti geleitete Aufführung erleben konnte. Schön war, dass ich meine Mitarbeiterin aus den Salzburger Festspielen mit nach Hamburg genommen habe, Cornelia Berger. Wir kamen als Team hierher.

    Anna Grabka und Jean-Jacques Defago in »Requiem« © Holger Badekow

    Mich hat sehr erstaunt, dass alle Besucher, die ich in Hamburg getroffen habe, so viel mehr wussten als ich! Und das, obwohl ich mit dem Hamburg Ballett bereits mehrmals zusammengearbeitet hatte: 1991 gab es zum Beispiel ein gemeinsames Projekt in Salzburg, die Uraufführung von John Neumeiers »Requiem« in der Felsenreitschule. John und das Hamburg Ballett waren da, dazu der Chor aus Dresden, wo mein Vorgänger beim Hamburg Ballett hingegangen ist und ich – dieses Projekt war eine Zusammenführung von allen und hat die Veränderung schon eingeläutet.

    Fangen wir noch einmal, für unsere Leser, ganz einfach an. Was macht eine Betriebsdirektorin genau?

    Wenn das so einfach zu beantworten wäre! Ich habe sehr oft Situationen erlebt, wo ich gedacht habe, dass glaubt kein Mensch, dass ich das jetzt mache! Letzte Woche zum Beispiel: Wir bekommen für jede Nijinsky-Gala tolle Blumensträuße von Home flowers, gestiftet von Uta Herz, die wir den Tänzerinnen und Tänzern nach der Gala auf der Bühne überreichen. Bei der Gala-Vorstellung letzten Sonntag haben die beteiligten Musikerinnen und Musiker spontan entschieden, dass sie zum Schlussapplaus doch mit auf die Bühne kommen möchten. Aber dafür haben wir nicht genügend Blumensträuße gehabt! Die Kolleginnen und Kollegen der Requisite haben die Sträuße, die wirklich sehr groß waren, halbiert, sodass es dann am Ende ausging. Aber irgendwie gab es dann Schwierigkeiten mit der Zählung, sodass Nicolas Hartmann, mein Nachfolger, Konstantin Tselikov, Ballettmeister der Ballettschule, und ich spontan mit anpacken mussten. Wir haben sicher eine halbe Stunde gezählt und arrangiert!

    Backstage im Anschluss an die Nijinsky-Gala 2021: Alle Beteiligten haben einen Blumenstrauß überreicht bekommen © Kiran West  

    Was eine Betriebsdirektorin macht? 100% meiner Arbeit hat mit Kreativität zu tun, da letztendlich alle meine Gedanken und Ansätze durch die Kreativität geprägt sind. Ich bin ganz nah dran an den Ideen und Gedanken von John Neumeier, die ich dann versuche umzusetzen in der Planung, ins Personal, in das Budget. Man hat ja alles zu verantworten!

    Ich habe Sie immer als jemanden erlebt, der dabei ganz nah an den Menschen ist, der zum Beispiel auf Ballettreisen den direkten Austausch sucht und zwischen den Welten vermittelt.

    Mein ganzes Leben galt mein Interesse den Menschen! Gleichzeitig war mein Anspruch an mir selbst immer sehr groß, ich wollte etwas schaffen, etwas vorantreiben. 

    Welches ist Ihre schönste Erinnerung mit dem Hamburg Ballett?

    Ich habe so viele Erinnerungen aus den letzten 30 Jahren! Es gab viele emotionale Momente, zum Beispiel die Kreation von »Nijinsky«, die John Neumeier als eine große Aufgabe empfunden hat. Sein Wissen um diese zentrale Figur – er hat eine der größten privaten Sammlungen um Nijinsky und konnte gerade erst persönliche Dinge aus Nijinskys Nachlass erwerben – dieses Wissen ist auch eine Bürde. Wird man dem gerecht? Wie geht man das überhaupt an? John hat sein »Nijinsky«-Ballett quasi in einem Rutsch kreiert. Wenn er das Gefühl hat, dass er auf dem richtigen Weg ist, dann spricht er das nicht einfach aus, nein, er lächelt dann leise. Als ich dieses Lächeln während der Kreation von »Nijinsky« bei ihm gesehen habe, da wusste ich, dieses Ballett wird fertig werden! Mit »Nijinsky« sind wir sehr viel gereist, wir haben Johns Ballett in die Welt gebracht – mit riesigem Erfolg.

    Ein Blick auf »Nijinsky« von der Seitenbühne des Festspielhaus Baden-Baden © Kiran West  

    Wenn man sich das Ballett von der Seitenbühne aus anschaut und quasi hautnah miterlebt, wie die Tänzerinnen und Tänzer den Geist der Ballets Russes auf die Bühne bringen, dann hat man selbst das Gefühl, die Compagnie der Ballets Russes sei wiederauferstanden und wir seien die Nachfolge-Compagnie.

    Mit der »Nijinsky«-Kreation verbinde ich wunderbare tiefe Empfindungsmomente, wie überhaupt wenn ein Ballett neu geschaffen wird. Tolle Erinnerungen habe ich auch an unsere Tourneen, an unsere Kooperation mit dem Festspielhaus Baden-Baden. Auf Tourneen ist man mit den Menschen eng zusammen, man erlebt das Ensemble, aber auch die Kolleginnen und Kollegen ganz anders als hier im Ballettzentrum, wo alle in Büroarbeit vertieft sind. Die Menschen auf und hinter der Bühne waren mir immer wichtig, deswegen habe ich auch die Führungen im Ballettzentrum so gerne gemacht: Ich gehe mit den Teilnehmenden dann in den Ballettsaal, denn nur dort kriegt man direkt mit, was einem beglückt, wofür man arbeitet. Ich bin ein Team-Mensch und kann mich glücklich schätzen, ein so wunderbares Team um mich herum gehabt zu haben. 14 Jahre lang habe ich mit meinem Assistenten Nicolas Hartmann zusammengearbeitet, der nun mein Nachfolger wird, und mit meiner Assistentin Birgit Paulsen; mein Dank gilt ihnen und allen anderen Kolleginnen und Kollegen.

    Was war Ihre größte Herausforderung?

    Mit einer der größten Herausforderungen war die Bewältigung und das Verstehen der Corona-Pandemie. Ich habe zwei Wochen gebraucht, um zu verstehen, was sie ist, und dann noch einmal zwei Wochen, um mich selbst zu fassen und für die Anderen da sein zu können. Ich bin schon immer ein positiv gestimmter Mensch gewesen, und habe an allem Freude. Diese Freude war erst einmal weg, ich habe nur grau gesehen und konnte am Anfang nur ganz schlecht mit der Pandemie umgehen. Meine Positivität musste ich wiederfinden, und das habe ich, und dann habe ich sie nicht wieder verloren.

    John hat sehr darum gekämpft, dass die Compagnie wieder zurück ins Ballettzentrum durfte. Ich erinnere mich an ein Meeting der Administration im Garten des Ballettzentrums, das muss im April 2020 gewesen sein, wo die Tänzer noch von zuhause aus trainieren mussten. John sah uns im Garten und war ganz beglückt darüber, Leben im Ballettzentrum zu sehen. Und dann hat er sich persönlich eingesetzt und dank eines gut ausgearbeiteten Hygienekonzepts hat er es geschafft, dass die Tänzer wieder im Ballettsaal trainieren und proben durften. Für mich war nicht nur extrem herausfordernd persönlich mit der Krise umzugehen, sondern auch mit der Verantwortung für die Menschen im Ballettzentrum. Ich bin dankbar und unglaublich froh, dass wir hier keine schweren Corona-Fälle hatten, und dass in so einem großen Betrieb mit eigener Ballettschule und Internat! So viele Menschen arbeiten hier. Andere Compagnien hatten es da schwerer…

    Und ganz privat: Wie haben Sie die Corona-Pandemie erlebt? Gibt es auch positive Dinge, die Sie aus dieser Zeit ziehen?

    Für mich war diese Zeit eine gute Vorbereitung auf meinen Abschied, weil ich noch nie so viel zuhause war. Ich habe erlebt, wie Vögel in meinem Garten brüten und die Jungen gefüttert. Das habe ich nie so wirklich wahrnehmen können, da ich beruflich viel unterwegs war. Ich hatte Zeit, um nachzudenken, Bücher zu lesen, Musik zu hören, Theaterstreams anzusehen. Zeit für sich selbst zu haben, das ist in meinem Beruf nicht möglich – es hat mir nicht gefehlt, ich liebe meinen Beruf, aber ich habe es trotzdem genossen. Und ich konnte in dieser Zeit mit vielen Menschen sprechen, und dann ging es eben nicht nur um Nebensächlichkeiten, sondern immer um Tiefe und Inhalt, das fand ich toll!

    Wenn ich jungen Menschen vermitteln könnte, was ich in der Pandemie gelernt habe, dann das: Man muss und sollte Dinge tun, wenn man die Chance dazu hat und nicht verschieben. Das habe ich in meinem Leben immer getan, beruflich und privat. Ich habe dadurch kostbare Erfahrungen sammeln dürfen, zum Beispiel durch das viele Reisen. Diese Erfahrungen und Erlebnisse haben mich durch die Pandemie getragen.

    Gibt es das Lieblingsballett?

    Ich war sehr froh, als ich bei der diesjährigen Nijinsky-Gala ein Pas de deux aus »Othello« noch einmal sehen durfte, weil es eines meiner Lieblingsballette von John ist. »Nijinsky« ist für mich ein Meisterwerk. Auch Klassiker wie »Die Kameliendame« sind wunderschön. In all den 30 Jahren beim Hamburg Ballett und auch schon davor, durfte ich so viele unterschiedliche Besetzungen erleben, die die Ballette immer wieder haben neu aufleben lassen.

    Foto: Astrid Elbo und Ryan Tomash (Königliches Ballett Dänemark) tanzen ein Pas de deux aus »Othello« in der Nijinsky-Gala 2021 © Kiran West  

    Das Tolle bei John ist, dass er auch ganz jungen Tänzern die Chance gibt, führende Rollen zu übernehmen. Ich denke da zum Beispiel an Alessandro Frola, der gerade von der Ballettschule in die Compagnie übernommen wurde und dann als jüngster Lysander überhaupt im Sommernachtstraum tanzen durfte. So etwas vergisst man nicht, vor allem nicht als Tänzer!

    Das Traurige ist, dass man sich nach jeder Saison auch von einzelnen Tänzern verabschieden muss. Abschied nehmen ist immer hart, weil man viele liebgewonnen hat und ich beobachte die Tänzerinnen und Tänzer im Laufe der vielen Vorstellungen, die ich miterlebe. Ich kenne die wahrscheinlich alle viel besser als die mich kennen!

    Verabschieden müssen wir uns nach 30 Jahren auch von Ihnen. Wie fühlen Sie sich?

    Ich bin froh, dass wieder Leben auf die Bühne zurückkehren und ich gemeinsam mit der Compagnie die Hamburger Ballett-Tage miterleben konnte! Ich bin beruhigt, denn ich glaube, dass wir nach den Theaterferien so weitermachen können. Sicherlich wird es noch Einschränkungen im Herbst geben, aber es wird etwas stattfinden, mit Publikum.

    Ich wurde auf eine so tolle und persönliche Art und Weise verabschiedet. Das Bundesjugendballett hat eine Vorstellung nur für mich, meine Freunde und Familie gegeben. Dafür bin ich Kevin Haigen sehr dankbar. Kevin war für mich ein besonderer Wegbegleiter, ich habe schon immer die Fähigkeit an ihn geschätzt, den Menschen zu sehen. Er hat mir damit ein großes Geschenk gemacht, das ich nie vergessen werde!  

    Backstage nach der Nijinsky-Gala 2021: Wir verabschieden uns nach 30 wunderbaren Jahren von unserer Betriebsdirektorin Ulrike Schmidt © Kiran West  

    Und auch die kleinen Gesten waren besonders und rührend. So haben sich zum Beispiel viele ehemalige Tänzer bei mir gemeldet und sich für Dinge bedankt, die ich teilweise gar nicht mehr erinnere, die aber für diesen bestimmten Tänzer wichtig waren. Ich habe immer versucht für die Menschen zu denken und zu sehen, wie dieser Dank zurückkommt, ist rührend.

    Deswegen habe ich mich an meinem letzten Tag, dem Tag der beiden Nijinsky-Galas, sehr leicht gefühlt. Ich weiß, warum ich das tue, ich finde es wichtig, dass die jungen Leute eine Chance bekommen, sich zu beweisen. Natürlich ist nach 30 Jahren so ein Wechsel schwer, ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es mir leichtfällt loszulassen. Dieser Job hat mein Leben ausgemacht! Es ist nicht einfach, aber ich fühle mich leicht und dankbar.

    Nur ausruhen wird sich Ulrike Schmidt nicht. Ab dem 1. November 2021 übernimmt Sie die Geschäftsführung der Opernstiftung © Nicolas Hartmann

    Und jetzt, wie geht es weiter? Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

    Erst einmal: Büro aufräumen und dann Ferien! Ich fliege nach Italien, werde auch die Bregenzer und die Salzburger Festspiele besuchen. Dann fahre ich nach Wien, wo das Hamburg Ballett Ende August gastieren wird. Und dann bin ich natürlich zur Saisoneröffnung wieder in Hamburg, weil ich schon jetzt im Amt bin als Kuratorin der Opernstiftung, ab dem 1. November übernehme ich die Geschäftsführung. Ich freue mich auf diese tolle Aufgabe. Sie nimmt zeitlich nicht so viel Anspruch, ich bekomme Unterstützung durch eine Assistenz, und sie gibt mir freie Gestaltung. Ich muss nicht immer im Büro oder in Hamburg sein, ich kann das letztendlich von überall aus machen. Mein Wissen um diese Institution, um die Oper und das Ballett, darf ich in meiner neuen Aufgabe einbringen. Ich werde eine Vermittlerin sein, und so habe ich mich schon immer gesehen. Ich bleibe weiterhin im Vorstand der Stiftung TANZ – Transition Zentrum Deutschland, die gerade erst ihr 10-jähriges Jubiläum feierte. In der kommenden Saison organisiert das Hamburg Ballett zu diesem Jubiläum eine Benefiz-Ballett-Werkstatt, die Spenden gehen an die Stiftung TANZ, die Tanzschaffende ideell und materiell bei ihren beruflichen Übergangsprozessen unterstützt.

    Die Opernstiftung existiert seit über 60 Jahren und hat eine tolle Arbeit geleistet. Übrigens, meine allererste Aufgabe hier in Hamburg war, bei einem Gastspiel mit der »Matthäus-Passion« in Dresden, Herrn Dr. Körber anzusprechen, der ehemalige Vorsitzende der Opernstiftung. Ich sollte ihn um Unterstützung bitten für eine Publikation, die anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Hamburg Ballett erscheinen sollte. Jemand Kluges hatte mir noch gesagt, dass ich eine Zahl parat haben sollte, da Herr Körber mich sofort nach einer Zahl fragen würde. Und so war es: Ich habe ihn zum Dinner getroffen und eine der ersten Fragen war: Frau Schmidt, was kostet das? Gott sei Dank war ich darauf vorbereitet! Von Anfang an war die Opernstiftung ein wichtiger Teil und ich freue mich sehr, dass ich noch weiter in diesem Umfeld bleiben und helfen kann, was bestimmt nicht einfach sein wird, denn die Pandemie hat auch finanziell große Lücken hervorgebracht.

    Gibt es Hobbys außerhalb der Kunst? Oder Dinge, die Sie in Ihrem neuen Lebensabschnitt machen wollen?

    Toll in der Pandemie war, dass man sich den Tag anders einteilen konnte, weil man ja viel zuhause war. Ich habe angefangen täglich Yoga zu machen. Es war schön, sich mehr auf sich zu konzentrieren, zu atmen und den Tag positiv zu beginnen. Ich wohne nahe der Elbe und habe es genossen, an der Elbe zu walken. Ich freue mich auch wieder mehr Fahrrad fahren zu können. Diese Dinge in meinen neuen Alltag zu holen, das ist schön.

    Ulrike Schmidt mit einer Studiosus-Reisegruppe beim Gastspiel des Hamburg Ballett in Moskau 2017 © Kiran West  

    Ehrlich gesagt hatte ich noch keine Zeit zu überlegen, was ich in dieser neuen Zeit unbedingt machen möchte. Sicherlich werde ich viel reisen! Das möchte ich auch mit der Opernstiftung – ich möchte weiterhin Ballett- und Opernreisen initiieren, um die Menschen zu binden und ihnen Einblicke zu geben, die man sonst nicht hat. Eine tolle Reise wäre zum Beispiel nächstes Jahr nach Los Angeles, wo das Hamburg Ballett gastieren wird. Diese Reisen sind für uns alle besonders, denn dass, was man auf einer Tournee erlebt, so ganz anders ist. Manchmal sind Kultursenatoren da und erleben, wie die Compagnie von ganz anderen Menschen, in einem ganz anderen Land, geliebt und verehrt wird. Auf Reisen beantworte ich auch Fragen aller Art. Nicht alle kennen sich aus, einmal fragte man mich zum Beispiel, was ein Tänzer tagsüber denn so macht, wenn er abends Vorstellung hat. Die Menschen können nicht wissen, welch harte Arbeit dahintersteckt und ich vermittele dieses Wissen gerne. Letztendlich bindet es die Menschen an uns und das Hamburg Ballett, ich konnte auf diese Weise schon viele Sponsoren gewinnen.

    Vielen Dank für das Interview, liebe Frau Schmidt, wir werden Sie hier sehr vermissen!

    Nathalia Schmidt

  • Jubiläum in der Requisite

    Jubiläum in der Requisite

    Als Requisitenmeister zeichnet Jürgen Tessmann verantwortlich für die Requisiten, Möbel, die Pyrotechnik und Waffen. Er ist bei allen Proben und Aufführungen des Hamburg Ballett dabei und reist mit der Compagnie um die ganze Welt. Nun feiert er sein 40-jähriges Dienstjubiläum. In einem Interview spricht er über besondere Herausforderungen, Lieblingsrequisiten und seine schönsten Erinnerungen.

    Seit 40 Jahren ist er schon dabei, unser Requisitenmeister Jürgen Tessmann. Für das Hamburg Ballett steht der Jubilar für große Verlässlichkeit, für Kontinuität und einen breiten Schatz an Erfahrung – aber auch für seine Herzlichkeit, mit der er Kolleginnen und Kollegen unterstützend zur Seite steht. Er ist eine maßgebliche Stütze für den Spielbetrieb. Ob er nun dafür sorgt, dass der Flügel in »Beethoven-Projekt II« auch wirklich aus der Zeit Beethovens stammt, die Requisiten pünktlich bereitstehen oder beim Einsatz von Pyrotechnik in »Die Möwe« die Rechtsvorschriften beachtet werden.

    Als Requisitenmeister zeichnet Jürgen Tessmann verantwortlich für die Requisiten, Möbel, die Pyrotechnik und Waffen. Auch die Organisation der Transporte von den Werkstätten zur Staatsoper und zurück, die Wartung, Lagerung und Neubeschaffung von Requisiten liegt in seinem Verantwortungsbereich. Er ist bei allen Proben und Aufführungen des Hamburg Ballett dabei und reist mit der Compagnie um die ganze Welt.

    Requisiteure Jürgen Tessmann und Peter Schütte mit dem Zugmodell aus »Anna Karenina« auf der Bühne des Festspielhaus Baden-Baden © Kiran West

    »Das Reisen habe ich immer geliebt, schon mit 16 Jahren bin ich getrampt«, erzählt er mir in einem persönlichen Gespräch im Ballettzentrum Hamburg. Sein erstes Gastspiel führte ihn 1984 nach Japan. Da war er noch für die Staatsoper tätig. 1999 folgte dann der Schritt ins Hamburg Ballett. Seitdem hat er alle Ballette von John Neumeier betreut, auch auf Gastspielen. Findet er überhaupt Zeit, etwas von den Städten zu sehen?

    »Der Kontakt zum Team vor Ort ist mir wichtig. Oft kommt es dann vor, dass wir gemeinsam die Mittagspause verbringen und Restaurants entdecken, die wir als Touristen so nie gefunden hätten!«. Ein guter Kontakt kommt letztendlich auch der Vorstellung zu Gute, »man kann sich dann schnell verständigen«. Auf Gastspiel gibt es zusätzliche Aufgaben, die man als Requisitenmeister im Blick haben muss. »Für Gastspiele im Ausland müssen Carnets erstellt werden. Außerdem muss sorgfältig geplant werden, welche Requisiten wo reinpassen und vor allem was überhaupt mitdarf. Waffen oder Pyrotechnik darf man nicht ausführen, dann muss ich sicherstellen, dass ich vor Ort Gleichwertiges beschaffen kann. John Neumeiers Anspruch ist sehr hoch und dem will ich auch gerecht werden!«

    Der Trecker wartet auf seinen großen Auftritt © Pressestelle Hamburg Ballett

    Wenn es um Requisiten geht, kommt Jürgen Tessmann schnell ins Schwärmen. Eine besondere Herausforderung und sicherlich eines der kuriosesten Requisiten ist der Trecker in »Anna Karenina«: »Ein grüner Oldtimer-Trecker auf der Bühne – ich habe lange nach einem passenden Modell gesucht, das man auch für die Ballettbühne umbauen konnte!«

    Einzelne Requisiten findet Jürgen Tessmann im Fundus. Meist kauft er sie von Händlern oder Privatpersonen, manchmal leiht er sie auch aus. »Für die ˃Josephs Legende˂ wollte John Neumeier drei Kelim-Teppiche in einem bestimmten Muster haben. Ich habe dann eine ganze Woche lang nach Kelims Ausschau gehalten. Ich bin täglich zum Zollhafen gefahren und habe mit einem Händler literweise Tee getrunken und mir dabei stapelweise Kelims vorführen lassen. Dabei habe ich auch alles über Kelims gelernt, wunderbar!«

    Edvin Revazov und Alexandre Riabko in »Josephs Legende«, mit auf dem Foto ist eines der Kelim-Teppiche © Holger Badekow  

    Manchmal fertigt Jürgen Tessmann Requisiten auch selbst an, so zum Beispiel den Teddy in »Parzival – Episoden und Echo«. Die Uraufführung fand in Baden-Baden statt, John Neumeier wünschte sich eine zweite Besetzung für sein Ballett. »Da der Teddy aber ein Unikat war, habe ich zwei Tage lang eine Kopie davon genäht!«

    Edvin Revazov mit Teddybär in »Parzival« © Holger Badekow

    Gibt es das Lieblingsrequisit?

    »Das Grammophon in ˃Die Glasmenagerie˂, das ist der Hammer gewesen! Ich habe einen alten Schallplattenspieler erstanden, dazu auch ein paar Platten aus der Entstehungszeit der Glasmenagerie. Und da habe ich tatsächlich die Musik getroffen, die John Neumeier für sein Ballett haben wollte, ich kann es immer noch nicht glauben …«

    Foto: Alina Cojocaru, Patricia Friza, Edvin Revazov und Félix Paquet in »Die Glasmenagerie«, im Hintergrund ist das Grammophon zu sehen © Kiran West  

    Wenn man Jürgen Tessmann zuhört, merkt man sofort die Begeisterung für seinen Beruf. Vermeintliche Schwierigkeiten halten ihn nicht auf, im Gegenteil, er hat Freude daran, alles zu ermöglichen. Dabei kann er auf die Unterstützung von seinen Kolleginnen und Kollegen zählen, ohne die das alles nicht möglich wäre. Wenn sich ihm dann später bei den Proben eröffnet, wie und wozu die Requisiten zum Einsatz kommen, ist ihm das jede Anstrengung wert. »40 Jahre vergingen wie im Fluge, ich kann das nicht ganz glauben, ich habe immer noch so viel Spaß bei der Arbeit«.

    Wir gratulieren zu diesem beeindruckenden Jubiläum!

    Nathalia Schmidt

  • Rund um den Ü-Wagen –  wie der SWR John Neumeiers »Ghost Light« aufzeichnet

    Rund um den Ü-Wagen – wie der SWR John Neumeiers »Ghost Light« aufzeichnet

    Auf dem Parkplatz hinter dem Festspielhaus Baden-Baden hat der SWR eine regelrechte Siedlung eingerichtet. Neben dem großen Ü-Wagen sind mehrere Container aufgebaut. Die Türen stehen meist offen. Wer vorbeikommt, wird freundlich gegrüßt. In diesem Setting entsteht die hochkarätige Aufzeichnung von John Neumeiers jüngstem Ballett »Ghost Light«. Das Hamburg Ballett ist für vier Aufführungen und eine Ballett-Werkstatt zum traditionellen Herbstgastspiel angereist. Auch wenn Abstandsgebot und Hygienekonzept eine weitgehende Trennung von künstlerischer Produktion und Aufzeichnung vorsehen, waren Fernsehredakteur Harald Letfuß und Produktionsleiter Heinz-Jürgen Hilgemann gerne bereit, einen Einblick in ihre Arbeit beim SWR zu geben.

    Das Festspielhaus-Publikum feierte die Premiere von »Ghost Light« mit Standing Ovations. Wie ist die Stimmung rund um den Ü-Wagen?

    Heinz-Jürgen Hilgemann: Großartig! Immer wieder kommen Kollegen vom Ballett vorbei und sagen: „Es ist so toll mit Euch!“ Wir freuen uns, wieder ein John Neumeier-Ballett in die Welt zu bringen. In einer Zeit, in der nur 500 Zuschauer im Festspielhaus sein dürfen, kommen wenigstens durch den weltweiten Livestream viele Menschen in den Genuss dieser Aufführung.

    Harald Letfuß: Die Motivation für dieses Projekt ist besonders groß, weil durch den Lockdown mehr als zwei Monate lang bei uns gar nichts ging. Als ich im Frühsommer andeutete, dass Gespräche mit dem Festspielhaus für ganz großes Ballett laufen, gab es regelrechte Jubelrufe.

    Bei welcher Gelegenheit haben Sie John Neumeier kennengelernt?

    Harald Letfuß: Die erste Begegnung war »Tod in Venedig« 2004 im Festspielhaus, eine Aufzeichnung mit dem gleichen Aufwand wie bei »Ghost Light«. Seitdem ist der Kontakt nie abgerissen – und jetzt drehen wir sogar das zweite Jahr in Folge.

    Heinz-Jürgen Hilgemann: Schon während meines Volontariats Ende der 70er Jahre habe ich in John Neumeiers Produktionen mit Studio Hamburg hineinspickeln können. Jeder wusste: Was dort passiert, ist Weltklasse. Als »der« John Neumeier dann zu uns für Aufzeichnungen nach Baden-Baden kam, hatte ich als Ballettfan Tränen in den Augen. »Tod in Venedig« ist ein unglaublich gut gemachtes Ballett! Bis heute bin ich besonders stolz darauf, dass wir als SWR international die einzige Rundfunkanstalt sind, die einen Film der »Matthäus-Passion« mit John Neumeier in der Rolle des Jesus haben.

    Heinz-Jürgen Hilgemann und Harald Letfuß im Gespräch © Kiran West

    Wie kommt im Corona-Jahr 2020 ein Ballett wie »Ghost Light« rechtzeitig in den Redaktionsplan?

    Harald Letfuß: Ich glaube, Sie haben mich angerufen (lacht). Wir haben frühzeitig gemeinsam überlegt, die erfolgreiche Zusammenarbeit von »Beethoven-Projekt« unmittelbar fortzusetzen. Als klar wurde, dass die ursprünglich geplante ›Kameliendame‹ unter Corona-Bedingungen nicht aufführbar ist, kam aus Hamburg schnell das Signal, dass John Neumeier etwas völlig Neues kreiert. Mit »Ghost Light« zeichnen wir unter Corona-Bedingungen etwas Einmaliges auf, was es kein zweites Mal auf der Welt gibt. Wir haben alles darangesetzt, diese Produktion Wirklichkeit werden zu lassen: mit großem Ü-Wagen, Containern und einem anspruchsvollen Hygienekonzept.

    Herr Hilgemann, als Produktionsleiter haben Sie die gesamte Technik im Blick. Welche Besonderheiten mussten bei der diesjährigen Aufzeichnung beachtet werden?

    Heinz-Jürgen Hilgemann: Ein Gedanke vorweg: Meine Kollegen lechzen nach tollen Produktionen. Dabei müssen wir uns auf die guten Ideen der Redaktion verlassen, die an den traditionell herausragenden Ruf des SWR im Kultur- und Klassikbereich anknüpfen kann. Ich habe daher sehr früh nach Beginn des Lockdowns mit Harald Letfuß überlegt, welche Produktionen im Herbst denkbar wären. Sein enger Kontakt zum Hamburg Ballett war entscheidend, um konkrete Planungsschritte rechtzeitig auf den Weg zu bringen. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Unser Ziel ist eine erstklassige Aufzeichnung, die parallel zum Publikumsbetrieb, aber möglichst unauffällig entsteht. Heute arbeiten wir mit exzellenter Technik, die ein Ballett so abfilmt, wie es kreiert ist – einer Technik, die auch schwach ausgeleuchtete Felder eines Lichtdesigns adäquat festhalten kann. Durch Corona sind wir besonders in der Zahl der Kameras beschränkt, die der Regie eine Auswahl an Perspektiven für die Schnittfassung zur Verfügung stellen. Dabei geht es übrigens nicht um den Platzbedarf im Saal, sondern im Ü-Wagen, denn hier sitzen Kollegen, die diese Kameras betreuen.

    Harald Letfuß: Von redaktioneller Seite darf ich hinzufügen, dass ein derartiges Projekt nur mit einem Produktionsleiter umsetzbar ist, der mit der Materie Ballett vertraut ist. Dieser Erfahrungsschatz ist eine zentrale Voraussetzung – auch, weil wir die verfügbaren Geldmittel sorgfältig einsetzen müssen. Zu guter Letzt braucht man einen Partner wie das Hamburg Ballett, mit dem man auf Augenhöhe Kompromisse aushandeln kann: zur Dauer der Aufzeichnung, zu Rechtefragen usw.

    Harald Letfuß mit Jörn Rieckhoff vor dem Ü-Wagen © Kiran West

    Wie erleben Sie John Neumeier, wenn er für die Dauer der Vorstellung zum Produktionscontainer kommt, um die Aufzeichnung am Split-Screen zu verfolgen?

    Harald Letfuß: Er ist hochkonzentriert und fokussiert. Ich sehe unsere Aufgabe darin, ihm einen Rahmen zur Verfügung zu stellen. Er soll sich voll und ganz darauf einlassen können, wie sein Ballett im Medium des Films auf den Bildschirm kommt. Alle freuen sich, mit welcher Selbstverständlichkeit er sich in unserem Arbeitsbereich bewegt. Ich meine sogar, manchmal ein freudiges Lächeln zu entdecken, wenn etwas besonders gut funktioniert.

    Heinz-Jürgen Hilgemann: Mit Myriam Hoyer haben wir eine Regisseurin, die exakt das umsetzt, was John Neumeier sich vorstellt. Dazu gehört auch ein erheblicher Arbeitsaufwand im Vorfeld: dass sie sich mit John Neumeier zusammensetzt und konkret nachfragt, was ihm bei der Aufzeichnung wichtig ist.

    Haben derart aufwendige Ballett-Produktionen beim SWR eine Zukunft?

    Harald Letfuß: Ich weiß, dass bei vielen Ballettcompagnien die Vorstellungen mit großem Vorlauf ausverkauft sind. Was noch wenig in den Medien thematisiert wird: Es gibt einen immer größeren Kreis von jüngeren Menschen, um die 20, die Ballett für sich entdecken, auch wenn sie es nicht durch ihr Elternhaus kennengelernt haben. Eine regelrechte Renaissance, an der wir teilhaben wollen!

    Zudem sind Ballett-Tickets oft hochpreisig. Als öffentlich-rechtlicher Sender mit einem Kulturauftrag steht es uns gut an, die Tradition der SWR-Ballettaufzeichnungen mit hohem Qualitätsanspruch fortzuführen: um Menschen mit körperlichen oder finanziellen Einschränkungen – auch Menschen, für die die nächste Bühne schlicht nicht erreichbar ist – einen Zugang zu dieser großartigen Kunstform anzubieten.

    Jörn Rieckhoff

  • David Fray – der renommierte Schubert-Interpret tritt erstmals mit dem Hamburg Ballett auf

    David Fray – der renommierte Schubert-Interpret tritt erstmals mit dem Hamburg Ballett auf

    Die Schubert-Einspielungen von David Fray haben John Neumeier zu seiner Musikauswahl für sein jüngstes Ballett »Ghost Light« angeregt. Nach zwei Probentagen im Ballettzentrum Hamburg betritt der in Fachkreisen hochgehandelte Pianist erstmals eine Ballettbühne und spielt im Festspielhaus Baden-Baden die Soloklaviermusik zu diesem »Ballett in Zeiten von Corona«. Beim Gespräch vor der Premiere wird sofort deutlich: Dieser Künstler sucht den Dialog, auch mit anderen Kunstformen, um dem Publikum einmalige und unverwechselbare Erlebnisse zu vermitteln.

    Wann haben Sie zum ersten Mal von der Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit dem Hamburg Ballett gehört?

    David Fray: Soll ich wirklich nachschauen? Das würde mich auch interessieren (lacht). Der Vorschlag kam ungefähr Ende Juni. Eine Ballett-Aufführung zu spielen, ist für uns Musiker interessant – und auch ein wenig unheimlich. Als Künstler glaube ich an die Kraft der Musik, an eine Kraft, die nichts Anderes benötigt. Etwas Visuelles zu begleiten, kann störend sein. Man könnte meinen, die Musik wäre nicht mehr die Hauptsache, reduziert auf eine Vorlage für Ballett.

    Aber als die Anfrage von John Neumeier kam, hatte ich keine Bedenken. Ich kannte Johns Werke. Ich wusste: Alles, was er der Musik hinzufügt, würde dem Wesen dieser Musik sehr entsprechen. Auch die Tatsache, dass er einen Konzertpianisten fragte, war ein Zeichen dafür, dass er der Musik einen Eigenwert zuschrieb. Bei John konnte ich darauf vertrauen, dass Musik und Bewegungen eine tiefe Symbiose eingehen.

    John Neumeier wurde von einer Ihrer Einspielungen angeregt, sein Ballett mit Musik von Franz Schubert zu kreieren. Kommt Ihnen das entgegen?

    John hat Musik gewählt, die mir persönlich sehr am Herzen liegt. Zwar ist ein Großteil seiner Musik nicht zum Tanzen gedacht. Aber während der Arbeit mit John wurde mir neu bewusst, wie viele Aspekte trotzdem mit Tanz verbunden sind, auch jenseits seiner Deutschen Tänze und Walzer. Manchmal sind es nur unauffällige Anklänge, so wie hier im 1. Satz der G-Dur-Sonate (spielt einen Auszug mit tänzerisch punktiertem Rhythmus).

    Ich fühle mich auch vom Ballett-Titel »Ghost Light« angesprochen. Schon lange vor diesem Projekt hatte ich das Gefühl: Schuberts Musik ist eine Musik von Geistern. Es ist die Musik eines Zwischenreichs: nicht von unserer Welt, nicht aus dem Jenseits.

    Wie war Ihr Eindruck von den ersten Proben mit dem Hamburg Ballett? Zunächst haben Sie einen Durchlauf im Ballettsaal mit Ihrer Einspielung erlebt, erst danach Szene für Szene am Klavier begleitet.

    Es war keine leichte Aufgabe. Einerseits muss man wie in einem Konzert spielen: projizieren, wie man selbst die Musik in diesem Augenblick empfindet. Andererseits ist genau das im Ballett unmöglich, denn ich muss immer in Verbindung bleiben mit dem, was die Choreografie vorgibt – auch wenn ich nicht in jedem Moment die Tänzer beobachte.

    Johns Repertoire-Auswahl ist anspruchsvoll. Es ist ein Großteil der Schubert-Stücke, die ich jemals eingespielt habe. Das alles ohne Pause zu spielen, ohne dass Konzentration und Fokussierung nachlassen, ist sehr schwer. Es erfordert so viel Hingabe! Ich kann diese Werke nicht spielen, ohne innerlich beteiligt zu sein.

    Was denken Sie: Wird es weitere Projekte mit Ihnen und dem Hamburg Ballett in der Zukunft geben?

    Natürlich muss ich zunächst die Aufführungen abwarten. Aber es wäre interessant, »Ghost Light« auch in anderen Städten aufzuführen. Wenn unsere noch junge Zusammenarbeit sich weiter so positiv entwickelt, ist das eine Idee, die ich gerne unterstütze. Sicher werden sich Gespräche mit John anschließen und man wird sehen, ob gemeinsame Projekte entstehen. Diese Art der Begegnung mit großen Künstlern ist faszinierend. Oft bleibt es bei einem netten Abend, aber manchmal entsteht etwas wirklich Neues, das sehr weit trägt.

    Jörn Rieckhoff

  • Benedikt Stampa – der Festspielhaus-Intendant blickt auf das beginnende Gastspiel des Hamburg Ballett unter Corona-Bedingungen

    Benedikt Stampa – der Festspielhaus-Intendant blickt auf das beginnende Gastspiel des Hamburg Ballett unter Corona-Bedingungen

    Es ist das erste Gastspiel des Hamburg Ballett seit dem Lockdown. Das Programm musste angepasst werden: John Neumeiers vor wenigen Wochen uraufgeführtes Ballett »Ghost Light« ersetzt »Die Kameliendame«. In dichter Folge sind vier Vorstellungen und eine Ballett-Werkstatt angesetzt. Festspielhaus-Intendant Benedikt Stampa strahlt Zuversicht aus. Endlich öffnet sich das Haus wieder für seine Künstler – und sein Publikum.

    Das Hamburg Ballett gestaltet zum zweiten Mal in Folge das Programm der Saisoneröffnung im Festspielhaus Baden-Baden. Hat dieser Umstand etwas mit der Künstlerpersönlichkeit von John Neumeier zu tun?

    Benedikt Stampa: Auf jeden Fall. Als Intendant darf ich John noch einmal neu erleben, nach meiner Hamburger Zeit. Als Chef der Laeiszhalle habe ich die Ära Ingo Metzmacher erlebt. Schon da war John eine Konstante. Unser Kontakt blieb aber eher auf der gesellschaftlichen Ebene, etwa bei Empfängen oder Premierenfeiern. Das Wiedersehen mit ihm in Baden-Baden war daher schon spannend. Ich bin komplett geflasht!

    Festspielhaus-Intendant Benedikt Stampa im Gespräch mit Jörn Rieckhoff, Kommunikationschef des Hamburg Ballett © Kiran West

    Wann haben Sie zum ersten Mal in Ihrer Funktion als Festspielhaus-Intendant mit John Kontakt aufgenommen?

    Als die Berufung nach Baden-Baden klar wurde, habe ich überlegt: Mit welchen der Künstler, die seit Jahren das Profil vom Festspielhaus geprägt haben, spreche ich zuerst? Und da war John ganz vorne mit auf der Shortlist.

    Ich habe ihn dann in Hamburg getroffen, wir saßen zusammen im Italiener an der Dammtorstraße und haben uns quasi beschnuppert. Bei mir ist der Funke sofort übergesprungen. Zugleich habe ich gespürt: Da ist noch Platz und Raum für neue Dinge.

    Das Festspielhaus erwacht gerade aus einer Art Dornröschenschlaf. Wie ist die Stimmung, auch unter Ihren Kollegen?

    Auch wenn wir alle lange Routine in unserem Job haben, hat noch keiner eine so lange Durststrecke erlebt. Alle haben professionell reagiert. Selbstverständlich auch unsicher: Wie lange dauert das? Man hat sich in eine Rolle der Improvisation begeben, aber auch der neu auferlegten Flexibilität. Trotz aller Frustration haben wir uns die Zeit genommen, nach vorne zu schauen. Wir wollen die Zukunft selbst gestalten.

    Wie wichtig sind Förderer, auch für das Gastspiel einer Ballettcompagnie wie das Hamburg Ballett?

    Für unser Haus: existentiell. Hella und Klaus Janson sind seit Jahrzehnten dem Haus eng verbunden: als treue Stifter und Förderer, die regelmäßig zu den John Neumeier-Festspielen anreisen. Diese Art der Verzahnung von Festspielhaus und Hamburg Ballett ist über Jahrzehnte gewachsen. John Neumeier hat mit seiner Compagnie viel investiert. Man nimmt den Tänzerinnen und Tänzern einfach ab, dass Baden-Baden nicht nur eine beliebige Tournee-Station ist. Man spürt: Es ist Teil ihrer Identität.

    Benedikt Stampa innerhalb des Festspielhaus-Gebäudes © Kiran West

    Diese Art gewachsener Identifikation ist für unsere Aufführungen in Hamburg wesentlich dafür verantwortlich, dass auch in der Corona-Krise eine ungebrochene Ticket-Nachfrage besteht.

    Das ist bei uns auch so. Wenn ich mir die Verkaufszahlen anschaue, liegt John an der Spitze. Das Besondere ist: Seine treue Fangemeinde verjüngt sich sogar.

    Bei »Ghost Light« sind insgesamt 55 Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne. Wie schwer war es, für dieses künstlerische Programm ein Hygienekonzept genehmigt zu bekommen?

    Wir haben viele Festivals und müssen für jedes einzelne ein eigenes Hygienekonzept erstellen: jetzt gerade für John Neumeier, im November kommt Thomas Hengelbrock mit seinem Ensemble, dann Cecilia Bartoli mit ihrer Opernproduktion. Die Diskussionen reichen von mobilen Test-Stationen, Quarantäne-Maßnahmen und Absprachen mit dem Ordnungsamt – bis hin zur Frage: Wer darf wann in die Kantine?

    Ich sehe schon: Wir müssen wiederkommen. Haben Sie eine Vision, mit welchem Programm?

    Ja! (lacht) Darüber spreche ich nachher mit John. Natürlich habe ich einen Plan fürs Festspielhaus, auch wenn sich durch Corona Verzögerungen ergeben. Kulturinstitutionen müssen sich verändern. Wir als Festspielhaus und auch unser Programm dürfen nicht austauschbar sein. Es geht um Bindungen zum Publikum und zu den Künstlern. In dieser Hinsicht ist John ein großes Vorbild, das belohnt wird: mit Ewigkeitswerten.

    Jörn Rieckhoff