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Abschied von Ann Drower

Sie leitet nicht nur die Vorschulklassen, sondern ist als Ballettmeisterin der Ballettschule verantwortlich für die Einstudierung aller Partien, die von Ballettschüler*innen in den Vorstellungen des Hamburg Ballett übernommen werden. Die Rede ist von Ann Drower. Annie, wie sie von uns liebevoll genannt wird, ist die gute Seele der Ballettschule. Noch heute erinnere ich mich sehr gut an meine ersten Ballettstunden mit ihr. Durch rhythmische Übungen und Improvisationen hat sie mich und viele weitere Kinder behutsam in die Welt des Balletts eingeführt. Nach 44 Jahren verabschieden wir uns von Annie, die zum Ende dieser Saison in den wohlverdienten Ruhestand geht. Grund genug mit ihr ein letztes Interview zu führen und die schönsten Erinnerungen und Momente Revue passieren zu lassen:

Liebe Annie, über 44 Jahre Berufserfahrung liegt hinter dir, beim Hamburg Ballett als Tänzerin und später als Ballettpädagogin für die Ballettschule. Was war das Bemerkenswerteste, das dir in dieser Zeit widerfahren ist?

Annie Drower: Als ich als Tänzerin nach Hamburg kam, durfte ich als eine von acht Tänzerinnen in dem Ballett »Agon« von George Balanchine tanzen. Patricia Neary leitete damals die Einstudierung, ein tolles Erlebnis! Ich kam 1976 nach Hamburg; »Agon« stand in der Saison 1976/1977 auf dem Hamburger Spielplan. Es war also meine allererste Spielzeit beim Hamburg Ballett und dann durfte ich gleich bei einem so schwierigen Stück mittanzen! Die Musik von Igor Strawinsky, ihre Rhythmen, machten »Agon« so herausfordernd. Wir mussten unglaublich viel Zählen – Patricia war bei den Proben streng, sie hat nichts ausgelassen, aber nur so konnten wir George Balanchines wunderbares Ballett gut auf die Bühne bringen. Ich habe sehr viel von ihr gelernt!

Später war ich eine von mehreren Tänzerinnen, die ein Solo in »Le Sacre« tanzen durfte, definitiv eines von meinen Lieblingsstücken von John Neumeier.

Eine weitere besondere Rolle für mich ist die der Königin in John Neumeiers »Dornröschen«. Ich hatte ein Solo, das durch seine Fülle an Emotionen sehr intensiv und beeindruckend war. Die Königin hat zu Beginn des Balletts einen hysterischen Anfall, sie glaubt keine Kinder bekommen zu können. Und dann erblickt sie in einem Spiegel ihr Ebenbild: Es hält ein Kind im Arm. Und sie begreift die Bedeutung, sie wird endlich ein Kind bekommen.

»Der Wechsel zwischen eher klassischen Rollen, Musical-Stilen und starken modernen Stücken wie ›Le Sacre‹ war für sie überhaupt kein Problem. Elegante Damen- und Königinnenrollen waren ihre Stärke, denn sie gab ihnen eine menschliche Dimension.«

John Neumeier zum Abschied von Ann Drower, Ballett-Jahrbuch Saison 2019/2020

Ich blicke auch gerne auf die Einstudierungen von John Neumeiers Balletten zurück, die ich leiten durfte: »Spring and Fall« in Kapstadt zum Beispiel. Ich habe der Compagnie das gesamte Stück beigebracht. Später kam Victor Hughes dazu, der die Einstudierung dann weiter betreut hat. Er hat dann auch die Einstudierung von »Le Sacre« übernommen. »Spring and Fall« habe ich später auch beim English National Ballet mit einstudieren dürfen. Und dann war ich auch an der Einstudierung von »Illusionen – wie Schwanensee« beim Bayerischen Staatsballett in München beteiligt …

Einer der schönsten Momente, an den ich mich gerne zurückerinnere, ist der Tag, an dem John Neumeier mir anbot, mit den ganz jungen Schüler*innen der Vorschulklassen zu arbeiten. Gerne denke ich auch an die vielen Tourneen zurück – ich habe die Schüler*innen begleitet, die in John Neumeiers Balletten auftreten durften. Ich war mit ihnen mehrmals in Japan und Baden-Baden, in Genua, Paris, Costa Mesa und Cagliari, zuletzt in Venedig …

Du bist an der Royal Ballet School in London ausgebildet. Wie bist du nach Hamburg und zu John Neumeier gekommen?

Ich bin als Solistin nach Kiel gegangen, danach tanzte ich in Wuppertal, Krefeld und Hannover. In meiner Zeit in Hannover bin ich immer wieder nach Hamburg gefahren, um Vorstellungen zu besuchen. Dann habe ich vorgetanzt, ich wollte Teil dieser Compagnie werden.

Warum Hamburg? Die Ballette waren toll. Als ich das erste Mal John Neumeiers »Dritte Sinfonie von Gustav Mahler« gesehen habe, war ich wie gebannt! Dieser Moment, wo sich der Vorhang öffnet und das gesamte Männerensemble auf der Bühne steht … dieser Moment ging mir unter die Haut und tut es immer noch!

Wie kam es dazu, dass du die Seiten gewechselt und mit Pädagogik begonnen hast?

Als ich mein erstes Kind bekam, habe ich kurz danach mit dem Tanzen aufgehört. Ich wollte schon immer Kinder unterrichten, und es war eine glückliche Fügung, dass John Neumeier mir die Position als Ballettpädagogin für die Vorschulklassen in seiner Ballettschule anbot.

»Hier kam ihre Persönlichkeit wirklich zum Strahlen! Bei der Arbeit mit ihren Vorschulklassen A, B und C – zahlenmäßig die größten Klassen der Schule – konnte man ihren pädagogischen Instinkt bewundern. Sie war äußerst streng und gleichzeitig liebevoll im Umgang mit den Kindern – eine Art Mary Poppins«

John Neumeier zum Abschied von Ann Drower, Ballett-Jahrbuch Saison 2019/2020

Erinnerst du dich an deinen allerersten Arbeitstag als Ballettmeisterin?

Ja, ich war wirklich sehr nervös. Die Ballettschule war damals noch im ehemaligen Bierpalast an der Dammtorstraße untergebracht. Jetzt steht dort das Cinemaxx. Meine allererste Schulklasse war nicht sehr groß, ich erinnere mich nicht genau, wie viele Kinder es gewesen sind. Uschi Ziegler, die damalige Organisatorische Leiterin der Ballettschule, hat mich an meinen ersten Arbeitstag aufgebaut; sie glaubte an mich und hat mir dabei geholfen die Nervosität in den Griff zu bekommen. Seit meinem ersten Tag als Ballettpädagogin wollte ich nichts Anderes mehr machen. Kinder sind schon immer meine Leidenschaft gewesen.

In all den Jahren hast du so viele Kinder und Jugendliche auf ihrem Weg zum Tänzer begleitet. Hältst du Kontakt zu deinen »Schützlingen«?

Oh ja, ich bin mit vielen von ihnen in Kontakt, sehr oft sogar. Ich finde es schön zu wissen, dass es ihnen gut geht und dass sie glücklich sind, wohin auch immer es sie verschlagen hat.

Ann Drower, John Neumeier und Ballettpädagog*innen bedanken sich nach einem Auftritt bei den Schüler*innen © Kiran West

Was macht deiner Meinung nach einen guten Ballettpädagogen aus?

In den Vorschulklassen sollte man den Kindern Freude am Tanzen vermitteln, aber auch Disziplin. Eine gewisse Strenge ist erforderlich. Man sollte dabei aber immer liebevoll sein. Das Wichtigste ist, dass die Kinder niemals die Lust am Tanzen verlieren.

»Ann Drower hat ein tolles musikalisches und vor allem rhythmisches Feingefühl. Damit konnte sie selbst ganz junge Schüler wie durch ein Wunder zu mathematisch komplizierten rhythmischen Excercisen motivieren. Trotz der Genauigkeit der Bewegungen spürte man jederzeit bei diesen Schülern eine wahnsinnige Freude an dem, was sie machen.«

John Neumeier zum Abschied von Ann Drower, Ballett-Jahrbuch Saison 2019/2020

Welche Voraussetzungen sollte man für das Ballett mitbringen?

Die Kinder sollten musikalisch, rhythmisch und dehnbar sein, dabei auch eine tänzerische Qualität haben. Bei einer Aufnahmeprüfung wird darauf geachtet, ob die Kinder auch die körperlichen Voraussetzungen für eine professionelle Tanzkarriere mitbringen.

Du leitest die ganz »Kleinen« in den Vorschulklassen und betreust gleichzeitig die ganz »Großen« der Ballettschule – mit ihnen studierst du all die Partien ein, die von den Schülern*innen in den Vorstellungen des Hamburg Ballett übernommen werden. Was waren die größten Herausforderungen?

Das ist schwer zu beantworten. Jeder Auftritt ist eine Herausforderung! Bei jedem Auftritt stehe ich hinter der Bühne, manchmal bin ich nervöser als meine Schüler*innen. Wenn zum Beispiel ein Schüler aus der Abschlussklasse kurzfristig und fast ohne Proben für jemanden aus der Compagnie einspringen muss, dann ist das für mich eine echte Nervenpartie!

Auftritt der Ballettschule bei der Benefizgala Intermezzo IX © Kiran West


Eine große Herausforderung war der Auftritt während der Intermezzo-Gala IX, die 2017 in einem echten Zirkuszelt in Hamburg-Bahrenfeld stattfand. Passend zum Motto »Ein Winterzirkus« haben wir mit Schüler*innen der Ballettschule u. a. den Ersten und Vierten Satz von »Eine Reise durch die Jahreszeiten« einstudiert. Die Auf- und Abgänge zur Bühne waren meilenweit weg; ich musste also den Kindern sagen, dass sie sich wesentlich früher für ihren Auftritt bereitmachen mussten. Es gab auch keine Kulissen, hinter denen sie vor ihrem Auftritt warten konnten; sie mussten an den Seitengängen stehen, inmitten des Publikums, das rund um die Bühne verteilt an gedeckten Tischen saß. Am Ende hat alles wunderbar geklappt und es hat allen Beteiligten großen Spaß gemacht.

2019/2020 war für dich die letzte Spielzeit. Was war für dich in den letzten beiden Spielzeiten am Intensivsten?

John Neumeiers 80. Geburtstag: Gigi Hyatt, die Pädagogische Leiterin der Ballettschule, hat für ihn gemeinsam mit allen Ballettpädagog*innen eine wunderbare Collage mit Ausschnitten aus Balletten von John Neumeier zusammengestellt, »80 Tänze für 80 Jahre«. Die gesamte Ballettschule war daran beteiligt! Wir haben das Stück in Petipa, dem größten Ballettsaal im Ballettzentrum, aufgeführt. John Neumeier saß im Publikum. Wenn die kleinen Kinder gerade mal nicht tanzten, mussten sie ganz still und gerade an beiden Seiten des Ballettsaals sitzen – eine große Herausforderung für uns alle!

»80 Tänze für 80 Jahre«. An der Seite warten die Kinder auf ihren Auftritt © Kiran West

Dann die Arbeit an meiner letzten Weihnachtsvorstellung hier im Ballettzentrum. Ich habe ein Stück für meine drei Vorschulklassen choreografiert. Über 60 Kinder waren es – das war eine sehr schöne Zeit!

Der Abschied von dir ist für uns alle schwer. Für mich – und ich spreche sicherlich auch für alle anderen – gehörst du zur Ballettschule des Hamburg Ballett einfach dazu. Wie fühlst du dich?

Eigentlich weiß ich noch nicht richtig, wie es sich anfühlt. Streng genommen hatte ich noch keinen wirklichen Abschied. Aufgrund des Shutdowns, hörte die Saison von einem Moment auf den nächsten einfach auf. Plötzlich durften alle nicht mehr ins Ballettzentrum. Ich werde alles hier sehr vermissen und die Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe.

Hast du Pläne für die Zukunft?

Konkrete Pläne habe ich noch nicht. Ich werde mir zunächst einen kleinen Hund anschaffen! Und viele meiner alten Freunde und Bekannte wiedersehen. Durch meine Arbeit fehlte mir oft die Zeit dazu.

Vielen Dank für das Interview, liebe Annie, und alles Gute für die Zukunft!

Nathalia Schmidt

Fotonachweise: Aufmacherfoto © Kiran West / Foto 1 und 2 (Schwarz-Weiß-Aufnahmen) © Dr. Joachim Flügel