Abschied von Ulrike Schmidt
Nach 30 Jahren verabschieden wir uns von einer ganz besonderen Person: unserer langjährigen Ballettbetriebsdirektorin Ulrike Schmidt. Dreißig Jahre lang leitete sie die Planungen und Geschäfte des Hamburg Ballett und hielt hinter der Bühne die Fäden zusammen. Sie überzeugte mit ihrer einzigartigen Mischung aus Menschlichkeit gepaart mit ihrem scharfen Blick fürs Praktische. Sie hat mit ihrer Art das Hamburg Ballett geprägt und geformt. Im Interview spricht sie über ihren ersten Arbeitstag, besondere Herausforderungen und ihre schönsten Erinnerungen.
Frau Schmidt, erinnern Sie sich an Ihren ersten Arbeitstag beim Hamburg Ballett?
Ulrike Schmidt: Jein. Mein erster Arbeitstag war der 15. September 1991. Der Übergang zwischen meiner vorherigen Tätigkeit bei den Salzburger Festspielen und meiner neuen in Hamburg gestaltete sich nahtlos. Ende August wurde ich in Salzburg verabschiedet, mir blieben also knapp zwei Wochen für den Umzug nach Hamburg. Eine Wohnung hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, also lagerten meine Sachen in Salzburg. Ich bin mit dem Auto nach Hamburg, mit einem kurzen Zwischenstopp am Fuschlsee für eine Abschiedsparty. Ich erinnere mich auch, dass ich noch in Mailand eine von Sir Georg Solti geleitete Aufführung erleben konnte. Schön war, dass ich meine Mitarbeiterin aus den Salzburger Festspielen mit nach Hamburg genommen habe, Cornelia Berger. Wir kamen als Team hierher.
Mich hat sehr erstaunt, dass alle Besucher, die ich in Hamburg getroffen habe, so viel mehr wussten als ich! Und das, obwohl ich mit dem Hamburg Ballett bereits mehrmals zusammengearbeitet hatte: 1991 gab es zum Beispiel ein gemeinsames Projekt in Salzburg, die Uraufführung von John Neumeiers »Requiem« in der Felsenreitschule. John und das Hamburg Ballett waren da, dazu der Chor aus Dresden, wo mein Vorgänger beim Hamburg Ballett hingegangen ist und ich – dieses Projekt war eine Zusammenführung von allen und hat die Veränderung schon eingeläutet.
Fangen wir noch einmal, für unsere Leser, ganz einfach an. Was macht eine Betriebsdirektorin genau?
Wenn das so einfach zu beantworten wäre! Ich habe sehr oft Situationen erlebt, wo ich gedacht habe, dass glaubt kein Mensch, dass ich das jetzt mache! Letzte Woche zum Beispiel: Wir bekommen für jede Nijinsky-Gala tolle Blumensträuße von Home flowers, gestiftet von Uta Herz, die wir den Tänzerinnen und Tänzern nach der Gala auf der Bühne überreichen. Bei der Gala-Vorstellung letzten Sonntag haben die beteiligten Musikerinnen und Musiker spontan entschieden, dass sie zum Schlussapplaus doch mit auf die Bühne kommen möchten. Aber dafür haben wir nicht genügend Blumensträuße gehabt! Die Kolleginnen und Kollegen der Requisite haben die Sträuße, die wirklich sehr groß waren, halbiert, sodass es dann am Ende ausging. Aber irgendwie gab es dann Schwierigkeiten mit der Zählung, sodass Nicolas Hartmann, mein Nachfolger, Konstantin Tselikov, Ballettmeister der Ballettschule, und ich spontan mit anpacken mussten. Wir haben sicher eine halbe Stunde gezählt und arrangiert!
Was eine Betriebsdirektorin macht? 100% meiner Arbeit hat mit Kreativität zu tun, da letztendlich alle meine Gedanken und Ansätze durch die Kreativität geprägt sind. Ich bin ganz nah dran an den Ideen und Gedanken von John Neumeier, die ich dann versuche umzusetzen in der Planung, ins Personal, in das Budget. Man hat ja alles zu verantworten!
Ich habe Sie immer als jemanden erlebt, der dabei ganz nah an den Menschen ist, der zum Beispiel auf Ballettreisen den direkten Austausch sucht und zwischen den Welten vermittelt.
Mein ganzes Leben galt mein Interesse den Menschen! Gleichzeitig war mein Anspruch an mir selbst immer sehr groß, ich wollte etwas schaffen, etwas vorantreiben.
Welches ist Ihre schönste Erinnerung mit dem Hamburg Ballett?
Ich habe so viele Erinnerungen aus den letzten 30 Jahren! Es gab viele emotionale Momente, zum Beispiel die Kreation von »Nijinsky«, die John Neumeier als eine große Aufgabe empfunden hat. Sein Wissen um diese zentrale Figur – er hat eine der größten privaten Sammlungen um Nijinsky und konnte gerade erst persönliche Dinge aus Nijinskys Nachlass erwerben – dieses Wissen ist auch eine Bürde. Wird man dem gerecht? Wie geht man das überhaupt an? John hat sein »Nijinsky«-Ballett quasi in einem Rutsch kreiert. Wenn er das Gefühl hat, dass er auf dem richtigen Weg ist, dann spricht er das nicht einfach aus, nein, er lächelt dann leise. Als ich dieses Lächeln während der Kreation von »Nijinsky« bei ihm gesehen habe, da wusste ich, dieses Ballett wird fertig werden! Mit »Nijinsky« sind wir sehr viel gereist, wir haben Johns Ballett in die Welt gebracht – mit riesigem Erfolg.
Wenn man sich das Ballett von der Seitenbühne aus anschaut und quasi hautnah miterlebt, wie die Tänzerinnen und Tänzer den Geist der Ballets Russes auf die Bühne bringen, dann hat man selbst das Gefühl, die Compagnie der Ballets Russes sei wiederauferstanden und wir seien die Nachfolge-Compagnie.
Mit der »Nijinsky«-Kreation verbinde ich wunderbare tiefe Empfindungsmomente, wie überhaupt wenn ein Ballett neu geschaffen wird. Tolle Erinnerungen habe ich auch an unsere Tourneen, an unsere Kooperation mit dem Festspielhaus Baden-Baden. Auf Tourneen ist man mit den Menschen eng zusammen, man erlebt das Ensemble, aber auch die Kolleginnen und Kollegen ganz anders als hier im Ballettzentrum, wo alle in Büroarbeit vertieft sind. Die Menschen auf und hinter der Bühne waren mir immer wichtig, deswegen habe ich auch die Führungen im Ballettzentrum so gerne gemacht: Ich gehe mit den Teilnehmenden dann in den Ballettsaal, denn nur dort kriegt man direkt mit, was einem beglückt, wofür man arbeitet. Ich bin ein Team-Mensch und kann mich glücklich schätzen, ein so wunderbares Team um mich herum gehabt zu haben. 14 Jahre lang habe ich mit meinem Assistenten Nicolas Hartmann zusammengearbeitet, der nun mein Nachfolger wird, und mit meiner Assistentin Birgit Paulsen; mein Dank gilt ihnen und allen anderen Kolleginnen und Kollegen.
Was war Ihre größte Herausforderung?
Mit einer der größten Herausforderungen war die Bewältigung und das Verstehen der Corona-Pandemie. Ich habe zwei Wochen gebraucht, um zu verstehen, was sie ist, und dann noch einmal zwei Wochen, um mich selbst zu fassen und für die Anderen da sein zu können. Ich bin schon immer ein positiv gestimmter Mensch gewesen, und habe an allem Freude. Diese Freude war erst einmal weg, ich habe nur grau gesehen und konnte am Anfang nur ganz schlecht mit der Pandemie umgehen. Meine Positivität musste ich wiederfinden, und das habe ich, und dann habe ich sie nicht wieder verloren.
John hat sehr darum gekämpft, dass die Compagnie wieder zurück ins Ballettzentrum durfte. Ich erinnere mich an ein Meeting der Administration im Garten des Ballettzentrums, das muss im April 2020 gewesen sein, wo die Tänzer noch von zuhause aus trainieren mussten. John sah uns im Garten und war ganz beglückt darüber, Leben im Ballettzentrum zu sehen. Und dann hat er sich persönlich eingesetzt und dank eines gut ausgearbeiteten Hygienekonzepts hat er es geschafft, dass die Tänzer wieder im Ballettsaal trainieren und proben durften. Für mich war nicht nur extrem herausfordernd persönlich mit der Krise umzugehen, sondern auch mit der Verantwortung für die Menschen im Ballettzentrum. Ich bin dankbar und unglaublich froh, dass wir hier keine schweren Corona-Fälle hatten, und dass in so einem großen Betrieb mit eigener Ballettschule und Internat! So viele Menschen arbeiten hier. Andere Compagnien hatten es da schwerer…
Und ganz privat: Wie haben Sie die Corona-Pandemie erlebt? Gibt es auch positive Dinge, die Sie aus dieser Zeit ziehen?
Für mich war diese Zeit eine gute Vorbereitung auf meinen Abschied, weil ich noch nie so viel zuhause war. Ich habe erlebt, wie Vögel in meinem Garten brüten und die Jungen gefüttert. Das habe ich nie so wirklich wahrnehmen können, da ich beruflich viel unterwegs war. Ich hatte Zeit, um nachzudenken, Bücher zu lesen, Musik zu hören, Theaterstreams anzusehen. Zeit für sich selbst zu haben, das ist in meinem Beruf nicht möglich – es hat mir nicht gefehlt, ich liebe meinen Beruf, aber ich habe es trotzdem genossen. Und ich konnte in dieser Zeit mit vielen Menschen sprechen, und dann ging es eben nicht nur um Nebensächlichkeiten, sondern immer um Tiefe und Inhalt, das fand ich toll!
Wenn ich jungen Menschen vermitteln könnte, was ich in der Pandemie gelernt habe, dann das: Man muss und sollte Dinge tun, wenn man die Chance dazu hat und nicht verschieben. Das habe ich in meinem Leben immer getan, beruflich und privat. Ich habe dadurch kostbare Erfahrungen sammeln dürfen, zum Beispiel durch das viele Reisen. Diese Erfahrungen und Erlebnisse haben mich durch die Pandemie getragen.
Gibt es das Lieblingsballett?
Ich war sehr froh, als ich bei der diesjährigen Nijinsky-Gala ein Pas de deux aus »Othello« noch einmal sehen durfte, weil es eines meiner Lieblingsballette von John ist. »Nijinsky« ist für mich ein Meisterwerk. Auch Klassiker wie »Die Kameliendame« sind wunderschön. In all den 30 Jahren beim Hamburg Ballett und auch schon davor, durfte ich so viele unterschiedliche Besetzungen erleben, die die Ballette immer wieder haben neu aufleben lassen.
Foto: Astrid Elbo und Ryan Tomash (Königliches Ballett Dänemark) tanzen ein Pas de deux aus »Othello« in der Nijinsky-Gala 2021 © Kiran West
Das Tolle bei John ist, dass er auch ganz jungen Tänzern die Chance gibt, führende Rollen zu übernehmen. Ich denke da zum Beispiel an Alessandro Frola, der gerade von der Ballettschule in die Compagnie übernommen wurde und dann als jüngster Lysander überhaupt im Sommernachtstraum tanzen durfte. So etwas vergisst man nicht, vor allem nicht als Tänzer!
Das Traurige ist, dass man sich nach jeder Saison auch von einzelnen Tänzern verabschieden muss. Abschied nehmen ist immer hart, weil man viele liebgewonnen hat und ich beobachte die Tänzerinnen und Tänzer im Laufe der vielen Vorstellungen, die ich miterlebe. Ich kenne die wahrscheinlich alle viel besser als die mich kennen!
Verabschieden müssen wir uns nach 30 Jahren auch von Ihnen. Wie fühlen Sie sich?
Ich bin froh, dass wieder Leben auf die Bühne zurückkehren und ich gemeinsam mit der Compagnie die Hamburger Ballett-Tage miterleben konnte! Ich bin beruhigt, denn ich glaube, dass wir nach den Theaterferien so weitermachen können. Sicherlich wird es noch Einschränkungen im Herbst geben, aber es wird etwas stattfinden, mit Publikum.
Ich wurde auf eine so tolle und persönliche Art und Weise verabschiedet. Das Bundesjugendballett hat eine Vorstellung nur für mich, meine Freunde und Familie gegeben. Dafür bin ich Kevin Haigen sehr dankbar. Kevin war für mich ein besonderer Wegbegleiter, ich habe schon immer die Fähigkeit an ihn geschätzt, den Menschen zu sehen. Er hat mir damit ein großes Geschenk gemacht, das ich nie vergessen werde!
Und auch die kleinen Gesten waren besonders und rührend. So haben sich zum Beispiel viele ehemalige Tänzer bei mir gemeldet und sich für Dinge bedankt, die ich teilweise gar nicht mehr erinnere, die aber für diesen bestimmten Tänzer wichtig waren. Ich habe immer versucht für die Menschen zu denken und zu sehen, wie dieser Dank zurückkommt, ist rührend.
Deswegen habe ich mich an meinem letzten Tag, dem Tag der beiden Nijinsky-Galas, sehr leicht gefühlt. Ich weiß, warum ich das tue, ich finde es wichtig, dass die jungen Leute eine Chance bekommen, sich zu beweisen. Natürlich ist nach 30 Jahren so ein Wechsel schwer, ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es mir leichtfällt loszulassen. Dieser Job hat mein Leben ausgemacht! Es ist nicht einfach, aber ich fühle mich leicht und dankbar.
Und jetzt, wie geht es weiter? Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Erst einmal: Büro aufräumen und dann Ferien! Ich fliege nach Italien, werde auch die Bregenzer und die Salzburger Festspiele besuchen. Dann fahre ich nach Wien, wo das Hamburg Ballett Ende August gastieren wird. Und dann bin ich natürlich zur Saisoneröffnung wieder in Hamburg, weil ich schon jetzt im Amt bin als Kuratorin der Opernstiftung, ab dem 1. November übernehme ich die Geschäftsführung. Ich freue mich auf diese tolle Aufgabe. Sie nimmt zeitlich nicht so viel Anspruch, ich bekomme Unterstützung durch eine Assistenz, und sie gibt mir freie Gestaltung. Ich muss nicht immer im Büro oder in Hamburg sein, ich kann das letztendlich von überall aus machen. Mein Wissen um diese Institution, um die Oper und das Ballett, darf ich in meiner neuen Aufgabe einbringen. Ich werde eine Vermittlerin sein, und so habe ich mich schon immer gesehen. Ich bleibe weiterhin im Vorstand der Stiftung TANZ – Transition Zentrum Deutschland, die gerade erst ihr 10-jähriges Jubiläum feierte. In der kommenden Saison organisiert das Hamburg Ballett zu diesem Jubiläum eine Benefiz-Ballett-Werkstatt, die Spenden gehen an die Stiftung TANZ, die Tanzschaffende ideell und materiell bei ihren beruflichen Übergangsprozessen unterstützt.
Die Opernstiftung existiert seit über 60 Jahren und hat eine tolle Arbeit geleistet. Übrigens, meine allererste Aufgabe hier in Hamburg war, bei einem Gastspiel mit der »Matthäus-Passion« in Dresden, Herrn Dr. Körber anzusprechen, der ehemalige Vorsitzende der Opernstiftung. Ich sollte ihn um Unterstützung bitten für eine Publikation, die anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Hamburg Ballett erscheinen sollte. Jemand Kluges hatte mir noch gesagt, dass ich eine Zahl parat haben sollte, da Herr Körber mich sofort nach einer Zahl fragen würde. Und so war es: Ich habe ihn zum Dinner getroffen und eine der ersten Fragen war: Frau Schmidt, was kostet das? Gott sei Dank war ich darauf vorbereitet! Von Anfang an war die Opernstiftung ein wichtiger Teil und ich freue mich sehr, dass ich noch weiter in diesem Umfeld bleiben und helfen kann, was bestimmt nicht einfach sein wird, denn die Pandemie hat auch finanziell große Lücken hervorgebracht.
Gibt es Hobbys außerhalb der Kunst? Oder Dinge, die Sie in Ihrem neuen Lebensabschnitt machen wollen?
Toll in der Pandemie war, dass man sich den Tag anders einteilen konnte, weil man ja viel zuhause war. Ich habe angefangen täglich Yoga zu machen. Es war schön, sich mehr auf sich zu konzentrieren, zu atmen und den Tag positiv zu beginnen. Ich wohne nahe der Elbe und habe es genossen, an der Elbe zu walken. Ich freue mich auch wieder mehr Fahrrad fahren zu können. Diese Dinge in meinen neuen Alltag zu holen, das ist schön.
Ehrlich gesagt hatte ich noch keine Zeit zu überlegen, was ich in dieser neuen Zeit unbedingt machen möchte. Sicherlich werde ich viel reisen! Das möchte ich auch mit der Opernstiftung – ich möchte weiterhin Ballett- und Opernreisen initiieren, um die Menschen zu binden und ihnen Einblicke zu geben, die man sonst nicht hat. Eine tolle Reise wäre zum Beispiel nächstes Jahr nach Los Angeles, wo das Hamburg Ballett gastieren wird. Diese Reisen sind für uns alle besonders, denn dass, was man auf einer Tournee erlebt, so ganz anders ist. Manchmal sind Kultursenatoren da und erleben, wie die Compagnie von ganz anderen Menschen, in einem ganz anderen Land, geliebt und verehrt wird. Auf Reisen beantworte ich auch Fragen aller Art. Nicht alle kennen sich aus, einmal fragte man mich zum Beispiel, was ein Tänzer tagsüber denn so macht, wenn er abends Vorstellung hat. Die Menschen können nicht wissen, welch harte Arbeit dahintersteckt und ich vermittele dieses Wissen gerne. Letztendlich bindet es die Menschen an uns und das Hamburg Ballett, ich konnte auf diese Weise schon viele Sponsoren gewinnen.
Vielen Dank für das Interview, liebe Frau Schmidt, wir werden Sie hier sehr vermissen!
Nathalia Schmidt