BallettTester*innen »Tod in Venedig«
Als BallettTester*innen durften Elise, Nicolas und Mascha unsere Wiederaufnahme von »Tod in Venedig« bereits in der Hauptprobe erleben. Hier erzählen die BallettTester*innen von ihren Erlebnissen und Eindrücken.
Es herrscht gespannte Konzentration im so ungewohnt leeren Saal der Hamburgischen Staatsoper. Drei Tänzer, noch in Trainingsmontur, darunter der herausragende Louis Musin, gehen im Stillen Schritte des Stücks durch, die sie dabei andeuten. Das Regiepult im Parkett wird gleich voll besetzt sein und in der Mitte die große Legende und der Schöpfer dieses Balletts und der Hamburger Ballettcompagnie sitzen und mit liebevollen, aber prüfenden Argusaugen über sie wachen: John Neumeier.
Die Hauptprobe zur Wiederaufnahme von Neumeiers Stück »Tod in Venedig« steht an. Alle beteiligten Werkstätten sind anwesend für den kompletten Durchgang des Ballettabends, Licht, Bühnentechnik, Regie, Dramaturgie und Ballettmeister*innen. Dunkelheit legt sich über den Zuschauerraum und schon geht es los.
Was folgt, ist ein überragendes, mitreißendes und emotionales Balletterlebnis!
Man blickt auf ein reduziertes Bühnenbild, in dem nur Akzente gesetzt werden. Trotzdem füllt sich durch Requisite, Licht und besonders den Tanz das Bild mit Leben und zu der vollständigen Atmosphäre Venedigs. Fotografien, entstanden in der Lagunenstadt, zeigen schmale Details wie das blau-grüne Wasser oder die Spiegelung einer venezianischen Häuserwand und skizzieren so das mediterrane Lebensgefühl.
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Die Rolle Aschenbachs wird in der A-Besetzung von Edvin Revazov getanzt und er geht völlig darin auf. Mit Hingabe und unglaublicher Authentizität porträtiert er diesen facettenreichen Charakter und berührt dabei jede*n zutiefst. Es scheint, als wäre ihm diese Rolle direkt auf den Leib geschneidert, doch es verhält sich eigentlich genau gegenteilig. Bei der Uraufführung des Stücks 2003 verkörperte er den jungen Tadzio, den Aschenbach so fasziniert. Er hat sich also zur Rolle hin entwickelt, ja mehr noch, er ist hineingewachsen und das mit absoluter Bravour! Die Entwicklung Aschenbachs in dem Verlauf des Stücks ist deutlich spürbar und durch feine choreografische Nuancen dargestellt. Ein besonderes Detail, das mir wahrlich eine Gänsehaut bereitet hat, waren seine Fäuste, die sich an mehreren Stellen des Balletts langsam öffneten, bedeutsam hervorgehoben. Genau so wird Gustav von Aschenbachs pedantische, korrekte und ehrgeizige Haltung zur Kunst und zum Leben im Buch beschrieben, und sein Wandel hin zum erlebten Leben mit all seinen Unberechenbarkeiten und großen Emotionen symbolisieren die entspannten Hände. Auch Tadzio wurde mit Caspar Sasse großartig besetzt. Mit seiner strahlenden, mystisch und mythisch anmutenden Schönheit und der so lebensnahen lebendigen Sprunghaftigkeit und Federkraft der Jugend ist er perfekt für diese Rolle und verleiht ihr gebührend Ausdruck! Die Jungsgruppe um ihn herum war ebenfalls herausragend mit ihrem perfekten Einklang von tänzerischer Höchstleistung und jugendlicher Lebhaftigkeit, beeindruckender Kraft und spielerischen Leichtigkeit.
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»Tod in Venedig« ist ein detailreiches Ballett, das von seiner Vielseitigkeit lebt. Wahnsinnig anspruchsvolle Abfolgen von Hebefiguren, mehrere berührende Pas de troix und große Szenen mit vielen Tänzer*innen sprechen eine äußerst bildgewaltige Sprache und sind alle erstklassig choreografiert, absolut gelungen! All diesen Herausforderungen wird diese phänomenale Compagnie mehr als gerecht. Mit Herz, Leidenschaft und tänzerischem Können erweckt sie dieses Ballett zum Leben. Das Ensemble erschafft eine authentische venezianische Hotelgesellschaft mit all ihren Subebenen an Drama und Konflikten, die angedeutet werden. Und sie tanzt schließlich den Totentanz, eine spektakuläre Erfrischung untermalt mit Heavy Metal Sound, eine eindrucksvolle Hommage an mittelalterliche Vorlagen und mit schauderhaften Verweisen auf die Corona- Pandemie. Die beiden Boten dürfen nicht ungenannt bleiben, die mit ihrer enormen Versatilität überzeugen konnten, hier getanzt von Artem Prokopchuk und Louis Musin.
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Raffiniert und clever kreierte Neumeier imaginäre Pas de deux von Aschenbach, bei dem Tadzios Blick stets entrückt schön bleibt und die Interaktion seltsam zufällig wirkt, doch so gefühlvoll ist. Höhepunkt findet dies in der stürmischen Umarmung, bei der Tadzio mit dem Rücken zum Publikum unerkennbar und irgendwie anonym bleibt, während wir Aschenbachs aufgewühltes Gesicht sehen, als er lange in dieser Umarmung verharrt. Wagners berührendes Stück, gespielt vom meisterhaften David Fray, läuft einfach weiter, bildet die große Bewegung in Aschenbachs Innerem ab, die seinen Körper erstarren lässt. Was eine unglaublich eindringliche, ergreifende Szene!
Neumeiers Ballett ist eine Auseinandersetzung mit Kunstschaffung und ihrer Bedingungen, die in dem vollen Fühlen des Lebens bestehen, eine wirklich fantastische Adaption von Thomas Manns literarischem Werk.
Und dabei zitiert er Nijinsky, der einst sagte: »Man soll Ballett nicht verstehen, man muss es fühlen!«
Elisa, 22 Jahre
Ein letztes Flüstern geht durch den Saal, das Licht dimmt sich und die ersten Töne von Bachs »Das Musikalische Opfer« durchdringen die Stille. Die Hamburgische Staatsoper präsentiert derzeit John Neumeiers Handlungsballett »Tod in Venedig«, eine freie Interpretation der Novelle von Thomas Mann. Ich hatte die Ehre, auf Einladung des Hamburg Ballett bei der Hauptprobe am Freitag, den 07. Februar 2025, dabei sein zu dürfen und als einer der ersten die Wiederaufnahme des Stückes bestaunen zu dürfen.
In den nachfolgenden zweieinhalb Stunden wird eindrucksvoll mit viel tänzerischer Präzision die tragische Geschichte der Figur Gustav von Aschenbach (verkörpert durch Edvin Revazov) geschildert, einem intellektuellen, erfolgreichen, rationalen und alternden Choreografen. Getrieben von geistiger Erschöpfung reist dieser nach Venedig, wo er auf den schönen, jugendlichen Tadzio trifft (dargestellt von Caspar Sasse). Schnell zieht der wesentlich jüngere Tadzio diesen in seinen Bann. Fasziniert von Tadzios Anmut wächst Aschenbachs Bewunderung allmählich zu einer stillen, unerfüllten Liebe. In Tadzio sieht Aschenbach all das, was er an sich selbst vermisst. Während sich die Cholera in der Stadt ausbreitet, kann er sich trotz des Altersunterschieds nicht von dem Jungen trennen. Gefangen in seiner inneren Zerrissenheit verliert er sich zunehmend in seiner Sehnsucht, bis auch er schließlich der Cholera-Epidemie zum Opfer fällt und nach einem physischen und geistigen Verfall zu Tadzios Füßen verstirbt.
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Begleitet wird die Handlung durch eine geschickte Auswahl an Klaviermusik von Richard Wagner, an diesem Nachmittag ausdrucksstark und technisch brillant gespielt von David Fray, und von musikalischen Werken Johann Sebastian Bachs. Doch das Publikum wird nicht nur akustisch verwöhnt, sondern auch von einem ansprechenden, symbolträchtigen Bühnenbild begleitet. Dieses ist minimalistisch, stilvoll und mit ästhetischen naturverbundenen Farben gestaltet. Der Designer Peter Schmidt gestaltete es so, dass einzelne Handlungselemente auch bühnenbildtechnisch akzentuiert werden, ohne von der tänzerischen Leistung abzulenken. Besonders hervorzuheben ist sicherlich die gelungene Auswahl der Fotos, die eigens für die Produktion in Venedig aufgenommen wurden. Auch das Lichtkonzept verstärkt den Kontrast zwischen der Dekadenz Venedigs und Aschenbachs innerer Düsternis. Ebenfalls positiv zu erwähnen sind die schlichten, ästhetischen Kostüme, welche in Zusammenarbeit zwischen John Neumeier und Peter Schmidt entstanden sind.
Neumeiers Interpretation hebt die universellen Themen der Novelle hervor und macht die inneren Konflikte Aschenbachs auch für ein heutiges Publikum greifbar. Dabei gelingt es ihm, zentrale Elemente der Novelle tänzerisch zu erfassen, wobei insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen Aschenbach und Tadzio eindrucksvoll dargestellt wird. Jeder einzelne Tänzer und jede Tänzerin auf der Bühne erzählen eine eigene Geschichte, sodass beim ersten Betrachten des Stücks längst nicht alle Details erfasst werden können. Ein großes Lob gilt den Tänzer*innen, die ausdrucksstark auf einem hohen Niveau eine wunderschöne Choreografie zum Leben erwecken und dafür sorgen, dass Realität und Illusion auf der Bühne zu verschwimmen scheinen.
Ich danke dem gesamten Team der Staatsoper Hamburg und des Hamburg Ballett dafür, dass ich nicht nur bei einer Hauptprobe dabei sein konnte, sondern auch bereits im Voraus diese rundum gelungene und kurzweilige Produktion sehen durfte!
Nicolas, 24 Jahre
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Basierend auf der Novelle nach Thomas Mann aus dem Jahr 1912, deren Titel zunächst scheint, Unheilvolles zu verkünden, hat John Neumeier eine Ballettadaption auf die Bühne gebracht, welche die Seele berührt. Über das Ableben und das Abschiednehmen hinaus, spielen diverse Themen in dem Stück eine Rolle, die wohl dem ein oder anderen Zuschauenden bekannt vorkommen können: Von der Suche nach wahren Überzeugungen, dem stetigen Zweifel seiner selbst, der Leugnung eigener Sehnsüchte bis hin zur scheinbaren Selbstakzeptanz präsentiert Neumeiers Wiederaufnahme des Totentanzes »Tod in Venedig« ein Facettenreichtum an alltäglichen und lebensprägenden Themen.
Eine wahre Stärke dieser Inszenierung liegt in den beeindruckenden Kostümen, die das Publikum in das Venedig der frühen 1900er Jahre entführen. Gepaart mit der darstellerischen Leistung und dem individuellen Ausdruck der Tänzer*innen wirkt es, als könnte jedes venezianische Pärchen eine ganz eigene Geschichte erzählen. Die detailverliebten Kreationen von Neumeier und Peter Schmidt vereinen Eleganz und Melancholie auf bemerkenswerte Weise und spiegeln so Gustav von Aschenbachs innere Zerrissenheit zwischen Melancholie und Sehnsucht wider. Auch das Spiel aus Bühnenbild und Lichtkomposition tragen maßgeblich zum Zauber dieser Aufführung bei. Die Bühne wird durch minimalistische, aber eindrucksvolle Elemente – beispielsweise projizierte Fotografien aus Venedig selbst – geprägt, welche das venezianische Flair perfekt einfangen und präsentieren. Die stimmungsvollen Lichteffekte verleihen dem Geschehen eine fast träumerische Qualität. Besonders in Erinnerung bleibt hier der klug eingesetzte Wechsel der Lichtfarbe. Befindet sich das Publikum in Aschenbachs Fantasien mit Tadzio, wird das Licht plötzlich blau und symbolisiert so, was der Wirklichkeit entspricht und was der Fantasie.
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Tänzerisch bewegt sich die Aufführung auf höchstem Niveau. Die präzisen und emotional aufgeladenen Bewegungen der Compagnie erwecken die inneren Konflikte der Figuren zum Leben. Besonders berührend sind die Interaktionen der Hauptrollen, verkörpert durch Edvin Revazov (Gustav von Aschenbach) und Caspar Sasse (Tadzio), welche die Gefühlswelten, Eigenschaften und Sehnsüchte der Figuren perfekt transportieren. Besonders das Pas de Deux, welches sich in Aschenbachs Fantasie abspielt, reißt das Publikum emotional mit: Jede Geste und jede Drehung zeugen von dessen wachsendem inneren Aufruhr. Jede Begegnung mit Tadzio, elegant und kraftvoll getanzt, ist von einer zerbrechlichen Spannung, Bewunderung und Sehnsucht geprägt – Momente, in denen die Zeit auf der Bühne stillzustehen scheint. Hier zeigt sich Neumeiers Genie in der Choreografie: Er versteht es meisterhaft, psychologische Tiefe durch Körperbewegungen zu vermitteln.
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Untermalt wird der Totentanz durch die liebevolle und prägnante Auswahl der Musik. Der Wechsel zwischen Stücken von Johann Sebastian Bach und Richard Wagner fängt die Atmosphäre des Balletts grandios ein und untermalt die Stimmung zwischen den Tänzer*innen. Gerade die Auswahl von Bachs »Das musikalische Opfer« verkörperte den royalen Anteil der Inszenierung – hier durch den Bezug zu Friedrich dem Großen – auf eindrucksvolle Weise. Demgegenüber wirkt die Auswahl der Wagner’schen Kompositionen, gespielt vom Pianisten David Fray, geradezu „intim“ – ein perfekter Gegensatz zu den imposanteren, orchestralen Stücken Bachs und eine fabelhafte Ergänzung für eine vollkommene musikalische Begleitung des gefühlvollen Balletts.
Diese Adaption von »Tod in Venedig« bleibt noch lange im Gedächtnis haften. Sie verzaubert durch ihre ästhetische Perfektion, die meisterhafte tänzerische Leistung, klug eingesetzte moderne Elemente und die sensible, tiefgründige Regiearbeit Neumeiers. Ein Ballettabend, der sicherlich sowohl Liebhaber*innen klassischer Literatur als auch Tanzenthusiasten jeden Alters gleichermaßen begeistert.
Vielen Dank für diesen unvergesslichen Nachmittag an das Hamburg Ballett und die Staatsoper Hamburg!
Mascha, 24 Jahre