John Neumeier und Gustav Mahler
In unserer Reihe »Das Hamburg Ballett in Zahlen« veröffentlichen wir regelmäßig interessante Zahlen und Fakten rund um das Hamburg Ballett. Was verbirgt sich wohl hinter der heutigen Zahl?
Gustav Mahlers Werke faszinieren Choreografinnen und Choreografen seit Jahrzehnten. Die Poesie seiner Sinfonien und Lieder verlangt geradezu nach Gesten und Bewegungen. Auch für John Neumeier ist die Musik des österreichischen Komponisten eine große Inspiration. Insgesamt 15 Ballette zu Musik von Gustav Mahler hat er bis heute kreiert. Das ist eine ganze Menge! Aber warum eigentlich Mahler?
»Vielleicht ist es die Gegensätzlichkeit, die mich an der Musik Mahlers reizt. Dieses Prinzip scheint mit ähnlich dem Grundprinzip des Tanzes. Mahler führt uns mit seiner Musik in Bereiche, die uns im tiefsten Inneren bekannt sind. Er verführt uns manchmal zuerst durch Trivialitäten (Walzer, Ländler usw.), die wir mögen, aber er benutzt sie wie Brücken, um auf eine metaphysische Ebene zu gelangen. Das ist es, was mich an Mahler fasziniert«, so John Neumeier.
Aufzeichnungen nach einem Gespräch, abgedruckt im Programmheft zu »Dritte Sinfonie von Gustav Mahler«
John Neumeiers Begeisterung für die Musik von Mahler begann 1965, als der Choreograf Kenneth McMillan mit dem Stuttgart Ballett »Das Lied von der Erde« kreierte. John Neumeier war damals noch Tänzer in Stuttgart, er tanzte in der Gruppe und wusste: Mahler ist meiner!
Wirklich los mit Mahler ging es 1974 mit einem Pas de Trois auf den vierten Satz aus der »Dritten Sinfonie«, als Erinnerung an John Cranko in Stuttgart. Nur ein Jahr später, John Neumeier war bereits Direktor in Hamburg, feierte seine Choreografie zur ganzen »Dritten Sinfonie von Gustav Mahler« Uraufführung. Mit der »Dritten Sinfonie« schuf John Neumeier eine neue Form des abendfüllenden Balletts, das sinfonische Ballett. Ein sinfonisches Ballett orientiert sich an einem Orchesterwerk und erzählt keine Geschichte; es sind Bewegungen zur Musik, die im Vordergrund stehen; John Neumeiers Gedanken, Emotionen und Assoziationen beim Hören der Musik von Mahler fließt in diese Kreationen mit ein.
Fast alle Sinfonien wurden von John Neumeier choreografiert, die 1., 3., 4., 5., 6., 7., 9. und 10, um genau zu sein. Immer wieder werden die vergleichsweise kurzen sinfonischen Ballette mit anderen Werken aus seinem Oeuvre kombiniert. Zum Beispiel »All Our Yesterdays«: John Neumeiers »Soldatenlieder (Des Knaben Wunderhorn)«, ebenso zu Musik von Mahler, trifft auf die »Fünfte Sinfonie.«
Dieser Ballettabend ist etwas Besonderes: Er wurde angeregt durch die schönen, hellen Räume des neuen Ballettzentrums, in welches das Hamburg Ballett und die angegliederte Ballettschule 1989 eingezogen sind. Die durchaus sehr anspruchsvolle Kreation war John Neumeiers Geschenk an seine Compagnie zur Einweihung. Immer wieder bestätigt sich, dass gerade die »Fünfte Sinfonie« ein Stück ist, das die Qualität und Kompetenz des gesamten Ensembles zum Strahlen bringt. Und gerade deshalb sollte man sich den Ballettabend »All Our Yesterdays« nicht entgehen lassen. Ein weiterer Grund ist das wunderbare Zusammenspiel von Musik und Tanz, Tanz und Musik. Dieser Eindruck wird zusätzlich verstärkt durch die beiden Sängerinnen und Sänger, die in »Soldatenlieder (Des Knaben Wunderhorn)« gemeinsam mit den Tänzerinnen und Tänzern auf der Bühne stehen und eine Auswahl an Mahlers Liedern aus der Volksliedsammlung »Des Knaben Wunderhorn« zum Klingen bringen. Der Abend ist poetisch und lyrisch, mal melancholisch und traurig, mal humorvoll, optimistisch und hoffnungsvoll. Und vor allem: Ein tänzerischer und musikalischer Hochgenuss!
Nathalia Schmidt