Manchmal beginnt ein Lebensweg nicht mit einem lauten Paukenschlag, sondern mit einem stillen Zufall. So war es bei Jean-Jacques Defago, der seit 1979 ein fester Bestandteil des Hamburg Ballett ist. Bis 2000 tanzte er in John Neumeiers Compagnie, seitdem ist er Mitarbeiter der Abteilung Kommunikation und ist bis heute verantwortlich für die Webseite und digitale Inhalte. Nun ist es Zeit, Abschied von ihm zu nehmen.
Wie alles begann? Jean-Jacques war bereits 18 Jahre alt, als er durch einen Zufall erfuhr, dass es in seinem Geburtstort Monthey, einer Gemeinde im Kanton Wallis in der Schweiz, eine Ballettschule gab. Zwei Stunden Unterricht pro Woche – das war sein Einstieg in eine Welt, die bald sein Leben verändern sollte. Ein Jahr später, mit 19, besuchte er einen Sommerkurs in Cannes am Centre de Danse International von Rosella Hightower. Dort traf er auf die ehemalige Direktorin der Schule, Rosella Hightower, und dann nahm alles Fahrt auf. Sie trat auf ihn zu, beeindruckt von dem, was sie gesehen hatte. Und fragte ihn, auf welcher Ballettakademie er sei. Und er antwortete wahrheitsgemäß, dass er auf eine kleine Schule in einem Schweizer Dorf unterrichtet werde, nicht an einer renommierten Akademie. Als sie ihn fragte, ob er Tänzer werden wollte, zögerte er nicht lange – und sagte dann, ja, das wäre ein Traum, aber es sei unmöglich, wie solle er seinen Eltern sagen, dass er professionell tanzen möchte? Doch Rosella Hightower lächelte nur und sagte: »Sag nichts. Ich werde ihnen schreiben und deinen Eltern versichern, dass du eines Tages einen Job als Tänzer erhalten wirst.« Sie hielt Wort. Drei Wochen später packte er seine Sachen – und zog für drei Jahre zum Tanzstudium an die Ballettschule nach Cannes.
Pas de deux-Klasse beim Centre de danse international Rosella Hightower (Cannes) / Jean-Jacques Defago und Mylène Rathfelder
Nach seiner Ausbildung folgten zahlreiche Vortanzen: Genf, Zürich, Düsseldorf, München, Frankfurt – er hatte überall ein Angebot für ein Engagement. Und doch wartete er auf eine bestimmte Zusage: Hamburg. Damals war das Hamburg Ballett unter John Neumeier der Ort, an den alle wollten. Nur Hamburg ließ sich Zeit. 205 Bewerber*innen kamen damals zum Vortanzen. Er ging zurück nach Genf – und wartete. Dann, drei Wochen später, kam die Antwort. In Form eines Telegramms: »Jean-Jacques Defago. Centre de Dance Cannes. Offer contract letter follows. John Neumeier.« Er war überglücklich. Und Rosella Hightower sollte mit ihrer Aussage Recht behalten.
Telegramm (19.12.1978)
Ein Leben in Bewegung
In Hamburg begann ein neues Kapitel. Und er wollte nie wieder weg. Die Arbeit mit John Neumeier war einzigartig – kreativ, fordernd, inspirierend. Er sagt selbst, dass er nie der Tänzer mit der makellosen Technik war. Bei seinem Vortanzen in Hamburg sei es ihm zum ersten Mal gelungen,die double tours nach links auszuführen. Aber er konnte Geschichten erzählen, Rollen verkörpern, Emotionen auf die Bühne bringen. Und das tat er – über Jahre hinweg – auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper und auf Tourneen weltweit. In seinen 21 Jahren als aktiver Tänzer kreierte John Neumeier mit ihm mehrere Solorollen in seinen Balletten, darunter in »Requiem« und »Matthäus-Passion«.
Zu seinem Repertoire gehörten u. a. eine Hauptrolle in »Tristan« und Soli in »Magnificat« sowie in der »Dritten« und »Fünften Sinfonie von Gustav Mahler«. Er war auch in Balletten von Jerome Robbins, José Limón, Antony Tudor und George Balanchine zu sehen. In späteren Jahren tanzte er häufig noch als Bruder Lorenzo in »Romeo und Julia« oder als Herzog in »Die Kameliendame«.
Mit Anfang 40 wurde es auf der Bühne etwas ruhiger für ihn. Und er fand langsam seinen Weg in andere Bereiche der Compagnie. Zunächst half er in der Presseabteilung aus. Als der damalige Pressesprecher plötzlich zur Metropolitan Opera wechselte – mitten in der Spielzeit – übernahm er kurzerhand dessen Aufgaben. Und das direkt vor einer wichtigen Paris-Tournee im Jahr 2000, bei der die Compagnie John Neumeiers Ballett »Illusionen – wie Schwanensee« im Théâtre du Châtelet tanzte. Er übersetzte Teile des Programmheftes ins Französische. Ganz selbstverständlich. Er musste Yves Saint Laurent in der Vorstellung begleiten und dann auf der Bühne (er kam gleich zweimal zur Vorstellung). Der Modeschöpfer wollte mit John Neumeier sprechen, er war begeistert von seiner Arbeit und interessiert an einer Zusammenarbeit, leider kam es nie dazu. Später wurde Saint Laurent krank und starb 2008. Doch allein die Vorstellung dieser Zusammenarbeit lässt noch heute etwas in Jean-Jacques leuchten.
Ende der 90er-Jahre, das Internet steckte noch in den Kinderschuhen, hielt er zum ersten Mal ein Computer in den Händen. Und sah, dass das American Ballet Theatre eine eigene Website hatte. Kein Profi, keine Agentur hatte sie gestaltet, sondern eine Tänzerin der Compagnie. Er war fasziniert – und wollte das auch. Er lieh sich einen Computer, brachte sich HTML und Webdesign autodidaktisch bei. Was er aufbauen wollte, war mehr als eine Seite mit einer Telefonnummer für den Ticketverkauf. Er wollte mehr: Stückinformationen sammeln, Spielpläne, Biografien der Tänzer*innen und Hintergründe – ein echtes digitales Archiv. 1998 ging der erste Online-Auftritt des Hamburg Ballett live. Komplett selbst erstellt. Nicht programmiert im klassischen Sinn, aber gestaltet, strukturiert, organisiert – aus dem Nichts. Vorlagen oder Templates gab es nicht. Alles war damals noch Handarbeit. Nach etwa 15 Jahren entschied er sich, die Ballettseite mit der Website der Staatsoper zu integrieren. Der Aufwand wurde größer, der Pflegebedarf stieg. Auch visuell war der ursprüngliche Auftritt nicht mehr zeitgemäß. Die Fusion war der logische Schritt. Doch bis zum Sommer 2025 pflegt er die Eingabe der Daten und Informationen selbst.
»Ich bin einfach stur«, sagt er heute. Und meint das als eine seiner größten Stärken. Er sei ohne klassische Ausbildung und vom Alter her recht spät Tänzer geworden, und er habe ohne Vorkenntnisse eine professionelle Website aufgebaut. Was ihn dabei stets begleitet hat: ein Auge für das Visuelle. In Hamburg erlebte er die enge Zusammenarbeit zwischen John Neumeier und dem Designer Peter Schmidt – und lernte viel durch bloßes Beobachten. Warum machte Peter Schmidt etwas so und nicht anders? Dieses Gefühl für Gestaltung hat er sich im Laufe der Jahre angeeignet.
Und jetzt, ein Leben im Dolce Vita? Nicht nur! Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs ist er zwar gerade in Nervi, einem Stadtteil in Genau, wo gerade das Nervi International Ballet Festival stattfindet unter der neuen künstlerischen Leitung von Jacopo Bellussi – ehemaliger Erster Solist des Hamburg Ballett. Aber ein neues Projekt wartet schon: Die Pflege bzw. der Aufbau der Webseite der John Neumeier Stiftung. Dort finden sich bislang nur ein Werkverzeichnis mit Titeln und Jahreszahlen der über 170 Ballette des Choreografen. Er arbeitet daran, die Seite zu erweitern, mit Kontexten, Bildern und Hintergrundinformationen. Weil es wichtig ist und diese Arbeit ihm schon immer großen Spaß gemacht hat.
Lieber Jean-Jacques, danke, dass du über 45 Jahre lang Teil des Hamburg Ballett warst, wir werden dich hier sehr vermissen!
Nach fast zwei Jahrzehnten voller unvergesslicher Bühnenmomente nimmt das Hamburg Ballett Abschied von einem seiner herausragendsten Tänzer: Alexandr Trusch, Erster Solist seit 2014, verlässt zum Ende dieser Spielzeit die Compagnie.
Geboren am 26. Juni 1989 im ukrainischen Dnipropetrowsk, kam Alexandr Trusch bereits in jungen Jahren nach Hamburg, wo er seine Ausbildung an der Ballettschule des Hamburg Ballett absolvierte. Geprägt von seinen Lehrer*innen Kevin Haigen, Marianne Kruuse, Christian Schön und Irina Jacobson entwickelte er früh eine tänzerische Ausdrucksstärke, die ihn bald zum Publikumsliebling machen sollte.
Seine enge künstlerische Beziehung zu John Neumeier begann bereits während der Schulzeit, als dieser eine Schulversion von »Romeo und Julia« choreographierte – Alexandr Trusch tanzte darin die Rolle des Romeo. Später interpretierte er dieselbe Rolle in der Compagnie – der Beginn einer intensiven und langjährigen Zusammenarbeit.
Als Romeo an der Seite von Florencia Chinellato in John Neumeiers »Romeo und Julia« Foto: Holger Badekow
2007 trat er dem Ensemble des Hamburg Ballett bei, wurde 2010 Solist und 2014 zum Ersten Solisten befördert. In diesen Jahren interpretierte Trusch zahlreiche Rollen und formte seinen unverwechselbaren Stil – eine eindrucksvolle Verbindung aus technischer Präzision und emotionaler Ausdruckskraft. Bereits 2010 wurde er mit dem Dr. Wilhelm Oberdörffer-Preis ausgezeichnet – eine frühe Anerkennung und ein Zeichen seines großen Potenzials, das er in den folgenden Jahren weiter ausbaute.
Mit Hélène Bouchet als Der Prinz in John Neumeiers »A Cinderella Story« Foto: Holger Badekow
Ein besonderer Schwerpunkt seines Schaffens lag in der Zusammenarbeit mit John Neumeier. Neben bedeutenden Kreationen wie Vladimir Lensky in »Tatjana«, einem Engel im »Weihnachtsoratorium I–VI« sowie Prinz Désiré in der Neufassung von »Dornröschen« (2021) verkörperte Trusch zahlreiche Hauptrollen in Wiederaufnahmen des Hamburg Ballett. Unvergessen bleibt er als der labile König in »Illusionen – wie Schwanensee«, der ambivalente Herzog Albert in »Giselle« und der melancholische Prinz in »A Cinderella Story«. Ebenso prägend war er als der charismatische und zugleich in sich gespaltene Vaslaw Nijinsky in »Nijinsky«, der aristokratische Armand Duval in »Die Kameliendame«, der listige Odysseus in »Odyssee« sowie der schelmische Puck in »Ein Sommernachtstraum«.
Als Puck in John Neumeiers »Ein Sommernachtstraum« Foto: Kiran WestIn der Titelrolle von John Neumeiers »Odyssee« Foto: Kiran West
Seine unverkennbare Virtuosität und Vielseitigkeit kamen in klassischen, neoklassischen sowie zeitgenössischen Kreationen zum Ausdruck – etwa als Basil in Rudolf Nurejews »Don Quixote«, Gennaro in August Bournonvilles »Napoli«, als George Balanchines »Der verlorene Sohn« oder Prinz Florizelin Christopher Wheeldons »The Winter’s Tale«. In der noch laufenden Spielzeit brillierte er in Hauptrollen von Hans van Manens »Variations for Two Couples«,William Forsythes »Blake Works V (The Barre Project)«, Justin Pecks »THE TIMES ARE RACING«, Demis’ Volpis »The thing with feathers«sowie in der jüngsten Kreation »Silentium« von Edvin Revazov, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Leon Gurvitch Ensemble, für das Hamburger Kammerballett.
Mit Madoka Sugai in Hans van Manens »Variations for Two Couples« Foto: Kiran West
Im Rahmen der50. Hamburger Ballett-Tage ist Alexandr Trusch zum letzten Mal in der Titelpartie von John Neumeiers »Nijinsky« (15. Juli) zu erleben. Darüber hinaus tanzt er am 17. Juli und 19. Juli in den beiden erfolgreichen Premierenproduktionen der Spielzeit, »THE TIMES ARE RACING« (17. Juli) und »SLOW BURN« (19. Juli), sowie in der Nijinsky-Gala L(20. Juli), dem feierlichen Abschluss der Festtage und der Spielzeit 2024/25.
Lieber Sascha, wir sagen Danke für die Inspiration und die Schönheit, die Du uns mit Deinem Tanz geschenkt hast! Für Deinen weiteren Weg wünschen wir Dir alles Gute!
Als stürmischer Romeo, leidenschaftlicher Armand oder verführerischer Wronski – Jacopo Bellussi hat zahlreichen Figuren mit darstellerischer Tiefe und technischer Brillanz Leben eingehaucht. Nach über einem Jahrzehnt am Hamburg Ballett verabschiedet sich der italienische Tänzer nun von der Compagnie: Am 1. Juni 2025 wird er in einer seiner Paraderollen – als Romeo in John Neumeiers »Romeo und Julia« – ein letztes Mal mit dem Hamburg Ballett auf der Bühne stehen.
Jacopo Bellussi und Ana Torrequebrada als »Romeo und Julia«
1993 in Genua geboren, wurde Bellussi an der Accademia Teatro alla Scala in Mailand und an der Royal Ballet School in London ausgebildet. Nach einem Engagement beim Bayerischen Staatsballett II wechselte er 2012 zum Hamburg Ballett, wo er 2017 zum Solisten und 2019 zum Ersten Solisten avancierte.
Jacopo Bellussi und Ida Praetorius in John Neumeiers »Die Kameliendame«
Für das Ballett »Tatjana« schuf John Neumeier für Jacopo Bellussi eigens eine Figur, die wiederum an eine Romanfigur angelehnt ist, wie sie in den von Tatjana gelesenen Romanen vorkommt. Darüber hinaus kreierte Neumeier für ihn den Freund des Soldaten (Annunzio Cervi) in »Duse« und Ein Geistlicher in »Dona Nobis Pacem«, sowie Soli in »Ghost Light«, »Beethoven-Projekt I und II«, »Peter und Igor« und »Epilog«.
Jacopo Bellussi und Aleix Martínez in »Beethoven-Projekt II«
Sein umfangreiches Repertoire umfasst Hauptrollen in Balletten von John Neumeier, darunter Romeo und Graf Paris in »Romeo und Julia«, Armand Duval, Gaston Rieux und Des Grieux in »Die Kameliendame«, Graf Alexej Wronski in »Anna Karenina«, Ihr Mann in »Weihnachtsoratorium I-VI« und Prinz Désiré in »Dornröschen« (Neufassung 2021) sowie Lysander in »Ein Sommernachtstraum«. Darüber hinaus tanzte er führende Solorollen in Werken von wegweisenden Choreograf*innen wie George Balanchines »Brahms-Schoenberg Quartet« , Hans van Manens »Variations for Two Couples«, Jerome Robbins‘ »Dances at a Gathering« und Pina Bauschs »Adagio«.
Jacopo Bellussi und Xue Lin in »Anna Karenina«
Neben seinem Wirken am Hamburg Ballett zeichnete er sich durch zahlreiche internationale Gastauftritte und ein starkes gesellschaftliches Engagement aus. In seiner Heimatstadt Genua organisierte er mehrfach Wohltätigkeitsgalas deren Erlöse lokalen sozialen Projekten zugutekamen. 2024 wurde er für seinen kulturellen und gesellschaftlichen Beitrag zur Stadt mit dem Titel »Botschafter Genuas in der Welt« ausgezeichnet.
Jacopo Bellussi und Alessandro Frola in »Peter und Igor«
Für seine künstlerischen Leistungen wurde er vielfach ausgezeichnet – mit dem Premio Danza&Danza 2016 als bester italienischer Tänzer im Ausland, dem Konstanze-Vernon-Preis 2019, dem Premio Nazionale Sfera d’Oro per la Danza 2021, dem Premio Positano Léonide Massine 2022 und zuletzt mit dem Premio Internazionale per la Danza Città di Foligno 2024.
Jacopo Bellussi und Edvin Revazov in John Neumeiers »Dritte Sinfonie von Gustav Mahler«
Im Sommer 2025 kuratiert er das Nervi International Ballet Festival als Künstlerischer Leiter und wird Tanz und Kultur an der italienischen Riviera mit derselben Leidenschaft, künstlerischen Integrität und Hingabe gestalten, die ihn auf der Bühne stets ausgezeichnet haben. Seine aktive Tänzerkarriere setzt Jacopo Bellussi unter anderem als Gast-Principal beim Ballet de l’Opéra national du Capitole in Toulouse fort, wo er seit September 2024 unter Vertrag ist.
Ein herzliches Toi, Toi, Toi, lieber Jacopo, für Deine kommenden künstlerischen Pfade!
Das Jahr neigt sich dem Ende zu ‒ Zeit, innenzuhalten und das vergangene Jahr Revue passieren zu lassen; Zeit, uns an seine großen Momente zu erinnern. Für das Hamburg Ballett war das Jahr 2024 ein besonders bewegendes, ereignisreiches und emotionsgeladenes, denn es markierte das Ende der 51-jährigen Äravon John Neumeier als Intendant und Chefchoreograf des Hamburg Ballett und den Beginn einer neuen Zeit mit Demis Volpi an der Spitze der 63-köpfigen Compagnie und der angeschlossenen Ballettschule des Hamburg Ballett.
Januar 2024
Der Beginn des Jahres wurde mit einer repräsentativen Auswahl an Balletten aus John Neumeiers über 170 Werke umfassenden Oeuvre eingeläutet: Neben dem Allzeitklassiker »Der Nussknacker« standen Signaturstücke wie »Die Kameliendame« und »Illusionen – wie Schwanensee« sowie neuere Werke wie das intime, während der Pandemie entstandene und mit dem Opus Klassik ausgezeichnete Ballett »Ghost Light« auf dem Programm.
»Die Kameliendame« Foto: Kiran West
»Ghost Light« Foto: Kiran West
Ende des Monats hatte die Ballettschule des Hamburg Ballett allen Grund zu feiern: Der Amerikaner Quinn Bates, Schüler der Abschlussklasse XIII, wurde am 31. Januar für seine Choreografie »Groovin« als einer der beiden Gewinner*innen des Young Creation Award des internationalen Ballettwettbewerbs Prix de Lausanne 2024 gekürt. Es war das dritte Mal in den vier Jahren des Bestehens des choreografischen Wettbewerbs, dass ein Mitglied der Ballettschule des Hamburg Ballett den renommierten Preis erhielt!
Miguel Artur Alves Oliveira in Quinn Bates Gewinner-Choreografie »Groovin« Foto: Silvano Ballone
Februar 2024
Anlässlich seines 85. Geburtstags am 24. Februar brachte John Neumeier sein fast 30 Jahre altes, vom Homerischen Epos inspiriertes Werk »Odyssee« auf die Bühne der Hamburgischen Staatsoper zurück – als letzte Wiederaufnahme seiner Amtszeit. Das Ballett zur 10-jährigen Irrfahrt des mythischen Helden wurde 1995 auf Einladung des Athener Opern- und Konzerthauses Megaron zur Auftragsmusik des griechischen Komponisten George Couroupos und der Ausstattung von Yannis Kokkos kreiert.
»Odyssee« von John Neumeier
Am nächsten Tag wurde der Zuschauersaal der Staatsoper in ein Kino verwandelt: Das Publikum konnte bei freiem Eintritt die ARTE-Dokumentation »John Neumeier – ein Leben für den Tanz« als exklusive Preview erleben. In der einfühlsamen Dokumentation blickt John Neumeier auf über 60 Jahre in der Welt des Tanzes zurück, erst als Balletttänzer, dann als Choreograf und später als Intendant des Hamburg Ballett und international agierender Tanzschaffender. Das zeitlose Filmporträt wurde beim 61. Golden Prague Festival mit dem Czech Television Prize ausgezeichnet.
John Neumeier bei der Neueinstudierung von »Vaslaw« in Paris Foto: Thomas Frischhut
März und April 2024
Der Frühling stand im Zeichen jugendlicher Kreativität: Anfang März hob sich im Ernst Deutsch Theater der Vorhang für die »Werkstatt der Kreativität XIV« der Absolvent*innender Ballettschule des Hamburg Ballett, die 33 umfassend gestaltete Tanzkompositionen vorstellten. Im April präsentierten 17 »Junge Choreograf*innen« des Hamburg Ballett ihre Kreationen im LichtWark in Bergedorf.
»Werkstatt der Kreativität XIV« Foto: Silvano Ballone
»Junge Choreografen« 2024 Foto: Kiran West
Am 13. April wurde die SolistinAna Torrequebrada von der Stiftung zur Förderung der Hamburgischen Staatsoper im Rahmen des Operndinners mit dem Dr. Wilhelm Oberdörffer-Preis für ihre außergewöhnlichen tänzerischen und darstellerischen Leistungen geehrt.
Ana Torrequebrada in John Neumeiers Ballett »Epilog« Foto: Kiran West
Mai 2024
Der Mai war ein Monat glänzender Gastauftritte: Die Starsolistinnen Olga Smirnova und Alina Cojocaru gastierten jeweils in der Titelrolle von »Anna Karenina« und in der Hauptrolle von Laura Rose Wingfield in »Die Glasmenagerie«.
Olga Smirnova in »Anna Karenina« Foto: Kiran West
Alina Cojocaru in »Die Glasmenagerie« Foto: Kiran West
Hamburg Ballett selbst wiederum war in der Tivoli Concert Hall in Kopenhagen zu Gast mit dem Galaprogramm »The World of John Neumeier«.
»The World of John Neumeier« in Kopenhagen. Foto: Kiran West
Finale von »The World of John Neumeier« in Kopenhagen. Foto: Kiran West
Juni und Juli 2024
Die beiden letzten Monate der Saison 2023/24 waren geprägt von John Neumeiers Abschied nach 51 Jahren als Chefchoreograf und Ballettintendant des Hamburg Ballett.
Am 9. Juni erhielt John Neumeier den Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste im Konzerthaus Berlin. Nach Pina Bausch ist er der zweite Vertreter der Tanzkunst in der traditionsreichen Geschichte des Ordens. Im Rahmen der Verleihung interpretieren Ida Praetorius und Alexandr Trusch John Neumeiers Beethoven-Pas de deux »Persistent Persuasion« und das Bundesjugendballett »Opus 67« von Raymond Hilbert. Neben zahlreichen prominenten Gästen nahm auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als »Protektor« des Ordens am Festakt teil.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (rechts) und der Kanzler des Ordens Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Hermann Parzinger (links) zusammen mit den aufgenommenen Mitgliedern Prof. Dr. h. c. John Neumeier und Prof. Dr. h. c. Heinrich Detering Foto: Andreas Amann
»Persistent Persuasion« Foto: Kiran West
Am 30. Juni wurden die 49. Hamburger Ballett-Tage mit der Uraufführung von John Neumeiers Ballett »Epilog« eingeläutet ‒ ein intimes, kammermusikalisch angelegtes Werk für das Ensemble, das er jahrzehntelang geprägt und zu Weltruhm geführt hat, und ein bewegender Abschluss seiner Schaffenszeit in Hamburg.
»Epilog« von John Neumeier
Zu Ehren des Endes von John Neumeiers Ballettintendanz luden der Erste Bürgermeister Dr. Peter Tschentscher und der Senator für Kultur und Medien Dr. Carsten Brosda am 4. Juli zu einem Senatsfrühstück ein.
Hamburgs Erster Bürgermeister Dr. Peter Tschentscher, John Neumeier und Senator für Kultur und Medien Dr. Carsten Brosda Foto: Kiran West
Der letzte Vorhang nach der glanzvollen Nijinsky-Gala XLIX am 14. Juli markierte auch das große Finale von John Neumeiers 51-jähriger Ära als Chefchoreograf und Ballettintendant des Hamburg Ballett. Es war der Höhepunkt und Abschluss seiner letzten Spielzeit und der 49. Hamburger Ballett-Tage mit zwei Wochen unvergesslicher Momente: 11 Vorstellungen des Hamburg Ballett, zwei Gastaufführungen des Birmingham Royal Ballet, »Die Unsichtbaren« des Bundesjugendballett im Ernst Deutsch Theater und ein Gesprächsabend mit Bischöfin Kirsten Fehrs und John Neumeier im Hamburger Michel.
John Neumeier inmitten seiner Tänzer*innen nach der Nijinsky-Gala XLIX Foto: Kiran West
Nach dem bewegenden Saisonabschluss in Hamburg fand das letzte Gastspiel unter der Intendanz von John Neumeier statt. Auf über 1000 Gastspiele kann das Hamburg Ballett in den fünf Jahrzehnten zurückblicken! Am 19. und 20. Juli tanzte die Compagnie im Open-Air-Theater in Nervi, nahe der italienischen Stadt Genua, John Neumeiers Erfolgsballett »Ein Sommernachtstraum«.
»Ein Sommernachtstraum« in Nervi Foto: Kiran West
Beim Schlussapplaus Foto: Kiran West
August 2024
Am 1. August 2024 trat der deutsch-argentinische Choreograf Demis Volpi die Nachfolge John Neumeiers als Intendant des Hamburg Ballett und Direktor der Ballettschule des Hamburg Ballett an. Demis Volpi war von 2020 bis 2024 Ballettdirektor und Chefchoreograf des Ballett am Rhein und begeisterte das dortige Publikum durch ein abwechslungsreiches Repertoire aus Handlungsballetten und mehrteiligen Abenden sowie zahlreichen Neukreationen. Als neuer Intendant wird er dem Publikum und der Compagnie neue künstlerische Impulse anbieten, Choreograf*innen mit anderen Tanzperspektiven präsentieren und zugleich die Tradition und beeindruckende Bandbreite von John Neumeiers Werk gegenwärtig halten. Zudem wird die Kunstform des Tanzes durch die Etablierung neuer Vermittlungsformate über die Bühne hinaus für alle Menschen erreichbar und erlebbar gemacht.
Am 26. August war der erste Arbeitstag der Spielzeit 2024/25 für das Hamburg Ballett. Der neue Intendant Demis Volpi begrüßte die Tänzer*innen und Mitarbeiter*innen im Ballettsaal Petipa im Ballettzentrum.
26. August 2024: Erster Tag der Spielzeit 2024/25 Foto: Kiran West
September 2024
Der September war der Monat der großen Anfänge: Am Auftaktwochenende des 14. und 15. Septembers stellte sich Demis Volpi gleich zweimal dem Hamburger Publikum vor: Im Rahmen der 20. Hamburger Theaternacht waren Solist*innen des Hamburg Ballett auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper mit Demis Volpis Stücken »Winter«, »Surrogate Cities« und »Allure«zu sehen. Die Ballettschule des Hamburg Ballett öffnete die Türen des Ballettzentrums und empfing die zahlreichen Gäste mit einem kontrast- und umfangreichen Programm. Ein Highlight der diesjährigen Theaternacht war die Premiere der neuen interaktiven Vermittlungsprogramme »Tanz für Mich« und »Inside Out«, die zum Mittanzen animierten und für große Begeisterung beim Publikum sorgten.
Anna Laudere und Edvin Revazov in Demis Volpis »Winter« Foto: Kiran West
»Tanz für Mich« Foto: Melanie Dreysse
Am 15. September fand die erste Ballett-Werkstatt der neuen Saison und neuen Intendanz statt. Demis Volpi begrüßte das Publikum und gab gemeinsam mit den Mitwirkenden spannende Einblicke in den Arbeitsprozess zur Premiere »The Times Are Racing«. Mit den insgesamt vier Ballett-Werkstätten, die im Laufe der Spielzeit stattfinden, knüpft Demis Volpi an die beliebte Tradition der Ballett-Werkstätten an, die 1973 von John Neumeier ins Leben gerufen wurden.
Demis Volpi bei der Ballett-Werkstatt I Foto: Kiran West
Am 28. September eröffnete Demis Volpi seine erste Spielzeit in der Hamburgischen Staatsoper mit der umjubelten Premiere von »The Times Are Racing«. Der vierteilige Ballettabend, bestehend aus Pina Bauschs »Adagio«, Hans van Manens »Variations for Two Couples«, Demis‘ Volpis »The thing with feathers« und Justin Pecks »The Times Are Racing«, nahm das Publikum mit auf einen Streifzug durch 50 Jahre Ballettgeschichte. Die Premierenserie wurde enthusiastisch aufgenommen und stimmte auf eine erfolgreiche erste Saison des neuen Intendanten ein.
»The thing with feathers« von Demis Volpi
Oktober 2024
Vom 3. bis zum 13. Oktober fand das erste Gastspiel der Saison unter der neuen Intendanz von Demis Volpi im Rahmen des Festivals „The World of John Neumeier“ in Baden-Baden statt. Das Programm umfasste Aufführungen von John Neumeiers Balletten »Endstation Sehnsucht« und »Die Glasmenagerie«, die Vorstellung der Ballettschule »Absprung IV« sowie die Uraufführung »The Hills We Climb« des Ersten Solisten Edvin Revazov mit dem Bundesjugendballett und dem Hamburger Kammerballett. Diese Produktion entstand im Rahmen der Förderung durch den von der Hapag-Lloyd Stiftung finanzierten John-Neumeier-Preis für Choreografie, der 2023 an Edvin Revazov verliehen wurde.
»Endstation Sehnsucht« Foto: Kiran West
»The Hills We Climb« Foto: Kiran West
November 2024
Am 10. November fand die zweite Ballett-Werkstatt der Saison unter der Intendanz von Demis Volpi als Benefizveranstaltung zugunsten der Organisation Hamburg Leuchtfeuer statt. Die zweistündige Werkschau widmete sich thematisch der Premiere des zweiteiligen Ballettabends »Slow Burn«.
Demis Volpi mit der Solistin Futaba Ishizaki bei der Ballett-Werkstatt II Foto: Kiran West
Dezember 2024
Am 8. Dezember feierte das Hamburg Ballett die zweite Premiere der Spielzeit. Mit dem zweiteiligen Ballettabend»Slow Burn«, bestehend aus der titelgebenden Uraufführung»Slow Burn« von Aszure Barton und der Deutschlandpremiere vonWilliam Forsythes»Blake Works V (The Barre Project)«, präsentierte das Hamburg Ballett zwei sehr unterschiedliche, aber gleichermaßen tiefgehende Auseinandersetzungen mit der emotionalen Ausdruckskraft des Tanzes.
»Slow Burn« von Aszure Barton
Der Premierenapplaus war noch nicht verhallt, da fand bereits einen Tag später zum ersten Mal auf der großen Bühne der Staatsoper die traditionelle Weihnachtsfeier der Ballettschule des Hamburg Ballett statt. Die gesamte Ballettschule – von den Jüngsten der Vorschule über die Ausbildungsklassen bis zu den Absolvent*innen der Theaterklassen – stimmten mit einem bunten Tanzkaleidoskop auf die Festtage ein.
Szene aus der Weihnachtsfeier der Ballettschule des Hamburg Ballett Foto: Kiran West
Für das Hamburg Ballett geht ein besonders aufregendes, ein einschneidendes Jahr zu Ende ‒ ein Jahr, das uns große Veränderungen und außerordentlich mitreißende Momente beschert hat. Nun blicken wir mit Spannung und voller Vorfreude auf ein ebenso erfüllendes und spektakuläres neues Jahr 2025!
Mit »Die Unsichtbaren« hat John Neumeier eine Tanz-Collage für das Bundesjugendballett geschaffen, die die aufblühende Tanzszene Deutschlands in den 1920er Jahren darstellt bis die »Machtübernahme« der Nationalsozialisten den künstlerischen Aufschwung zunichtemachte. Als Tanzhistoriker hat Ralf Stabel John Neumeier bei seiner Inszenierung wissenschaftlich beraten und bei der dramaturgischen Arbeit unterstützt. Im Interview erzählt er über die Hintergründe seiner Recherche, seine Erkenntnisse und die Herausforderungen dabei.
Sie haben sich als Theaterwissenschaftler und Tanzhistoriker bereits viel mit der aufblühenden deutschen Tanzszene in den 1920er Jahren beschäftigt und unter anderem Bücher über Alexander von Swaine und Gret Palucca veröffentlicht. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit John Neumeier?
Ralf Stabel: John Neumeier hatte die Idee für eine Inszenierung über die Tänzer*innen, die in der Zeit des Nationalsozialismus von Ausgrenzung, Verfolgung und an Leib und Leben bedroht waren. Wir sprachen miteinander und sehr schnell wurde klar, dass das Wesentliche dieser Situation ihre Unsichtbarkeit war. Daher der Titel. Die weitere Zusammenarbeit ergab sich dann ganz selbstverständlich, weil es nun darum ging, »Die Unsichtbaren« aufzufinden und einige von ihnen, stellvertretend für sehr viele, in der Inszenierung wieder sichtbar zu machen. Das »wissenschaftliche« Suchen war meine Aufgabe. John Neumeier hat dann unter Verwendung der Fakten diese ergreifende Inszenierung geschaffen.
Was war für Sie persönlich die größte Herausforderung bei dem Projekt »Die Unsichtbaren«?
Von menschlichen Schicksalen zu hören oder zu wissen, ist eine Sache. Sich aktiv auf die Suche zu begeben und dann auch im Detail Lebens- und vor allem Leidenswege kennen zu lernen, um sie zu beschreiben, hat eine ganz andere Dimension. Das ist die menschliche Seite. Die wissenschaftliche Herausforderung bestand und besteht darin, dass man nach Menschen sucht, von denen man nichts weiß. Wo und wie fängt man da an? Über diejenigen, die damals im Rampenlicht standen, lässt sich vieles finden. Aber es gibt wenig Publiziertes oder nur schwer auffindbares Dokumentarisches über diejenigen, die entlassen und ausgegrenzt wurden, die emigrieren mussten, die deportiert oder gar ermordet wurden.
Für die Produktion haben Sie viele Nachforschungen angestellt, um die »Unsichtbaren« also all die Menschen aus der Welt des Tanzes, die während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur aus Deutschland fliehen mussten oder dort ausgegrenzt, verfolgt und im schlimmsten Fall ermordet wurden, sichtbar zu machen. Wie sind Sie bei Ihrer Forschung vorgegangen?
Zuerst habe ich ganz klassisch versucht, Publikationen zu Einzelschicksalen zu finden. Dann waren verschiedene Lexika, die sich mit dem Thema Flucht und Exil beschäftigen, hilfreich. In Fachzeitschriften gab es vereinzelt Publikationen zum Thema. Das Internet ist mit seinem Informationsangebot eine Hilfe. Doch schnell stellte sich heraus, dass dieses Thema ein noch überwiegend unbearbeitetes Feld war und ist. So musste ich nach ganz anderen Quellen suchen. Es lassen sich Schicksale anhand der verlegten Stolpersteine rekonstruieren, und es gibt auch das Gedenkbuch des Bundesarchivs, das die »Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland« auflistet. Aber die Auflistungen sind nicht in Berufsgruppen unterteilt bzw. fehlt diese Information meist. Stellen Sie sich also bitte vor, dass Sie nach jemandem suchen, von dem Sie nichts wissen, außer dass sie oder er im Bereich Tanz beschäftigt war und verschwunden ist. Sie haben aber keinen Namen, keinen Beruf, kein Alter, keine Adresse … nichts. Ich habe dann angefangen, die Bühnenjahrbücher dieser Zeit zu vergleichen, um herauszufinden, wer von einem Jahr auf das andere »verschwunden« ist. Die Zeitschrift »Der Tanz« liefert ebenso Informationen über Menschen in dieser Zeit. Man muss ein Gespür für das Verschwinden von Menschen entwickeln und dann versuchen, ihren weiteren Lebensweg zu recherchieren. Der führte dann für viele in die jüdischen Kulturbünde, ins Exil, in den Untergrund, ins Gefängnis oder auch in die Konzentrations- und Vernichtungslager.
Wie viele Schicksale von Menschen konnten Sie recherchieren und inwiefern sind diese in die Produktion miteingeflossen?
Wir haben im Zusammenhang mit der Inszenierung »Die Unsichtbaren« eine Memorial Wall entworfen, auf der die Namen von Betroffenen alphabetisch und mit dem Wissen um die Unvollständigkeit dieser Auflistung zusammengetragen sind. Diese Erinnerungswand wird es auch in Baden-Baden zu sehen geben, und sie ist ebenso im Internet einsehbar. Für die Internet-Präsentation bemühe ich mich, zu jedem einzelnen Menschen Biografisches zur Verfügung zu stellen und hoffe, dass sich weitere Interessierte finden, die sich an dieser Recherche-Arbeit beteiligen. Eigentlich wäre ein internationales Team notwendig, denn durch den damaligen Krieg ist es ein europäisches Thema, durch die Exile hat es eine internationale Dimension. Derzeit sind 274 Schicksale aufgelistet. John Neumeier lässt einige dieser Tänzer*innen auftreten, andere werden zitiert, über wieder andere wird berichtet. Am Ende der Inszenierung werden alle bisher bekannten Betroffenen von den Darsteller*innen mit Namen benannt.
In der Tanz-Collage werden viele historische Originaldokumente wie Briefe, Erlasse oder Reden verwendet und von den Schauspieler*innen und Tänzer*innen als Text rezitiert. Weitere Texte wurden von Ihnen verfasst. So auch ein Tribunal, bei welchem sich die Tänzerin Mary Wigman einer fiktiven Gerichtsverhandlung über ihre möglichen Verstrickungen in das System des Nationalsozialismus stellt. Inwiefern lassen sich aus heutiger Perspektive überhaupt Urteile über die Frage von Schuld fällen?
Urteile zu fällen, ist im engeren Sinn eine Aufgabe von Juristen. Wir können uns aber zu der Frage der individuellen Verantwortung verhalten. Ich schreibe Bücher deshalb in der Zeitform der Gegenwart, weil ich in der Darstellung nicht klüger sein möchte, als der Mensch, der in einer konkreten Situation handeln muss. Dadurch besteht auch die Identifikationsmöglichkeit für die Leser*innen: Wie hätte ich mich denn verhalten? Wir sollten uns fragen: Was konnten die Tänzer*innen 1933 zur »Machtergreifung« wissen, was 1936 zu den Olympischen Spielen? Wer hat die Reichspogromnacht 1938 wirklich miterlebt? Wer konnte wann etwas über die Konzentrations- und Vernichtungslager wissen? Wer hat damals überhaupt die Gesetze gelesen, die die Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung von Menschen »regelten«? Und wer hatte dann noch den Mut, unter Einsatz des eigenen Lebens einzugreifen? Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Medien damals »gleichgeschaltet« waren. Um Handlungsoptionen überhaupt in Erwägung ziehen zu können, muss man über gesicherte Informationen verfügen.
Vor dem Hintergrund der derzeitigen weltpolitischen Lage und dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine erscheint eine thematisch vordergründig »historische« Produktion wie »Die Unsichtbaren« zeitgemäßer denn je. Haben Sie einen Wunsch oder eine Idealvorstellung, wie wir heutzutage mit der Lücke der »Unsichtbaren« umgehen sollten?
Wünschenswert ist, diese »Lücke« erstmal zur Kenntnis zu nehmen. Das heißt, dass wir uns im Tanz, aber auch in allen anderen Bereichen des Lebens fragen: wie konnten wir diese Schicksale nur so lange ignorieren? Um ein Interesse an diesem Thema zu wecken und weitere Diskussionen anzuregen, wäre es großartig, wenn »Die Unsichtbaren« – wie jetzt in Baden-Baden – an Orten gezeigt werden könnten, die für diese Geschichte von besonderer Bedeutung sind. Das sind nicht nur Städte in Deutschland, sondern auch die großen Zentren des Exils. Und selbstverständlich muss die heute noch in der Schule befindliche Generation um dieses Thema wissen. Die Untaten von vor 80 Jahren scheinen für uns Geschichte zu sein. Schaut man in die Welt, wird man eines Besseren belehrt. Wir haben die Verpflichtung, Gewalt zu verhindern und Frieden zu stiften. John Neumeier hat dies mit den Mitteln des Theaters gemacht. Ich bin John Neumeier dankbar für diese Inszenierung.
Bundesjugendballett bei »The World of John Neumeier« »Die Unsichtbaren« am 5.10. um 20.00 Uhr und am 6.10. um 14.00 und 20.00 Uhr | Theater Baden-Baden »Bewegende Erinnerung« Podiumsdiskussion mit John Neumeier und Tanzexpert*innen am 5.10. um 17.00 Uhr | Kulturhaus LA 8 Weitere Informationen und Tickets finden Sie auf der Webseite des Festspielhaus Baden-Baden
In diesem Jahr ist das Bundejugendballett zum ersten Mal Teil der jährlichen Herbstresidenz des Hamburg Ballett in Baden-Baden. Auf der Akademiebühne feiert die junge Compagnie die Premiere des neuen Stücks »John’s-BJB-Bach«, das Ausschnitte aus John Neumeiers Balletten »Matthäus-Passion«, »Magnificat«, »Bach Suite 2« und »Bach Suite 3« enthält.Wir haben mit Marshall McDaniel, dem Musikalischen Leiter des Bundesjugendballett, über seine Arbeit und die musikalische Seite des Bundesjugendballett gesprochen.
Die Musik von Johann Sebastian Bach sind zumeist große orchestrale Werke für große Besetzungen und Chöre.Deshalb hast du für die Premiere von »John’s-BJB-Bach« in Baden-Baden die Musikstücke für die Bedürfnisse des Bundesjugendballett »arrangiert«. Vielleicht erklärst du einmal, was genau das bedeutet und wie du dabei vorgehst?
Marshall McDaniel: Arrangieren bedeutet die Musik umzuschreiben für die Instrumente, die wir für die Inszenierung des jeweiligen Stücks brauchen. Beim Bundesjugendballett bedeutet das meistens ein Streichquartett plus Klavier plus Flöte und Klarinette. Für die Inszenierung von »John’s-BJB-Bach« musste ich deshalb die Stimme der Klarinette hinzuerfinden. Denn zu Lebzeiten von Johann Sebastian Bach gab es ja noch keine Klarinetten. Da musste ich dieses Instrument irgendwie reinschieben. Ansonsten muss man aber auch sagen, dass manche Stücke funktionieren, ohne etwas zu arrangieren. Im Grunde genommen ist Bachs Musik sehr universell. Es ist möglich, seine Musik ganz unterschiedlich zu spielen: ob mit Synthesizer oder nur mit zwei Musikern – es klingt immer noch nach Bach. Von daher ist es nicht so schlimm, wenn man seine Musik reduziert oder expandiert.
Worauf muss man insbesondere achten, wenn man Musik für Tanz arrangiert?
Ja, das ist eine gute Frage. Also meistens geht es vor allem darum, die Musiker für den Tanz zu sensibilisieren. Die Meisten wollen immer direkt loslegen und losspielen und verstehen anfangs nicht die Symbiose aus Musik und Tanz und was das wirklich bedeutet. Denn wenn wir proben und der Tanz dazukommt, dann ist das wie eine neue Stimme in der Partitur beziehungsweise meistens sogar mehrere zusätzliche Stimmen. Am Anfang fällt es den Musikern oft schwer, diese andere Stimme zu lesen. Die steht ja auch nirgends aufgeschrieben und ist einfach dazugekommen. Von daher muss man wirklich aufpassen, dass man nicht zu schnell oder zu langsam spielt. Die Bewegungen der Tänzer hängen ja davon ab, was und wie wir spielen. Wenn wir nicht »tanzgerecht« spielen, gehen die Bewegungen manchmal nicht mehr oder sind nicht so wie gedacht. Wir sind letztendlich da, um den Tanz zu unterstützen – und im Zusammenspiel die Kunstformen zu verbinden.
Ist das denn eine Herausforderung für die Musiker*innen, sich in meist kurz bemessener Probenzeit auf den Tanz einzulassen?
Also die Arbeit beim und mit dem Bundesjugendballett ist sowieso ganz anders, als es viele gewohnt sind (lacht). Nicht nur, dass die Musiker bei uns oft selber ein aktiver Teil auf der Bühne sind und zum Beispiel über die Bühne laufen, während sie spielen, auch die Proben sind ganz anders. Denn selbst wenn ich es schaffe vor den Proben fertige Partituren zu schreiben, wird dann meistens eh alles komplett anders oder geändert, wenn wir erstmal in den Proben sind. Kevin Haigen hat eine tolle Empfindung für Musik und gibt häufig Impulse, was passt und was nicht passt. Deshalb muss ich auch oft Dinge mündlich erklären oder selber kurz vorspielen. Andere Musiker würden sich wahrscheinlich erschrecken, wenn sie mit uns proben würden. Aber wir suchen gezielt Musiker, die Lust auf diese freie Arbeitsweise haben und da gerne mitmachen: Gerne improvisieren und sich ausprobieren. Und zum Glück finden wir auch immer tolle Musiker, die das schnell verstehen!
Würdest du das als eine besondere Stärke des Bundesjugendballett bezeichnen, dass es auch in Bezug auf die Musik so kreativ arbeitet und so viel mit den verschiedenen Kunstformen experimentiert?
Auf jeden Fall! Das ist wirklich etwas ganz Besonderes. Mir hat das beim Musikstudium auch sehr gefehlt: Diese Art der Improvisation, des Miteinanders und etwas zu spielen, was nicht in den Noten steht. Meiner Meinung nach sollte man sowieso immer so spielen, als würde man die Musik gerade im Moment neu erfinden. Auch wenn man die Noten vor sich hat. Das stärkt das kreative, improvisierte Spiel. Und das ist eben ein großer Vorteil beim Bundesjugendballett.
Würdest du sagen, dass du bzw. auch das Bundesjugendballett besonderen Wert darauf legt mit Nachwuchs-Musiker*innen zusammenzuarbeiten? Liegt das an dieser Spiel- und Experimentierfreude?
Ich glaube, dass das in dieser Art nur mit jungen Leuten geht (lacht). Nein, wahrscheinlich geht es auch mit anderen Musikern. Aber viele erfahrenere Musiker, die schon länger in dem Beruf arbeiten, haben ihre eigene Routine und sind darin vielleicht ein bisschen festgefahren. Die wollen dann gerne alles vorbereitet haben und sind schnell genervt, wenn in den Proben nicht alles vorgeplant ist. Aber bei Tanz und Theater, zumindest so wie wir es machen, geht das leider nicht immer. Ich persönlich finde das auch besser so. Dass man bei jeder Show etwas Neues kreiert und weiterentwickelt. Selbst noch nach unseren Auftritten verändern wir, also Kevin Haigen oder ich, einzelne Stellen. Mal ein anderer Akkord, mal wird eine Stelle etwas länger oder kürzer. Ich glaube, dass das wirklich nur mit jungen, kreativen und flexiblen Leuten geht.
Als Musikalischer Leiter des Bundesjugendballett arrangierst du nicht nur die Stücke und bist für die Einstudierung der Musik und die Leitung der Musiker*innen zuständig, du spielst außerdem selber auf der Bühne Cello. Ist das eine zusätzliche Doppelbelastung oder gefällt es dir, selbst Teil der Inszenierung zu sein?
Also allen voran liebe ich es, Musik zu machen. Deshalb macht es mir auch wahnsinnig Spaß selber mitzuspielen. Aber natürlich hat die Medaille auch immer zwei Seiten. Denn wenn ich selber mitspiele, fehlt mir manchmal auch der Blick von außen beziehungsweise die Ohren. Ich muss mich ja dann selber auf meine Finger und meine Stimme konzentrieren und kann schwieriger beurteilen, ob alles klappt oder zusammenpasst. Aber trotzdem gefällt es mir besser mitzumusizieren.
Nach 30 Jahren verabschieden wir uns von einer ganz besonderen Person: unserer langjährigen Ballettbetriebsdirektorin Ulrike Schmidt. Dreißig Jahre lang leitete sie die Planungen und Geschäfte des Hamburg Ballett und hielt hinter der Bühne die Fäden zusammen. Sie überzeugte mit ihrer einzigartigen Mischung aus Menschlichkeit gepaart mit ihrem scharfen Blick fürs Praktische. Sie hat mit ihrer Art das Hamburg Ballett geprägt und geformt. Im Interview spricht sie über ihren ersten Arbeitstag, besondere Herausforderungen und ihre schönsten Erinnerungen.
Frau Schmidt, erinnern Sie sich an Ihren ersten Arbeitstag beim Hamburg Ballett?
Ulrike Schmidt: Jein. Mein erster Arbeitstag war der 15. September 1991. Der Übergang zwischen meiner vorherigen Tätigkeit bei den Salzburger Festspielen und meiner neuen in Hamburg gestaltete sich nahtlos. Ende August wurde ich in Salzburg verabschiedet, mir blieben also knapp zwei Wochen für den Umzug nach Hamburg. Eine Wohnung hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, also lagerten meine Sachen in Salzburg. Ich bin mit dem Auto nach Hamburg, mit einem kurzen Zwischenstopp am Fuschlsee für eine Abschiedsparty. Ich erinnere mich auch, dass ich noch in Mailand eine von Sir Georg Solti geleitete Aufführung erleben konnte. Schön war, dass ich meine Mitarbeiterin aus den Salzburger Festspielen mit nach Hamburg genommen habe, Cornelia Berger. Wir kamen als Team hierher.
Mich hat sehr erstaunt, dass alle Besucher, die ich in Hamburg getroffen habe, so viel mehr wussten als ich! Und das, obwohl ich mit dem Hamburg Ballett bereits mehrmals zusammengearbeitet hatte: 1991 gab es zum Beispiel ein gemeinsames Projekt in Salzburg, die Uraufführung von John Neumeiers »Requiem« in der Felsenreitschule. John und das Hamburg Ballett waren da, dazu der Chor aus Dresden, wo mein Vorgänger beim Hamburg Ballett hingegangen ist und ich – dieses Projekt war eine Zusammenführung von allen und hat die Veränderung schon eingeläutet.
Fangen wir noch einmal, für unsere Leser, ganz einfach an. Was macht eine Betriebsdirektorin genau?
Wenn das so einfach zu beantworten wäre! Ich habe sehr oft Situationen erlebt, wo ich gedacht habe, dass glaubt kein Mensch, dass ich das jetzt mache! Letzte Woche zum Beispiel: Wir bekommen für jede Nijinsky-Gala tolle Blumensträuße von Home flowers, gestiftet von Uta Herz, die wir den Tänzerinnen und Tänzern nach der Gala auf der Bühne überreichen. Bei der Gala-Vorstellung letzten Sonntag haben die beteiligten Musikerinnen und Musiker spontan entschieden, dass sie zum Schlussapplaus doch mit auf die Bühne kommen möchten. Aber dafür haben wir nicht genügend Blumensträuße gehabt! Die Kolleginnen und Kollegen der Requisite haben die Sträuße, die wirklich sehr groß waren, halbiert, sodass es dann am Ende ausging. Aber irgendwie gab es dann Schwierigkeiten mit der Zählung, sodass Nicolas Hartmann, mein Nachfolger, Konstantin Tselikov, Ballettmeister der Ballettschule, und ich spontan mit anpacken mussten. Wir haben sicher eine halbe Stunde gezählt und arrangiert!
Was eine Betriebsdirektorin macht? 100% meiner Arbeit hat mit Kreativität zu tun, da letztendlich alle meine Gedanken und Ansätze durch die Kreativität geprägt sind. Ich bin ganz nah dran an den Ideen und Gedanken von John Neumeier, die ich dann versuche umzusetzen in der Planung, ins Personal, in das Budget. Man hat ja alles zu verantworten!
Ich habe Sie immer als jemanden erlebt, der dabei ganz nah an den Menschen ist, der zum Beispiel auf Ballettreisen den direkten Austausch sucht und zwischen den Welten vermittelt.
Mein ganzes Leben galt mein Interesse den Menschen! Gleichzeitig war mein Anspruch an mir selbst immer sehr groß, ich wollte etwas schaffen, etwas vorantreiben.
Welches ist Ihre schönste Erinnerung mit dem Hamburg Ballett?
Ich habe so viele Erinnerungen aus den letzten 30 Jahren! Es gab viele emotionale Momente, zum Beispiel die Kreation von »Nijinsky«, die John Neumeier als eine große Aufgabe empfunden hat. Sein Wissen um diese zentrale Figur – er hat eine der größten privaten Sammlungen um Nijinsky und konnte gerade erst persönliche Dinge aus Nijinskys Nachlass erwerben – dieses Wissen ist auch eine Bürde. Wird man dem gerecht? Wie geht man das überhaupt an? John hat sein »Nijinsky«-Ballett quasi in einem Rutsch kreiert. Wenn er das Gefühl hat, dass er auf dem richtigen Weg ist, dann spricht er das nicht einfach aus, nein, er lächelt dann leise. Als ich dieses Lächeln während der Kreation von »Nijinsky« bei ihm gesehen habe, da wusste ich, dieses Ballett wird fertig werden! Mit »Nijinsky« sind wir sehr viel gereist, wir haben Johns Ballett in die Welt gebracht – mit riesigem Erfolg.
Wenn man sich das Ballett von der Seitenbühne aus anschaut und quasi hautnah miterlebt, wie die Tänzerinnen und Tänzer den Geist der Ballets Russes auf die Bühne bringen, dann hat man selbst das Gefühl, die Compagnie der Ballets Russes sei wiederauferstanden und wir seien die Nachfolge-Compagnie.
Mit der »Nijinsky«-Kreation verbinde ich wunderbare tiefe Empfindungsmomente, wie überhaupt wenn ein Ballett neu geschaffen wird. Tolle Erinnerungen habe ich auch an unsere Tourneen, an unsere Kooperation mit dem Festspielhaus Baden-Baden. Auf Tourneen ist man mit den Menschen eng zusammen, man erlebt das Ensemble, aber auch die Kolleginnen und Kollegen ganz anders als hier im Ballettzentrum, wo alle in Büroarbeit vertieft sind. Die Menschen auf und hinter der Bühne waren mir immer wichtig, deswegen habe ich auch die Führungen im Ballettzentrum so gerne gemacht: Ich gehe mit den Teilnehmenden dann in den Ballettsaal, denn nur dort kriegt man direkt mit, was einem beglückt, wofür man arbeitet. Ich bin ein Team-Mensch und kann mich glücklich schätzen, ein so wunderbares Team um mich herum gehabt zu haben. 14 Jahre lang habe ich mit meinem Assistenten Nicolas Hartmann zusammengearbeitet, der nun mein Nachfolger wird, und mit meiner Assistentin Birgit Paulsen; mein Dank gilt ihnen und allen anderen Kolleginnen und Kollegen.
Was war Ihre größte Herausforderung?
Mit einer der größten Herausforderungen war die Bewältigung und das Verstehen der Corona-Pandemie. Ich habe zwei Wochen gebraucht, um zu verstehen, was sie ist, und dann noch einmal zwei Wochen, um mich selbst zu fassen und für die Anderen da sein zu können. Ich bin schon immer ein positiv gestimmter Mensch gewesen, und habe an allem Freude. Diese Freude war erst einmal weg, ich habe nur grau gesehen und konnte am Anfang nur ganz schlecht mit der Pandemie umgehen. Meine Positivität musste ich wiederfinden, und das habe ich, und dann habe ich sie nicht wieder verloren.
John hat sehr darum gekämpft, dass die Compagnie wieder zurück ins Ballettzentrum durfte. Ich erinnere mich an ein Meeting der Administration im Garten des Ballettzentrums, das muss im April 2020 gewesen sein, wo die Tänzer noch von zuhause aus trainieren mussten. John sah uns im Garten und war ganz beglückt darüber, Leben im Ballettzentrum zu sehen. Und dann hat er sich persönlich eingesetzt und dank eines gut ausgearbeiteten Hygienekonzepts hat er es geschafft, dass die Tänzer wieder im Ballettsaal trainieren und proben durften. Für mich war nicht nur extrem herausfordernd persönlich mit der Krise umzugehen, sondern auch mit der Verantwortung für die Menschen im Ballettzentrum. Ich bin dankbar und unglaublich froh, dass wir hier keine schweren Corona-Fälle hatten, und dass in so einem großen Betrieb mit eigener Ballettschule und Internat! So viele Menschen arbeiten hier. Andere Compagnien hatten es da schwerer…
Und ganz privat: Wie haben Sie die Corona-Pandemie erlebt? Gibt es auch positive Dinge, die Sie aus dieser Zeit ziehen?
Für mich war diese Zeit eine gute Vorbereitung auf meinen Abschied, weil ich noch nie so viel zuhause war. Ich habe erlebt, wie Vögel in meinem Garten brüten und die Jungen gefüttert. Das habe ich nie so wirklich wahrnehmen können, da ich beruflich viel unterwegs war. Ich hatte Zeit, um nachzudenken, Bücher zu lesen, Musik zu hören, Theaterstreams anzusehen. Zeit für sich selbst zu haben, das ist in meinem Beruf nicht möglich – es hat mir nicht gefehlt, ich liebe meinen Beruf, aber ich habe es trotzdem genossen. Und ich konnte in dieser Zeit mit vielen Menschen sprechen, und dann ging es eben nicht nur um Nebensächlichkeiten, sondern immer um Tiefe und Inhalt, das fand ich toll!
Wenn ich jungen Menschen vermitteln könnte, was ich in der Pandemie gelernt habe, dann das: Man muss und sollte Dinge tun, wenn man die Chance dazu hat und nicht verschieben. Das habe ich in meinem Leben immer getan, beruflich und privat. Ich habe dadurch kostbare Erfahrungen sammeln dürfen, zum Beispiel durch das viele Reisen. Diese Erfahrungen und Erlebnisse haben mich durch die Pandemie getragen.
Gibt es das Lieblingsballett?
Ich war sehr froh, als ich bei der diesjährigen Nijinsky-Gala ein Pas de deux aus »Othello« noch einmal sehen durfte, weil es eines meiner Lieblingsballette von John ist. »Nijinsky« ist für mich ein Meisterwerk. Auch Klassiker wie »Die Kameliendame« sind wunderschön. In all den 30 Jahren beim Hamburg Ballett und auch schon davor, durfte ich so viele unterschiedliche Besetzungen erleben, die die Ballette immer wieder haben neu aufleben lassen.
Das Tolle bei John ist, dass er auch ganz jungen Tänzern die Chance gibt, führende Rollen zu übernehmen. Ich denke da zum Beispiel an Alessandro Frola, der gerade von der Ballettschule in die Compagnie übernommen wurde und dann als jüngster Lysander überhaupt im Sommernachtstraum tanzen durfte. So etwas vergisst man nicht, vor allem nicht als Tänzer!
Das Traurige ist, dass man sich nach jeder Saison auch von einzelnen Tänzern verabschieden muss. Abschied nehmen ist immer hart, weil man viele liebgewonnen hat und ich beobachte die Tänzerinnen und Tänzer im Laufe der vielen Vorstellungen, die ich miterlebe. Ich kenne die wahrscheinlich alle viel besser als die mich kennen!
Verabschieden müssen wir uns nach 30 Jahren auch von Ihnen. Wie fühlen Sie sich?
Ich bin froh, dass wieder Leben auf die Bühne zurückkehren und ich gemeinsam mit der Compagnie die Hamburger Ballett-Tage miterleben konnte! Ich bin beruhigt, denn ich glaube, dass wir nach den Theaterferien so weitermachen können. Sicherlich wird es noch Einschränkungen im Herbst geben, aber es wird etwas stattfinden, mit Publikum.
Ich wurde auf eine so tolle und persönliche Art und Weise verabschiedet. Das Bundesjugendballett hat eine Vorstellung nur für mich, meine Freunde und Familie gegeben. Dafür bin ich Kevin Haigen sehr dankbar. Kevin war für mich ein besonderer Wegbegleiter, ich habe schon immer die Fähigkeit an ihn geschätzt, den Menschen zu sehen. Er hat mir damit ein großes Geschenk gemacht, das ich nie vergessen werde!
Und auch die kleinen Gesten waren besonders und rührend. So haben sich zum Beispiel viele ehemalige Tänzer bei mir gemeldet und sich für Dinge bedankt, die ich teilweise gar nicht mehr erinnere, die aber für diesen bestimmten Tänzer wichtig waren. Ich habe immer versucht für die Menschen zu denken und zu sehen, wie dieser Dank zurückkommt, ist rührend.
Deswegen habe ich mich an meinem letzten Tag, dem Tag der beiden Nijinsky-Galas, sehr leicht gefühlt. Ich weiß, warum ich das tue, ich finde es wichtig, dass die jungen Leute eine Chance bekommen, sich zu beweisen. Natürlich ist nach 30 Jahren so ein Wechsel schwer, ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es mir leichtfällt loszulassen. Dieser Job hat mein Leben ausgemacht! Es ist nicht einfach, aber ich fühle mich leicht und dankbar.
Und jetzt, wie geht es weiter? Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Erst einmal: Büro aufräumen und dann Ferien! Ich fliege nach Italien, werde auch die Bregenzer und die Salzburger Festspiele besuchen. Dann fahre ich nach Wien, wo das Hamburg Ballett Ende August gastieren wird. Und dann bin ich natürlich zur Saisoneröffnung wieder in Hamburg, weil ich schon jetzt im Amt bin als Kuratorin der Opernstiftung, ab dem 1. November übernehme ich die Geschäftsführung. Ich freue mich auf diese tolle Aufgabe. Sie nimmt zeitlich nicht so viel Anspruch, ich bekomme Unterstützung durch eine Assistenz, und sie gibt mir freie Gestaltung. Ich muss nicht immer im Büro oder in Hamburg sein, ich kann das letztendlich von überall aus machen. Mein Wissen um diese Institution, um die Oper und das Ballett, darf ich in meiner neuen Aufgabe einbringen. Ich werde eine Vermittlerin sein, und so habe ich mich schon immer gesehen. Ich bleibe weiterhin im Vorstand der Stiftung TANZ – Transition Zentrum Deutschland, die gerade erst ihr 10-jähriges Jubiläum feierte. In der kommenden Saison organisiert das Hamburg Ballett zu diesem Jubiläum eine Benefiz-Ballett-Werkstatt, die Spenden gehen an die Stiftung TANZ, die Tanzschaffende ideell und materiell bei ihren beruflichen Übergangsprozessen unterstützt.
Die Opernstiftung existiert seit über 60 Jahren und hat eine tolle Arbeit geleistet. Übrigens, meine allererste Aufgabe hier in Hamburg war, bei einem Gastspiel mit der »Matthäus-Passion« in Dresden, Herrn Dr. Körber anzusprechen, der ehemalige Vorsitzende der Opernstiftung. Ich sollte ihn um Unterstützung bitten für eine Publikation, die anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Hamburg Ballett erscheinen sollte. Jemand Kluges hatte mir noch gesagt, dass ich eine Zahl parat haben sollte, da Herr Körber mich sofort nach einer Zahl fragen würde. Und so war es: Ich habe ihn zum Dinner getroffen und eine der ersten Fragen war: Frau Schmidt, was kostet das? Gott sei Dank war ich darauf vorbereitet! Von Anfang an war die Opernstiftung ein wichtiger Teil und ich freue mich sehr, dass ich noch weiter in diesem Umfeld bleiben und helfen kann, was bestimmt nicht einfach sein wird, denn die Pandemie hat auch finanziell große Lücken hervorgebracht.
Gibt es Hobbys außerhalb der Kunst? Oder Dinge, die Sie in Ihrem neuen Lebensabschnitt machen wollen?
Toll in der Pandemie war, dass man sich den Tag anders einteilen konnte, weil man ja viel zuhause war. Ich habe angefangen täglich Yoga zu machen. Es war schön, sich mehr auf sich zu konzentrieren, zu atmen und den Tag positiv zu beginnen. Ich wohne nahe der Elbe und habe es genossen, an der Elbe zu walken. Ich freue mich auch wieder mehr Fahrrad fahren zu können. Diese Dinge in meinen neuen Alltag zu holen, das ist schön.
Ehrlich gesagt hatte ich noch keine Zeit zu überlegen, was ich in dieser neuen Zeit unbedingt machen möchte. Sicherlich werde ich viel reisen! Das möchte ich auch mit der Opernstiftung – ich möchte weiterhin Ballett- und Opernreisen initiieren, um die Menschen zu binden und ihnen Einblicke zu geben, die man sonst nicht hat. Eine tolle Reise wäre zum Beispiel nächstes Jahr nach Los Angeles, wo das Hamburg Ballett gastieren wird. Diese Reisen sind für uns alle besonders, denn dass, was man auf einer Tournee erlebt, so ganz anders ist. Manchmal sind Kultursenatoren da und erleben, wie die Compagnie von ganz anderen Menschen, in einem ganz anderen Land, geliebt und verehrt wird. Auf Reisen beantworte ich auch Fragen aller Art. Nicht alle kennen sich aus, einmal fragte man mich zum Beispiel, was ein Tänzer tagsüber denn so macht, wenn er abends Vorstellung hat. Die Menschen können nicht wissen, welch harte Arbeit dahintersteckt und ich vermittele dieses Wissen gerne. Letztendlich bindet es die Menschen an uns und das Hamburg Ballett, ich konnte auf diese Weise schon viele Sponsoren gewinnen.
Vielen Dank für das Interview, liebe Frau Schmidt, wir werden Sie hier sehr vermissen!
Im »Steckbrief« stellen sich unsere Tänzerinnen und Tänzer vor, hier kommt Illia Zakrevskyi.
Name: Illia Zakrevskyi Geburtsdatum und -ort: 3.12.93 in Browary, Ukraine Engagement: Theater Hof in 2014, Hamburg Ballett seit 2016
Lieblingsfarbe: Hellblau Lieblingsfilm: Es ist unmöglich, nur einen auszuwählen: »Oldboy« (2003, Korea), »In the mood for love« (2000), »Your Name« ( 2016, Japanischer Zeichentrickfilm), »A single man« (2009), »Mr. Nobody« (2009), »American Beauty« (1999), »Alien« (1979), »Death at a Funeral« (2007), »Vanilla Sky« (2001), »Sleuth« (2007), »Audition« (1999, Japanischer Horrorfilm) und viele, viele andere! Lieblingssong: »Fratres« von Arvo Pärt und »Drift Apart« von Ben Caplan
Wenn ich kein Tänzer wäre, wäre ich … Es ist wirklich schwer vorstellbar, dass ich etwas Anderes als Ballett machen würde. Solange ich mich erinnern kann, habe ich immer Ballett getanzt und ich wusste immer, dass es mein zukünftiger Beruf sein wird. Aber ich glaube, ich würde auch gerne Pilot sein. Ich weiß nicht warum, aber ich fliege immer gerne.
Welche ist deine schönste Erinnerung mit dem Hamburg Ballett? Ich habe viele gute Erinnerungen mit dem Hamburg Ballett! Ich denke, die besten und stärksten sind Erinnerungen an Tourneen in verschiedene Länder, die ich glücklicherweise mit dem Hamburger Ballett besuchen durfte. Es ist immer sehr aufregend für mich. Und es ist nie dasselbe, immer eine einzigartige Erfahrung, die mir meistens viele schöne Erinnerungen beschert.
Worin besteht die größte Herausforderung des Tänzerberufs? Für mich als Balletttänzer ist die größte Herausforderung, gesund zu bleiben und Verletzungen zu vermeiden.
Dies oder Das …
Comedy oder Drama? Beides.
Bücher oder Filme? Filme.
Zuhören oder Sprechen? Zuhören.
Früher Vogel oder Nachteule? Nachteule.
Sommer oder Winter? Beides.
Berge oder Meer? Berge.
Familie oder Freunde? FAMILIE.
Tee oder Kaffee? Definitiv Kaffee.
Kochen oder Bestellen? Bestellen, ich bin nicht gut im Kochen.
Was kann ein großes Ballettensemble tun, wenn im Zuge der Corona-Pandemie die eigene Staatsoper und auch alle anderen Bühnen im Land für das Publikum geschlossen sind? John Neumeier hat es sich zur Aufgabe gemacht, in der Zeit des Lockdowns wenigstens die Probenbedingungen für das Hamburg Ballett soweit wie möglich an einen Normalzustand heranzuführen.
Voraussetzungen Seit Mitte Oktober gilt im Ballettzentrum ein strenges Hygienekonzept. Es schließt die AHA-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmasken) ebenso ein wie regelmäßiges Lüften durch die großen Fensterfronten des Schumacher-Baus.
Zusätzlich werden die Tänzerinnen und Tänzer regelmäßig auf Covid-19 getestet. Sie dürfen einander berühren – allerdings nur innerhalb festgelegter und nachvollziehbarer Sequenzen im Rahmen der Choreografie.
Die Probenarbeit Seit Beginn der Corona-Krise hat John Neumeier sich ganz auf das Management und die künstlerische Entwicklung des Hamburg Ballett konzentriert. Im zweiten Lockdown seit November 2020 plädiert er für eine möglichst schnelle Rückkehr zur Live-Aufführung – sobald das politisch und im Hinblick auf den Gesundheitsschutz vertretbar ist. Aus dieser Haltung heraus gewinnen die täglichen Proben im Ballettzentrum Hamburg eine besondere Bedeutung, die er mehr als üblich persönlich leitet.
Künstlerische Ideen John Neumeier nutzt die zusätzliche Probenzeit während des Lockdowns für gründliche Proben. Das Hygienekonzept des Hamburg Ballett erlaubt auch Durchläufe abendfüllender Ballette, einschließlich großer Ensembleszenen.
Neben »Beethoven-Projekt II«, das weiterhin auf seine Uraufführung wartet, probt John Neumeier mit besonderer Sorgfalt »Ein Sommernachtstraum« und »Tod in Venedig«.
Sie leitet nicht nur die Vorschulklassen, sondern ist als Ballettmeisterin der Ballettschule verantwortlich für die Einstudierung aller Partien, die von Ballettschüler*innen in den Vorstellungen des Hamburg Ballett übernommen werden. Die Rede ist von Ann Drower. Annie, wie sie von uns liebevoll genannt wird, ist die gute Seele der Ballettschule. Noch heute erinnere ich mich sehr gut an meine ersten Ballettstunden mit ihr. Durch rhythmische Übungen und Improvisationen hat sie mich und viele weitere Kinder behutsam in die Welt des Balletts eingeführt. Nach 44 Jahren verabschieden wir uns von Annie, die zum Ende dieser Saison in den wohlverdienten Ruhestand geht. Grund genug mit ihr ein letztes Interview zu führen und die schönsten Erinnerungen und Momente Revue passieren zu lassen:
Liebe Annie, über 44 Jahre Berufserfahrung liegt hinter dir, beim Hamburg Ballett als Tänzerin und später als Ballettpädagogin für die Ballettschule. Was war das Bemerkenswerteste, das dir in dieser Zeit widerfahren ist?
Annie Drower: Als ich als Tänzerin nach Hamburg kam, durfte ich als eine von acht Tänzerinnen in dem Ballett »Agon« von George Balanchine tanzen. Patricia Neary leitete damals die Einstudierung, ein tolles Erlebnis! Ich kam 1976 nach Hamburg; »Agon« stand in der Saison 1976/1977 auf dem Hamburger Spielplan. Es war also meine allererste Spielzeit beim Hamburg Ballett und dann durfte ich gleich bei einem so schwierigen Stück mittanzen! Die Musik von Igor Strawinsky, ihre Rhythmen, machten »Agon« so herausfordernd. Wir mussten unglaublich viel Zählen – Patricia war bei den Proben streng, sie hat nichts ausgelassen, aber nur so konnten wir George Balanchines wunderbares Ballett gut auf die Bühne bringen. Ich habe sehr viel von ihr gelernt!
Später war ich eine von mehreren Tänzerinnen, die ein Solo in »Le Sacre« tanzen durfte, definitiv eines von meinen Lieblingsstücken von John Neumeier.
Eine weitere besondere Rolle für mich ist die der Königin in John Neumeiers »Dornröschen«. Ich hatte ein Solo, das durch seine Fülle an Emotionen sehr intensiv und beeindruckend war. Die Königin hat zu Beginn des Balletts einen hysterischen Anfall, sie glaubt keine Kinder bekommen zu können. Und dann erblickt sie in einem Spiegel ihr Ebenbild: Es hält ein Kind im Arm. Und sie begreift die Bedeutung, sie wird endlich ein Kind bekommen.
»Der Wechsel zwischen eher klassischen Rollen, Musical-Stilen und starken modernen Stücken wie ›Le Sacre‹ war für sie überhaupt kein Problem. Elegante Damen- und Königinnenrollen waren ihre Stärke, denn sie gab ihnen eine menschliche Dimension.«
John Neumeier zum Abschied von Ann Drower, Ballett-Jahrbuch Saison 2019/2020
Ich blicke auch gerne auf die Einstudierungen von John Neumeiers Balletten zurück, die ich leiten durfte: »Spring and Fall« in Kapstadt zum Beispiel. Ich habe der Compagnie das gesamte Stück beigebracht. Später kam Victor Hughes dazu, der die Einstudierung dann weiter betreut hat. Er hat dann auch die Einstudierung von »Le Sacre« übernommen. »Spring and Fall« habe ich später auch beim English National Ballet mit einstudieren dürfen. Und dann war ich auch an der Einstudierung von »Illusionen – wie Schwanensee« beim Bayerischen Staatsballett in München beteiligt …
Einer der schönsten Momente, an den ich mich gerne zurückerinnere, ist der Tag, an dem John Neumeier mir anbot, mit den ganz jungen Schüler*innen der Vorschulklassen zu arbeiten. Gerne denke ich auch an die vielen Tourneen zurück – ich habe die Schüler*innen begleitet, die in John Neumeiers Balletten auftreten durften. Ich war mit ihnen mehrmals in Japan und Baden-Baden, in Genua, Paris, Costa Mesa und Cagliari, zuletzt in Venedig …
Du bist an der Royal Ballet School in London ausgebildet. Wie bist du nach Hamburg und zu John Neumeier gekommen?
Ich bin als Solistin nach Kiel gegangen, danach tanzte ich in Wuppertal, Krefeld und Hannover. In meiner Zeit in Hannover bin ich immer wieder nach Hamburg gefahren, um Vorstellungen zu besuchen. Dann habe ich vorgetanzt, ich wollte Teil dieser Compagnie werden.
Warum Hamburg? Die Ballette waren toll. Als ich das erste Mal John Neumeiers »Dritte Sinfonie von Gustav Mahler« gesehen habe, war ich wie gebannt! Dieser Moment, wo sich der Vorhang öffnet und das gesamte Männerensemble auf der Bühne steht … dieser Moment ging mir unter die Haut und tut es immer noch!
Wie kam es dazu, dass du die Seiten gewechselt und mit Pädagogik begonnen hast?
Als ich mein erstes Kind bekam, habe ich kurz danach mit dem Tanzen aufgehört. Ich wollte schon immer Kinder unterrichten, und es war eine glückliche Fügung, dass John Neumeier mir die Position als Ballettpädagogin für die Vorschulklassen in seiner Ballettschule anbot.
»Hier kam ihre Persönlichkeit wirklich zum Strahlen! Bei der Arbeit mit ihren Vorschulklassen A, B und C – zahlenmäßig die größten Klassen der Schule – konnte man ihren pädagogischen Instinkt bewundern. Sie war äußerst streng und gleichzeitig liebevoll im Umgang mit den Kindern – eine Art Mary Poppins«
John Neumeier zum Abschied von Ann Drower, Ballett-Jahrbuch Saison 2019/2020
Erinnerst du dich an deinen allerersten Arbeitstag als Ballettmeisterin?
Ja, ich war wirklich sehr nervös. Die Ballettschule war damals noch im ehemaligen Bierpalast an der Dammtorstraße untergebracht. Jetzt steht dort das Cinemaxx. Meine allererste Schulklasse war nicht sehr groß, ich erinnere mich nicht genau, wie viele Kinder es gewesen sind. Uschi Ziegler, die damalige Organisatorische Leiterin der Ballettschule, hat mich an meinen ersten Arbeitstag aufgebaut; sie glaubte an mich und hat mir dabei geholfen die Nervosität in den Griff zu bekommen. Seit meinem ersten Tag als Ballettpädagogin wollte ich nichts Anderes mehr machen. Kinder sind schon immer meine Leidenschaft gewesen.
In all den Jahren hast du so viele Kinder und Jugendliche auf ihrem Weg zum Tänzer begleitet. Hältst du Kontakt zu deinen »Schützlingen«?
Oh ja, ich bin mit vielen von ihnen in Kontakt, sehr oft sogar. Ich finde es schön zu wissen, dass es ihnen gut geht und dass sie glücklich sind, wohin auch immer es sie verschlagen hat.
Was macht deiner Meinung nach einen guten Ballettpädagogen aus?
In den Vorschulklassen sollte man den Kindern Freude am Tanzen vermitteln, aber auch Disziplin. Eine gewisse Strenge ist erforderlich. Man sollte dabei aber immer liebevoll sein. Das Wichtigste ist, dass die Kinder niemals die Lust am Tanzen verlieren.
»Ann Drower hat ein tolles musikalisches und vor allem rhythmisches Feingefühl. Damit konnte sie selbst ganz junge Schüler wie durch ein Wunder zu mathematisch komplizierten rhythmischen Excercisen motivieren. Trotz der Genauigkeit der Bewegungen spürte man jederzeit bei diesen Schülern eine wahnsinnige Freude an dem, was sie machen.«
John Neumeier zum Abschied von Ann Drower, Ballett-Jahrbuch Saison 2019/2020
Welche Voraussetzungen sollte man für das Ballett mitbringen?
Die Kinder sollten musikalisch, rhythmisch und dehnbar sein, dabei auch eine tänzerische Qualität haben. Bei einer Aufnahmeprüfung wird darauf geachtet, ob die Kinder auch die körperlichen Voraussetzungen für eine professionelle Tanzkarriere mitbringen.
Du leitest die ganz »Kleinen« in den Vorschulklassen und betreust gleichzeitig die ganz »Großen« der Ballettschule – mit ihnen studierst du all die Partien ein, die von den Schülern*innen in den Vorstellungen des Hamburg Ballett übernommen werden. Was waren die größten Herausforderungen?
Das ist schwer zu beantworten. Jeder Auftritt ist eine Herausforderung! Bei jedem Auftritt stehe ich hinter der Bühne, manchmal bin ich nervöser als meine Schüler*innen. Wenn zum Beispiel ein Schüler aus der Abschlussklasse kurzfristig und fast ohne Proben für jemanden aus der Compagnie einspringen muss, dann ist das für mich eine echte Nervenpartie!
Eine große Herausforderung war der Auftritt während der Intermezzo-Gala IX, die 2017 in einem echten Zirkuszelt in Hamburg-Bahrenfeld stattfand. Passend zum Motto »Ein Winterzirkus« haben wir mit Schüler*innen der Ballettschule u. a. den Ersten und Vierten Satz von »Eine Reise durch die Jahreszeiten« einstudiert. Die Auf- und Abgänge zur Bühne waren meilenweit weg; ich musste also den Kindern sagen, dass sie sich wesentlich früher für ihren Auftritt bereitmachen mussten. Es gab auch keine Kulissen, hinter denen sie vor ihrem Auftritt warten konnten; sie mussten an den Seitengängen stehen, inmitten des Publikums, das rund um die Bühne verteilt an gedeckten Tischen saß. Am Ende hat alles wunderbar geklappt und es hat allen Beteiligten großen Spaß gemacht.
2019/2020 war für dich die letzte Spielzeit. Was war für dich in den letzten beiden Spielzeiten am Intensivsten?
John Neumeiers 80. Geburtstag: Gigi Hyatt, die Pädagogische Leiterin der Ballettschule, hat für ihn gemeinsam mit allen Ballettpädagog*innen eine wunderbare Collage mit Ausschnitten aus Balletten von John Neumeier zusammengestellt, »80 Tänze für 80 Jahre«. Die gesamte Ballettschule war daran beteiligt! Wir haben das Stück in Petipa, dem größten Ballettsaal im Ballettzentrum, aufgeführt. John Neumeier saß im Publikum. Wenn die kleinen Kinder gerade mal nicht tanzten, mussten sie ganz still und gerade an beiden Seiten des Ballettsaals sitzen – eine große Herausforderung für uns alle!
Dann die Arbeit an meiner letzten Weihnachtsvorstellung hier im Ballettzentrum. Ich habe ein Stück für meine drei Vorschulklassen choreografiert. Über 60 Kinder waren es – das war eine sehr schöne Zeit!
Der Abschied von dir ist für uns alle schwer. Für mich – und ich spreche sicherlich auch für alle anderen – gehörst du zur Ballettschule des Hamburg Ballett einfach dazu. Wie fühlst du dich?
Eigentlich weiß ich noch nicht richtig, wie es sich anfühlt. Streng genommen hatte ich noch keinen wirklichen Abschied. Aufgrund des Shutdowns, hörte die Saison von einem Moment auf den nächsten einfach auf. Plötzlich durften alle nicht mehr ins Ballettzentrum. Ich werde alles hier sehr vermissen und die Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe.
Hast du Pläne für die Zukunft?
Konkrete Pläne habe ich noch nicht. Ich werde mir zunächst einen kleinen Hund anschaffen! Und viele meiner alten Freunde und Bekannte wiedersehen. Durch meine Arbeit fehlte mir oft die Zeit dazu.
Vielen Dank für das Interview, liebe Annie, und alles
Gute für die Zukunft!