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»Das ist die menschliche Seite«

Mit »Die Unsichtbaren« hat John Neumeier eine Tanz-Collage für das Bundesjugendballett geschaffen, die die aufblühende Tanzszene Deutschlands in den 1920er Jahren darstellt bis die »Machtübernahme« der Nationalsozialisten den künstlerischen Aufschwung zunichtemachte. Als Tanzhistoriker hat Ralf Stabel John Neumeier bei seiner Inszenierung wissenschaftlich beraten und bei der dramaturgischen Arbeit unterstützt. Im Interview erzählt er über die Hintergründe seiner Recherche, seine Erkenntnisse und die Herausforderungen dabei.

Sie haben sich als Theaterwissenschaftler und Tanzhistoriker bereits viel mit der aufblühenden deutschen Tanzszene in den 1920er Jahren beschäftigt und unter anderem Bücher über Alexander von Swaine und Gret Palucca veröffentlicht. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit John Neumeier?

Ralf Stabel: John Neumeier hatte die Idee für eine Inszenierung über die Tänzer*innen, die in der Zeit des Nationalsozialismus von Ausgrenzung, Verfolgung und an Leib und Leben bedroht waren. Wir sprachen miteinander und sehr schnell wurde klar, dass das Wesentliche dieser Situation ihre Unsichtbarkeit war. Daher der Titel. Die weitere Zusammenarbeit ergab sich dann ganz selbstverständlich, weil es nun darum ging, »Die Unsichtbaren« aufzufinden und einige von ihnen, stellvertretend für sehr viele, in der Inszenierung wieder sichtbar zu machen. Das »wissenschaftliche« Suchen war meine Aufgabe. John Neumeier hat dann unter Verwendung der Fakten diese ergreifende Inszenierung geschaffen.

Ida Stempelmann in »Die Unsichtbaren« © Kiran West

Was war für Sie persönlich die größte Herausforderung bei dem Projekt »Die Unsichtbaren«?

Von menschlichen Schicksalen zu hören oder zu wissen, ist eine Sache. Sich aktiv auf die Suche zu begeben und dann auch im Detail Lebens- und vor allem Leidenswege kennen zu lernen, um sie zu beschreiben, hat eine ganz andere Dimension. Das ist die menschliche Seite. Die wissenschaftliche Herausforderung bestand und besteht darin, dass man nach Menschen sucht, von denen man nichts weiß. Wo und wie fängt man da an? Über diejenigen, die damals im Rampenlicht standen, lässt sich vieles finden. Aber es gibt wenig Publiziertes oder nur schwer auffindbares Dokumentarisches über diejenigen, die entlassen und ausgegrenzt wurden, die emigrieren mussten, die deportiert oder gar ermordet wurden.

Für die Produktion haben Sie viele Nachforschungen angestellt, um die »Unsichtbaren« also all die Menschen aus der Welt des Tanzes, die während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur aus Deutschland fliehen mussten oder dort ausgegrenzt, verfolgt und im schlimmsten Fall ermordet wurden, sichtbar zu machen. Wie sind Sie bei Ihrer Forschung vorgegangen?

Zuerst habe ich ganz klassisch versucht, Publikationen zu Einzelschicksalen zu finden. Dann waren verschiedene Lexika, die sich mit dem Thema Flucht und Exil beschäftigen, hilfreich. In Fachzeitschriften gab es vereinzelt Publikationen zum Thema. Das Internet ist mit seinem Informationsangebot eine Hilfe. Doch schnell stellte sich heraus, dass dieses Thema ein noch überwiegend unbearbeitetes Feld war und ist. So musste ich nach ganz anderen Quellen suchen. Es lassen sich Schicksale anhand der verlegten Stolpersteine rekonstruieren, und es gibt auch das Gedenkbuch des Bundesarchivs, das die »Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland« auflistet. Aber die Auflistungen sind nicht in Berufsgruppen unterteilt bzw. fehlt diese Information meist. Stellen Sie sich also bitte vor, dass Sie nach jemandem suchen, von dem Sie nichts wissen, außer dass sie oder er im Bereich Tanz beschäftigt war und verschwunden ist. Sie haben aber keinen Namen, keinen Beruf, kein Alter, keine Adresse … nichts. Ich habe dann angefangen, die Bühnenjahrbücher dieser Zeit zu vergleichen, um herauszufinden, wer von einem Jahr auf das andere »verschwunden« ist. Die Zeitschrift »Der Tanz« liefert ebenso Informationen über Menschen in dieser Zeit. Man muss ein Gespür für das Verschwinden von Menschen entwickeln und dann versuchen, ihren weiteren Lebensweg zu recherchieren. Der führte dann für viele in die jüdischen Kulturbünde, ins Exil, in den Untergrund, ins Gefängnis oder auch in die Konzentrations- und Vernichtungslager.

Isabella Vértes-Schütter als Mary Wigman und Ensemble des Bundesjugendballett in »Die Unsichtbaren« © Kiran West

Wie viele Schicksale von Menschen konnten Sie recherchieren und inwiefern sind diese in die Produktion miteingeflossen?

Wir haben im Zusammenhang mit der Inszenierung »Die Unsichtbaren« eine Memorial Wall entworfen, auf der die Namen von Betroffenen alphabetisch und mit dem Wissen um die Unvollständigkeit dieser Auflistung zusammengetragen sind. Diese Erinnerungswand wird es auch in Baden-Baden zu sehen geben, und sie ist ebenso im Internet einsehbar. Für die Internet-Präsentation bemühe ich mich, zu jedem einzelnen Menschen Biografisches zur Verfügung zu stellen und hoffe, dass sich weitere Interessierte finden, die sich an dieser Recherche-Arbeit beteiligen. Eigentlich wäre ein internationales Team notwendig, denn durch den damaligen Krieg ist es ein europäisches Thema, durch die Exile hat es eine internationale Dimension. Derzeit sind 274 Schicksale aufgelistet. John Neumeier lässt einige dieser Tänzer*innen auftreten, andere werden zitiert, über wieder andere wird berichtet. Am Ende der Inszenierung werden alle bisher bekannten Betroffenen von den Darsteller*innen mit Namen benannt.

In der Tanz-Collage werden viele historische Originaldokumente wie Briefe, Erlasse oder Reden verwendet und von den Schauspieler*innen und Tänzer*innen als Text rezitiert. Weitere Texte wurden von Ihnen verfasst. So auch ein Tribunal, bei welchem sich die Tänzerin Mary Wigman einer fiktiven Gerichtsverhandlung über ihre möglichen Verstrickungen in das System des Nationalsozialismus stellt. Inwiefern lassen sich aus heutiger Perspektive überhaupt Urteile über die Frage von Schuld fällen?

Urteile zu fällen, ist im engeren Sinn eine Aufgabe von Juristen. Wir können uns aber zu der Frage der individuellen Verantwortung verhalten. Ich schreibe Bücher deshalb in der Zeitform der Gegenwart, weil ich in der Darstellung nicht klüger sein möchte, als der Mensch, der in einer konkreten Situation handeln muss. Dadurch besteht auch die Identifikationsmöglichkeit für die Leser*innen: Wie hätte ich mich denn verhalten? Wir sollten uns fragen: Was konnten die Tänzer*innen 1933 zur »Machtergreifung« wissen, was 1936 zu den Olympischen Spielen? Wer hat die Reichspogromnacht 1938 wirklich miterlebt? Wer konnte wann etwas über die Konzentrations- und Vernichtungslager wissen? Wer hat damals überhaupt die Gesetze gelesen, die die Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung von Menschen »regelten«? Und wer hatte dann noch den Mut, unter Einsatz des eigenen Lebens einzugreifen? Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Medien damals »gleichgeschaltet« waren. Um Handlungsoptionen überhaupt in Erwägung ziehen zu können, muss man über gesicherte Informationen verfügen.

Das Tribunal aus »Die Unsichtbaren« © Kiran West

Vor dem Hintergrund der derzeitigen weltpolitischen Lage und dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine erscheint eine thematisch vordergründig »historische« Produktion wie »Die Unsichtbaren« zeitgemäßer denn je. Haben Sie einen Wunsch oder eine Idealvorstellung, wie wir heutzutage mit der Lücke der »Unsichtbaren« umgehen sollten?

Wünschenswert ist, diese »Lücke« erstmal zur Kenntnis zu nehmen. Das heißt, dass wir uns im Tanz, aber auch in allen anderen Bereichen des Lebens fragen: wie konnten wir diese Schicksale nur so lange ignorieren? Um ein Interesse an diesem Thema zu wecken und weitere Diskussionen anzuregen, wäre es großartig, wenn »Die Unsichtbaren« – wie jetzt in Baden-Baden – an Orten gezeigt werden könnten, die für diese Geschichte von besonderer Bedeutung sind. Das sind nicht nur Städte in Deutschland, sondern auch die großen Zentren des Exils. Und selbstverständlich muss die heute noch in der Schule befindliche Generation um dieses Thema wissen. Die Untaten von vor 80 Jahren scheinen für uns Geschichte zu sein. Schaut man in die Welt, wird man eines Besseren belehrt. Wir haben die Verpflichtung, Gewalt zu verhindern und Frieden zu stiften. John Neumeier hat dies mit den Mitteln des Theaters gemacht. Ich bin John Neumeier dankbar für diese Inszenierung.

Bundesjugendballett bei »The World of John Neumeier«
»Die Unsichtbaren« am 5.10. um 20.00 Uhr und am 6.10. um 14.00 und 20.00 Uhr | Theater Baden-Baden
»Bewegende Erinnerung« Podiumsdiskussion mit John Neumeier und Tanzexpert*innen am 5.10. um 17.00 Uhr | Kulturhaus LA 8
Weitere Informationen und Tickets finden Sie auf der Webseite des Festspielhaus Baden-Baden