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Hamlet – Eine kleine Zeitreise

Über 45 Jahre ist John Neumeier von dem »Hamlet«-Stoff fasziniert und arbeitet an immer wieder neuen Ballettfassungen. Eine Frage steht dabei immer im Vordergrund: Wie kann man einem so umspannenden Klassiker der Weltliteratur gerecht werden und ihn für die Bühne des Balletts adaptieren? Bevor die neueste Version »Hamlet 21« auf der Bühne des Festspielhaus Baden-Baden zu erleben ist, möchten wir auf eine kleine Zeitreise gehen und die Entwicklung der einzelnen »Hamlet«-Versionen aufzeigen. Schaut selbst!

1976

»Hamlet Connotations«: John Neumeier bei der Kreationsprobe mit Mikhail Baryshnikow und William Carter © Hannes Kilian 

John Neumeier ist seit drei Jahren Ballettdirektor des Hamburg Ballett. Im Januar dieses Jahres feiert seine erste »Hamlet«-Version Premiere, aber nicht in Hamburg und mit seiner Compagnie, sondern in New York mit den damaligen Startänzer*innen Gelsey Kirkland als Ophelia, Erik Bruhn als Claudius, Marcia Haydée als Gertrude und Mikhail Baryschnikow als Hamlet. William Carter verkörpert den Geist. 

Mikhail Baryshnikow ist es auch, der John Neumeier überhaupt dazu bringt, ein Hamlet-Ballett zu kreieren.  

»Baryschnikow wollte diese Rolle so gern tanzen, dass sein damaliger Agent Sheldon Gold mich jeden Tag mit Anrufen bombardierte. Misha schlug Dmitri Schostakowitsch Film- und Schauspielmusik zu Hamlet vor. Mich dagegen faszinierte eine ungewöhnlich starke Komposition des amerikanischen Komponisten Aaron Copland, Connotations for Orchestra«.

Daher wird die erste einaktige Fassung »Hamlet Connotations« genannt, angelehnt an die assoziative, fragmentarische Struktur des Balletts, das für nur 5 Tänzer*innen kreiert ist.   

1976

Nach der Uraufführung von »Hamlet Connotations« in New York, regt die Tänzerin Marcia Haydée, die schon als Hamlets Mutter Gertrude in New York tanzte, eine zweite Fassung für das Stuttgarter Ballett an. Nach dem Tod von John Cranko wird sie 1976 zur Ballettdirektorin dieser Compagnie ernannt. 

Heraus kommt »Der Fall Hamlet«, eine von der Ausstattung vereinfachte Version, die emotional umso intensiver ist und im November 1976 in Stuttgart Premiere feiert. Ein Jahr später wird die Choreografie auch in Hamburg und mit Tänzer*innen der Hamburger Compagnie gezeigt.

Foto »Der Fall Hamlet« (Stuttgart): Egon Madsen, Reid Anderson © Leslie E. Spatt

In einer Programmnotiz von John Neumeier für die Stuttgarter Fassung steht: 
»Das Ballett erzählt keine Geschichte. In ihren Aussagen stellen sich die vier Figuren den Fall vor. Jeder muss sich mit einem Mordfall auseinandersetzen, muss über die Leiche schreiten, um in einer möglichen Zukunft weiterleben zu können.«

1985

Die Urfassung zu »Hamlet 21« entsteht in Kopenhagen für das Royal Danish Ballet. Für die Eröffnung des neu renovierten Opernhauses lädt man John Neumeier dazu ein, ein Ballett mit einem dänischen Thema beizusteuern. Der Choreograf willigt ein und kreiert seine dritte Hamlet-Fassung mit dem Titel »Amleth«. In »Amleth« verwendet John Neumeier erstmals Elemente der Vorgeschichte von Saxo Grammaticus und verknüpft sie mit dem berühmten Shakespeare-Stoff.

Die »Gesta Danorum« von Saxo Grammticus, um 1200 auf Latein herausgebracht, gilt heutzutage als eine der wichtigsten Quellen für die frühe dänisch-nordische Geschichte und enthält die Amlethus-Sage, die als Inspirationsvorlage für Shakespeares »Hamlet« diente. In der Geschichtssammlung werden der Krieg zwischen Norwegen und Dänemark sowie die Hochzeits Geruths thematisiert. Durch das Einbinden der Amlethus-Sage bekommen wir auch wertvolle Einblicke in die Kindheit des Titelhelden und die Beziehung zu seiner Mutter Geruth.

Foto »Amleth«: Mette Bødtcher © Jakob Midtskov

»Amleth« ist John Neumeiers erste abendfüllende Hamlet-Version. Die Tänzer*innen stattet er in wikingerartige Kostüme aus, die das Geschehen des Stücks historisch verorten. Diese Ausstattung wird sich nicht lange halten. Die dänische Königin Margrethe II, die eine Bewunderin von John Neumeiers Werken ist, antwortet nach der Premiere des Stücks auf die Frage, wie es ihr gefallen habe: »Es hat vielleicht ein bisschen zu viel Geschichte«. 

1997

»Hamlet«: Anna Polikarpova und Lloyd Riggins © Holger Badekow

Die Beschäftigung mit dem »Hamlet-Stoff« zieht sich fort. John Neumeier denkt sein »Amleth«-Ballett weiter und kreiert eine Neufassung für seine Hamburger Compagnie. Das Konzept, Shakespeares »Hamlet« mit der Amlethus-Sage von Saxo Grammaticus zu verbinden, behält er bei. Von den Wikinger-Kostümen verabschiedet er sich und verlegt die Handlung in eine moderne Epoche zwischen den 1930er und 1960er-Jahren. 

Für John Neumeier ist das zentrale Dilemma in Shakespeares »Hamlet« die Verantwortung für die Vergangenheit. Der junge Mann will eigentlich studieren, interessiert sich für das Theater und soll nun Blut-Rache verüben. Dieser Grundkonflikt wird in dem Pas deux zwischen Hamlet und dem Geist seines Vaters deutlich, der von seinem Sohn Rache an seinen Mord durch den eigenen Bruder verlangt. Dieses Pas de deux gibt es in dieser Form übrigens schon seit der allerersten »Hamlet«-Version von 1976. 

Wie schon beim Vorgängerballett »Amleth« lässt sich John Neumeier von der Musik Michael Tippetts inspirieren. 

2013

Unter dem Titel »Shakespeare Dances – Die ganze Welt ist Bühne« zeigt John Neumeier Kurzformen seiner Ballette »Wie es Euch gefällt«, »Vivaldi oder Was ihr wollt« und »Hamlet«.

In »Hamlet« konzentriert er sich dabei auf die Kernszenen , darunter die Begegnung der Titelfigur mit dem Geist seines verstorbenen Vaters und deren Auswirkungen.

Foto »Hamlet« in »Shakespeare Dances«: Edvin Revazov und Ivan Urban © Kiran West

2021

Das vorerst letzte Ballett zum »Hamlet«-Stoff feiert im Juni 2021 Premiere in Hamburg. Ursprünglich schon für März 2020 geplant, muss die Neuversion coronabedingt mehrere Male verschoben werden. John Neumeier nutzt die Zeit und ergänzt während der Corona-Wartezeit das Stück um eine neue Rahmenhandlung, die das Geschehen um Hamlet als Tagtraum in einem Klassenzimmer verortet. 

»Die Schauspiele William Shakespeares waren während meiner gesamten Karriere eine bleibende Inspirationsquelle. Aber wenn man 45 Jahre von einem Stoff fasziniert ist und so lange daran arbeitet, muss es dafür einen guten Grund geben. Shakespeares Drama Hamlet ist sicher ein Wahrzeichen der Weltliteratur. Es ist ein Werk, von dem wir voraussetzen, dass es wesentlich ist, von dem wir annehmen, dass wir es kennen sollten. Viele von uns haben Hamlet in der Schule gelesen. Möglicherweise sollte auch mein Ballett in einem Klassenzimmer beginnen?«

»Hamlet 21«: Alexandr Trusch, Nicolas Gläsmann und Ivan Urban © Kiran West

Diesen Gedanken macht John Neumeier wahr. Seine vorerst letzte Ballettversion von »Hamlet« eröffnet die 46. Hamburger Ballett-Tage. Dieses Wochenende feiert »Hamlet 21« seine Baden-Baden Premiere und ist für insgesamt drei Vorstellungen im Festspielhaus zu erleben (7., 8. und 9. Oktober). 

Damit endet unsere kleine Zeitreise. Und wer weiß, vielleicht müssen wir schon bald diesen Blog um ein weiteres »Hamlet«-Ballett aktualisieren. 

Nathalia Schmidt / Friederike Adolph