Tanz lesen – »Die Glasmenagerie« aus der Sicht einer Choreologin
Sonja Tinnes ist Choreologin des Hamburg Ballett. Seit 25 Jahren begleitet sie die Kreationsphasen der Ballette von John Neumeier und verwandelt die Bewegungen im Raum in lesbare Zeichen auf Papier. Sie notiert die Schritte, Sprünge, Drehungen, Hebungen, aber auch die Intention, Gefühle und Hintergründe, die John Neumeier seinen TänzerInnen bei der Kreation in Worten erklärt. Anlässlich der Uraufführung von »Die Glasmenagerie« hat sie mit mir über ihre Arbeit gesprochen.
Mit der Uraufführung von »Die Glasmenagerie« am 1. Dezember blickt Sonja auf 25 Jahre Zusammenarbeit mit John Neumeier zurück: 1994 kam sie zum ersten Mal zum Hamburg Ballett, um im Rahmen ihrer Ausbildung den 2. und 3. Satz der Kreation von John Neumeier zur 9. Sinfonie von Gustav Mahler zu notieren – eine Winterpremiere, wie »Die Glasmenagerie«.
Das Handlungsballett nach Tennessee Williams‘ Schauspiel ist die 40. Kreation von John Neumeier, die Sonja begleitet und notiert. Sie sitzt im Ballettsaal neben dem Choreografen und versucht alles aufzuschreiben, was in dem Moment entsteht. Dabei achtet sie besonders darauf, an welcher Stelle in der Musik die Schritte und Bewegungen liegen. »Für John ist im Prozess der Kreation besonders wichtig, dass da jemand ist, der ihm sagen kann, wo wir gerade musikalisch gesehen sind.« Damit bei Wiederholungen nicht immer von vorne angefangen werden muss, schreibt Sonja Ankerpunkte in Choreografie und Musik auf, an denen man sich orientieren kann.
Es kommt auch vor, dass John Neumeier bestimmten Schrittfolgen einen erfundenen assoziativen Namen gibt. In Sonjas Notation zu einer Szene in »Die Glasmenagerie« stehen dann Begriffe wie »Sausage Roll«. »Das ist eine gute Gedankenstütze für mich und die Ballettmeister«, erklärt sie mir.
Manche Sequenzen könne sie im Moment der Kreation gut minimalistisch mitschreiben. So beispielsweise die sogenannte »Crossfire-Sequenz« in der Schuhfabrik-Szene aus »Die Glasmenagerie«, in der die Tänzer Schuhkartons hin und her werfen. Für die Kreations- und Probenphase reicht es, dass Sonja die Formation skizziert und mit Hilfe von Pfeilen aufzeichnet, wie die Kartons und Schuhe innerhalb der Formation geworfen werden: »Ich habe die einzelnen Elemente, die in dieser Sequenz vorkommen und schreibe dann nur noch auf, in welcher Reihenfolge sie passieren.«
Nach der Uraufführung wird sich Sonja an den Schreibtisch setzen und die fertige Choreografie als Partitur »schön schreiben«. Zur Hilfe nimmt sie dann auch die Filmaufnahmen, die sie vor allem während der Endproben angefertigt hat. »Wenn ich die Partitur schreibe, dann schreibe ich alle Systeme – jede einzelne Bewegung von jedem einzelnen Tänzer – von vorne bis hinten auf die Musik, also immer zum dazugehörigen Takt.« Ihre Tanzpartitur sieht am Ende aus wie eine Orchesterpartitur: Jede/r TänzerIn bekommt eine eigene Zeile, diese stehen übereinander und sind in die entsprechenden Takte der dazugehörigen Musik gegliedert. Gruppenszenen, wie die »Crossfire-Sequenz«, in denen viele Tänzer gleichzeitig unterschiedliche Schritte tanzen, sind in der Partitur daher sehr aufwendig zu notieren und nehmen viel Platz ein.
Obwohl sie nach 25 Jahren und 42 geschriebenen Tanzpartituren schon reichlich Erfahrung gesammelt hat, wird ihr die Aufgabe nie langweilig: »Es ist ein wirklich toller und interessanter Job! Man lernt immer etwas Neues über Musik und Theater. Gerade bei der ›Glasmenagerie‹: Es ist für John ein wichtiges Stück und er hat sehr lange darauf hingearbeitet. Er hat zwar eine persönliche Choreografie-Handschrift, aber auch für dieses Ballett wieder eine ganze eigene Tanz-Sprache für die Charaktere gefunden.«
Vielen Dank für den interessanten Einblick in deine Arbeit als Choreologin, liebe Sonja!
Lisa Zillessen