»The World of John Neumeier«-Festival: Eine Ballett-Werkstatt gibt den Auftakt
Das Hamburg Ballett gastiert vom 1. bis zum 10.10. in Baden-Baden. Den Auftakt machte gestern Abend eine von John Neumeier moderierte Ballett-Werkstatt, die nicht nur spannende Einblicke in die Produktionen gab, die während des diesjährigen Gastspiels im Festspielhaus gezeigt werden, sondern auch das Geheimnis eines neuen Festivals lüftete.
Eine halbe Stunde vor dem Beginn des Ballett-Werkstatt konnte das Publikum die Compagnie bei einem öffentlichen Training auf der Bühne erleben.
Punkt 20 Uhr betritt John Neumeier die Bühne und begrüßt das zahlreich erschienene Publikum. Seit 23 Jahren kommt er mit seiner Compagnie ins Festspielhaus. Gleich zu Anfang dann ein Paukenschlag: John Neumeier verrät, dass sich Baden-Baden ab Herbst 2022 in eine Tanzstadt verwandelt. Ein neues Festival mit dem Namen »The World of John Neumeier« soll Tanzfans aus aller Welt in den Schwarzwald locken.
»Ich hatte nie Ambitionen, ein Impresario wie Serge Diaghilew zu sein. Dennoch finde ich es interessant, ein Festival in Baden-Baden zu kreieren, weil die Stadt einen besonderen Platz in meiner künstlerischen Entwicklung einnimmt«, so John Neumeier.
Nach der Begrüßung durch John Neumeier folgte der erste Tanzausschnitt: Die international gefeierte italienische Ballerina Alessandra Ferri, die mit 50 Jahren in Comeback als Tänzerin feierte und seitdem ausgewählte, ihrem Alter entsprechende Rollen verkörpert, präsentiert auf Einladung von John Neumeier das Kammerballett »L´Heure Exquise« von Maurice Béjart im Theater Baden-Baden (zwei Vorstellungen am 2.10.). Ihr Partner ist Carsten Jung, ehemaliger Erster Solist des Hamburg Ballett und auch in Baden-Baden bestens bekannt. Viele im Publikum nicken zustimmend, als sein Name fällt.
Ein Highlight folgt dem anderen: Eine »Gala-Werkstatt«, so nennt John Neumeier das heutige Programm. Schülerinnen und Schüler der Ballettschule des Hamburg Ballett sind am 4.10. im Museum Frieder Burda auf dem »Absprung« in die Ballettwelt. Sie zeigen teilweise preisgekrönte Choreografien in einem besonderen Ambiente. In einer spontanen Improvisation zur Musik von Queen reißen sie das Publikum fast von den Sitzen.
Aus einer spontanen Improvisation entsteht im besten Fall eine Choreografie. Dieser Herausforderung stellten sich im »Corona-Jahr« Tänzerinnen und Tänzer der Ballettschule. Das Solo vom Ballettschüler Samuel Winkler, »Suppress«, gewann sogar den Preis für die beste Choreografie beim Young Creation Award 2021 des internationalen Tanzwettbewerbs Prix de Lausanne (siehe Foto).
Das Bundesjugendballett, vor genau 10 Jahren von John Neumeier gegründet, ist ein Herzensprojekt von John Neumeier. Am 7. und 8. Oktober zeigen sie ihr Können auf der Akademie-Bühne im Stadtteil Cité. »John´s BJB-Bach«, eine Zusammenstellung von Ausschnitten aus ausgewählten Bach-Choreografien von John Neumeier. In der Ballett-Werkstatt tanzten sie »Opus 67« von Raymond Hilbert, denn auch dafür steht die Jugendcompagnie: Ballette von jungen Choreografinnen und Choreografen einzustudieren oder gar selbst Werke zu kreieren.
In der Ballett-Werkstatt durften natürlich auch nicht Ausschnitte aus den beiden John Neumeier-Balletten fehlen, die in der zweiwöchigen Residenz des Hamburg Ballett im Festspielhaus Baden-Baden gezeigt werden. Anhand einzelner Szenen, zum Beispiel aus dem Beginn seines Balletts »Tod in Venedig«, erklärte John Neumeier dem Publikum, wie er mit einer literarischen Vorlage umgeht und sie in ein Ballett übersetzt. Bei Thomas Mann ist Gustav von Aschenbach ein viel geehrter Schriftsteller. John Neumeier macht in seinem Ballett aus dem Schriftsteller einen Choreografen. Im Buch und im Ballett ist Aschenbach ein kreativer Künstler, der in eine Schaffenskrise gerät.
John Neumeiers »Tod in Venedig« ist in großen Teilen in Baden-Baden entstanden. Noch vor der offiziellen Uraufführung in Hamburg, gab es hier im Festspielhaus eine Vor-Premiere. Im November 2003 gab es eine thematisch passende Ballett-Werkstatt dazu. Eine Schulklasse wurde zu dieser Werkstatt eingeladen und hat ihre Eindrücke in kurzen Essays aufgeschrieben. Charlaine aus der Klasse 4c war begeistert vom Tanz im Allgemeinen. »Es war auch sehr faszinierend, wie sie immer auf einem Bein und auch noch auf Zehenspitzen stehen konnten. Am liebsten tät ich jeden Tag dort hingehen«. Eine passende Zeichnung schickte sie Herrn Neumeier dazu.
Als nächste Beispielszene aus seinem Ballett »Tod in Venedig« wählt John Neumeier die der beiden Wanderer aus. Diese fast irreal anmutenden Figuren tauchen im gesamten Stück immer wieder auf, in unterschiedlichen Kostümierungen, aber ihre Wirkung auf Aschenbach ist immer wieder die gleiche: Sie scheinen eine Art Todesboten zu sein, die Aschenbach in eine bestimmte Richtung lenken und sein Schicksal bestimmen.
Das Publikum bekam auch einen Einblick von der zweiten Besetzung, die am Sonntagabend in »Tod in Venedig« tanzen wird. David Rodriguez debütiert am Sonntag in der Rolle des Tadzio. An seiner Seite tanzt Edvin Revazov als Gustav von Aschenbach. Bei der Kreation von John Neumeiers Ballett in 2003 war Edvin Revazov als Tadzio zu sehen.
David aus der damaligen Klasse 4 (im November 2003) spricht über die erste Begegnung zwischen Tadzio und Aschenbach in Venedig: »Als Tadzio mit seiner Hand langsam wie in Zeitlupe liebevoll Aschenbach heraufzog, spürte ich ein gleiches Gefühl wie Aschenbach. Sehnsucht!«
Nach zwei Stunden reinem Tanzvergnügen und einer charmanten Moderation durch John Neumeier gab es rasenden Beifall und Bravo-Rufe für die Tänzerinnen und Tänzer und John Neumeier sowie Standing Ovations.
In Worten des Schülers Alessio, der 2003 eine Ballett-Werkstatt zum »Tod in Venedig« mit seiner Schulklasse besucht hat: »Ich muss Ihnen was sagen, Herr Neumeier: Sie sind ein prima Choreograph! Ich hoffe ich sehe Ihre Kunstwerke mal wieder«.
Nathalia Schmidt