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Abschied von Jean-Jacques Defago

Manchmal beginnt ein Lebensweg nicht mit einem lauten Paukenschlag, sondern mit einem stillen Zufall. So war es bei Jean-Jacques Defago, der seit 1979 ein fester Bestandteil des Hamburg Ballett ist. Bis 2000 tanzte er in John Neumeiers Compagnie, seitdem ist er Mitarbeiter der Abteilung Kommunikation und ist bis heute verantwortlich für die Webseite und digitale Inhalte. Nun ist es Zeit, Abschied von ihm zu nehmen.

Wie alles begann? Jean-Jacques war bereits 18 Jahre alt, als er durch einen Zufall erfuhr, dass es in seinem Geburtstort Monthey, einer Gemeinde im Kanton Wallis in der Schweiz, eine Ballettschule gab. Zwei Stunden Unterricht pro Woche – das war sein Einstieg in eine Welt, die bald sein Leben verändern sollte. Ein Jahr später, mit 19, besuchte er einen Sommerkurs in Cannes am Centre de Danse International von Rosella Hightower. Dort traf er auf die ehemalige Direktorin der Schule, Rosella Hightower, und dann nahm alles Fahrt auf. Sie trat auf ihn zu, beeindruckt von dem, was sie gesehen hatte. Und fragte ihn, auf welcher Ballettakademie er sei. Und er antwortete wahrheitsgemäß, dass er auf eine kleine Schule in einem Schweizer Dorf unterrichtet werde, nicht an einer renommierten Akademie. Als sie ihn fragte, ob er Tänzer werden wollte, zögerte er nicht lange – und sagte dann, ja, das wäre ein Traum, aber es sei unmöglich, wie solle er seinen Eltern sagen, dass er professionell tanzen möchte? Doch Rosella Hightower lächelte nur und sagte: »Sag nichts. Ich werde ihnen schreiben und deinen Eltern versichern, dass du eines Tages einen Job als Tänzer erhalten wirst.« Sie hielt Wort. Drei Wochen später packte er seine Sachen – und zog für drei Jahre zum Tanzstudium an die Ballettschule nach Cannes.

Pas de deux-Klasse beim Centre de danse international Rosella Hightower (Cannes) / Jean-Jacques Defago und Mylène Rathfelder

Nach seiner Ausbildung folgten zahlreiche Vortanzen: Genf, Zürich, Düsseldorf, München, Frankfurt – er hatte überall ein Angebot für ein Engagement. Und doch wartete er auf eine bestimmte Zusage: Hamburg. Damals war das Hamburg Ballett unter John Neumeier der Ort, an den alle wollten. Nur Hamburg ließ sich Zeit. 205 Bewerber*innen kamen damals zum Vortanzen. Er ging zurück nach Genf – und wartete. Dann, drei Wochen später, kam die Antwort. In Form eines Telegramms: »Jean-Jacques Defago. Centre de Dance Cannes. Offer contract letter follows. John Neumeier.« Er war überglücklich. Und Rosella Hightower sollte mit ihrer Aussage Recht behalten.

Telegramm (19.12.1978)

Ein Leben in Bewegung

In Hamburg begann ein neues Kapitel. Und er wollte nie wieder weg. Die Arbeit mit John Neumeier war einzigartig – kreativ, fordernd, inspirierend. Er sagt selbst, dass er nie der Tänzer mit der makellosen Technik war. Bei seinem Vortanzen in Hamburg sei es ihm zum ersten Mal gelungen, die double tours nach links auszuführen. Aber er konnte Geschichten erzählen, Rollen verkörpern, Emotionen auf die Bühne bringen. Und das tat er – über Jahre hinweg – auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper und auf Tourneen weltweit. In seinen 21 Jahren als aktiver Tänzer kreierte John Neumeier mit ihm mehrere Solorollen in seinen Balletten, darunter in »Requiem« und »Matthäus-Passion«.

»Requiem« (Premiere in Salzburg, 1991) / Anna Grabka und Jean-Jacques Defago © Holger Badekow

Zu seinem Repertoire gehörten u. a. eine Hauptrolle in »Tristan« und Soli in »Magnificat« sowie in der »Dritten« und »Fünften Sinfonie von Gustav Mahler«. Er war auch in Balletten von Jerome Robbins, José Limón, Antony Tudor und George Balanchine zu sehen. In späteren Jahren tanzte er häufig noch als Bruder Lorenzo in »Romeo und Julia« oder als Herzog in »Die Kameliendame«.

Probe von »Tristan« (Hamburg, 1985) / Choreografie: John Neumeier / Gigi Hyatt und Jean-Jacques Defago © Holger Badekow

Mit Anfang 40 wurde es auf der Bühne etwas ruhiger für ihn. Und er fand langsam seinen Weg in andere Bereiche der Compagnie. Zunächst half er in der Presseabteilung aus. Als der damalige Pressesprecher plötzlich zur Metropolitan Opera wechselte – mitten in der Spielzeit – übernahm er kurzerhand dessen Aufgaben. Und das direkt vor einer wichtigen Paris-Tournee im Jahr 2000, bei der die Compagnie John Neumeiers Ballett »Illusionen – wie Schwanensee« im Théâtre du Châtelet tanzte. Er übersetzte Teile des Programmheftes ins Französische. Ganz selbstverständlich. Er musste Yves Saint Laurent in der Vorstellung begleiten und dann auf der Bühne (er kam gleich zweimal zur Vorstellung). Der Modeschöpfer wollte mit John Neumeier sprechen, er war begeistert von seiner Arbeit und interessiert an einer Zusammenarbeit, leider kam es nie dazu. Später wurde Saint Laurent krank und starb 2008. Doch allein die Vorstellung dieser Zusammenarbeit lässt noch heute etwas in Jean-Jacques leuchten.

Ausschnitt aus einem Artikel in »Die Welt« (4.12.1998) über die Hamburg Theater online: Wie sich Hamburger Bühnen im Internet präsentieren © Die Welt

Erster im Netz

Ende der 90er-Jahre, das Internet steckte noch in den Kinderschuhen, hielt er zum ersten Mal ein Computer in den Händen. Und sah, dass das American Ballet Theatre eine eigene Website hatte. Kein Profi, keine Agentur hatte sie gestaltet, sondern eine Tänzerin der Compagnie. Er war fasziniert – und wollte das auch. Er lieh sich einen Computer, brachte sich HTML und Webdesign autodidaktisch bei. Was er aufbauen wollte, war mehr als eine Seite mit einer Telefonnummer für den Ticketverkauf. Er wollte mehr: Stückinformationen sammeln, Spielpläne, Biografien der Tänzer*innen und Hintergründe – ein echtes digitales Archiv. 1998 ging der erste Online-Auftritt des Hamburg Ballett live. Komplett selbst erstellt. Nicht programmiert im klassischen Sinn, aber gestaltet, strukturiert, organisiert – aus dem Nichts. Vorlagen oder Templates gab es nicht. Alles war damals noch Handarbeit. Nach etwa 15 Jahren entschied er sich, die Ballettseite mit der Website der Staatsoper zu integrieren. Der Aufwand wurde größer, der Pflegebedarf stieg. Auch visuell war der ursprüngliche Auftritt nicht mehr zeitgemäß. Die Fusion war der logische Schritt. Doch bis zum Sommer 2025 pflegt er die Eingabe der Daten und Informationen selbst.

»Die vier Temperamente« (1983) / Choreografie George Balanchine / Eileen Brady und Jean-Jacques Defago © Holger Badekow

»Ich bin einfach stur«, sagt er heute. Und meint das als eine seiner größten Stärken. Er sei ohne klassische Ausbildung und vom Alter her recht spät Tänzer geworden, und er habe ohne Vorkenntnisse eine professionelle Website aufgebaut. Was ihn dabei stets begleitet hat: ein Auge für das Visuelle. In Hamburg erlebte er die enge Zusammenarbeit zwischen John Neumeier und dem Designer Peter Schmidt – und lernte viel durch bloßes Beobachten. Warum machte Peter Schmidt etwas so und nicht anders? Dieses Gefühl für Gestaltung hat er sich im Laufe der Jahre angeeignet.

Und jetzt, ein Leben im Dolce Vita? Nicht nur! Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs ist er zwar gerade in Nervi, einem Stadtteil in Genau, wo gerade das Nervi International Ballet Festival stattfindet unter der neuen künstlerischen Leitung von Jacopo Bellussi – ehemaliger Erster Solist des Hamburg Ballett. Aber ein neues Projekt wartet schon: Die Pflege bzw. der Aufbau der Webseite der John Neumeier Stiftung. Dort finden sich bislang nur ein Werkverzeichnis mit Titeln und Jahreszahlen der über 170 Ballette des Choreografen. Er arbeitet daran, die Seite zu erweitern, mit Kontexten, Bildern und Hintergrundinformationen. Weil es wichtig ist und diese Arbeit ihm schon immer großen Spaß gemacht hat.

Lieber Jean-Jacques, danke, dass du über 45 Jahre lang Teil des Hamburg Ballett warst, wir werden dich hier sehr vermissen!

Nathalia Schmidt