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Svetlana Lunkina zu Anna Karenina

John Neumeiers »Anna Karenina« entstand als Koproduktion zwischen dem Hamburg Ballett, dem Ballett des Bolschoi Theaters und dem National Ballet of Canada. Die russische Startänzerin Svetlana Lunkina war die Premierenbesetzung der Anna Karenina beim National Ballet of Canada. Am 11. Mai ist sie gemeinsam mit ihren kanadischen Kollegen Harrison James als Alexej Wronski und Félix Paquet als Lewin zu Gast in der Hamburgischen Staatsoper. In einem Gespräch erzählt sie uns von ihren Eindrücken zur Rolle Anna Karenina.

Svetlana, John Neumeier hat dir die Titelrolle seiner Ballettadaption von »Anna Karenina« für die Premiere am National Ballet of Canada im November letzten Jahres in Toronto anvertraut. Wie hast du die Zusammenarbeit mit John Neumeier erlebt?

Svetlana Lunkina: Mit John zusammenzuarbeiten ist auf so viele Arten sehr besonders. Jedes Mal kann ich es kaum erwarten, dass er in das Studio kommt und ich mit ihm arbeiten kann. »Anna Karenina« war ja nicht die erste Zusammenarbeit mit ihm. Ich habe davor »Nijinsky« und »Endstation Sehnsucht« mit ihm gemacht. Es ist immer wieder herausfordernd, sehr interessant und emotional. Mit John erlebe ich alle Emotionen, die ich aus meinem Leben kenne, an einem Tag. Wenn man mit ihm arbeitet, dann muss man lernen, natürlich, emotional und menschlich zu sein, aber trotzdem in der Rolle zu bleiben.

Wenn ich dann nach den Proben alleine bin, fühlt es sich so an, als wäre er immer noch bei mir. Ich denke weiter darüber nach, was er gesagt hat, über jedes Detail. Wenn ich mit John zusammenarbeite, dann gibt es nichts anderes mehr. Unterwegs auf der Straße oder zuhause im Bett denke ich: »Was haben wir heute gemacht? Was kann ich morgen besser machen? Wie kann ich wachsen? Wie kann ich mich noch besser ausdrücken?«
Ich weiß jedes Mal, dass es nicht einfach wird. Es ist eine Herausforderung – im positivsten Sinne! Es ist wichtig, offen zu bleiben und fähig zu sein, selbst wenn man die Schritte kann, jedes Mal mehr zu wagen, Tag für Tag. Ich liebe es einfach, mit John zu arbeiten!

Svetlana Lunkina und Harrison James tanzen Anna Karenina und Alexej Wronski am 11. Mai in Hamburg © Kiran West

Es gibt verschiedene Film-, Theater- und choreografische Adaptionen des Romans von Leo Tolstoi. Darunter ist ein Ballett, das 1974 vom Ballett des Bolschoi-Theaters mit Maya Plisetskaya und Alexander Godunov in den Hauptrollen gezeigt wurde. Die Rolle der Anna Karenina ist sehr komplex und facettenreich – emotional und physisch. Wie bist du an diese Rolle herangegangen und worin liegt für dich die Herausforderung in der Interpretation der Figur?

Wir haben uns natürlich die Filme, die unterschiedlichen Ballette und das Buch angesehen. Aber das Interessante an Johns Ballett ist, dass er nicht einfach das Buch in ein Ballett verwandelt hat. Leo Tolstoi war zwar seine Inspiration, aber das Ballett ist seine Interpretation, es sind Johns Gefühle.

John konnte nicht jedes Detail über jeden Charakter in seinem Ballett ausarbeiten. Er hat immer wieder gesagt: »Ich habe keine fünf oder sechs Stunden Zeit!« Das Ballett ist sein Blick auf die Charaktere und erzählt die Geschichte sehr kompakt. Daher hat er mir klargemacht, dass ich in jeder Szene sehr anders sein muss. Weil keine Übergänge oder Entwicklungen auf der Bühne dargestellt werden, gibt es in jeder Szene eine neue Anna mit neuen Gefühlen in neuen Situationen. Das war am Anfang wirklich nicht einfach für mich, denn Anna ist fast immer auf der Bühne.

Und weil die Bewegungen natürlich sein sollen, kann man die verschiedenen Reaktionen und Gefühle nicht einfach »spielen«, ich muss die Emotionen wirklich fühlen. Das hat seine Zeit gebraucht und diese Entwicklung hört nicht auf. Ich muss immer wieder einen neuen Weg finden, um das, was Anna erlebt, auszudrücken. Besonders wenn John dabei ist, ist es unglaublich: Seine Anwesenheit und auch eine neue Compagnie verändert alles. Ich kann manche Dinge nicht genau gleich machen wie zuvor, weil die unterschiedlichen Tänzer neue Impulse geben. Jeder ist in seinem Charakter und man reagiert aufeinander. Weil jeder Tänzer einzigartig ist, führt das zu neuen Reaktionen – auch bei mir. Ich denke mir dann: »Wow, du hast gerade total anders reagiert!«

John sagt: »Ich will nicht das sehen, was ich gestern gesehen habe. Ich will mehr!« Man muss sich immer weiterentwickeln, jeden Tag sein Bestes geben. Selbst wenn du heute das Beste gegeben hast, sieht dein Bestes von morgen vielleicht anders aus.

Eine Szene aus »Anna Karenina« mit Svetlana Lunkina und Harrison James als Hauptpaar © Kiran West

John Neumeier überträgt die Geschichte der Figur Anna Karenina aus dem 19. Jahrhundert in die Gegenwart. Worin liegt deiner Meinung nach die moderne Relevanz und Zeitlosigkeit von »Anna Karenina«?

Jeden Moment aus »Anna Karenina« können wir in irgendeiner Form in unserem eigenen Leben finden – so geht es auf jeden Fall mir. Als ich das Ballett zum ersten Mal getanzt habe, musste ich an mein eigenes Leben denken und wie ich auf Dinge, die mir passiert sind – gut und schlecht – reagiert habe. Die Emotionen, die in der Geschichte vorkommen, kennt jeder, egal in welcher Zeit – sie sind zeitlos. Ich mag es, dass John das Ballett in unserer Zeit angelegt hat. Man muss als Tänzer nicht über historische Kostüme oder sowas nachdenken. Es ist so viel näher an einem selber dran, näher an dem eigenen Leben, am eigenen Herz, näher an dem, was man ist. Dadurch kann man die Gefühle stärker transportieren.

Lisa Zillessen und Katerina Kordatou

Im ersten Teil der Serie »3 Fragen an Anna Karenina« haben wir mit unserer Solistin Xue Lin über ihr Debüt als Anna Karenina gesprochen.