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Ein Gesamtkunstwerk

»Beethoven-Projekt II« ist die zweite Zusammenarbeit der Weltstars John Neumeier und Kent Nagano. Auch wenn der Hamburgische Generalmusikdirektor sich seit Jahrzehnten intensiv mit Beethovens Werken befasst hat, zeigt er sich von der künstlerischen Originalität des neuen Balletts beeindruckt. Im Online-Interview am 16. April 2021 – sechs Wochen vor der Uraufführung – lässt er keinen Zweifel daran, dass dieses außergewöhnliche Werk Begeisterung auslösen wird: beim Publikum wie auch bei den Mitwirkenden.

Welchen Stellenwert hat das Orchester in diesem Ballett? Das Bühnenbild weist ihm einen Platz genau in der Mitte zu, wodurch Tanz und Musik als aufeinander bezogene Formen des künstlerischen Ausdrucks erscheinen.

Kent Nagano: Wie in »Turangalîla« spiegelt »Beethoven-Projekt II« Johns herausragende Begabung, die Grundidee von Ballett zu vermitteln. Er hat ein Gesamtkunstwerk geschaffen, nicht nur ein Tanzstück mit Orchesterbegleitung. Er verwandelt die Idee von Ballett derart umfassend, dass alle Kunstgattungen organisch einbezogen sind. In diesem Fall stellt das Orchester den »Inhalt« des Abends bereit, aber auch den zugrundeliegenden Energie-Puls und das Medium, durch das sich die Tänzerinnen und Tänzer ausdrücken können. Zugleich sind wir ein sichtbarer Teil des Bühnenbilds, interessanterweise auch die Solisten. Durch diesen facettenreichen Ansatz sind die Tänzer als Künstler gänzlich frei. Sie tanzen zwischen den Musikern, aber auch vor, über und hinter dem Orchester, dem Dirigenten und den Solisten. Die Kunst wandelt sich zu einer Form des umfassenden, aktiven und universellen Austauschs. Für mich wirft dies ein besonderes Licht auf Johns ungewöhnliches Genie: seine Fähigkeit, mit dem Tanz ein Medium zu erschaffen, in dem sich humanistische Ideale ausdrücken lassen. Es gibt historische Vorbilder für diese Art des künstlerischen Ausdrucks, aus Zeiten »obrigkeitlicher Unterdrückung«.

In »Beethoven-Projekt II« spielt das Philharmonische Staatsorchester Hamburg auf der Bühne, Kent Nagano leitet das Orchester © Kiran West  

Auch Beethoven lebte in solch einer Epoche: mit dem Wiener Kongress, auf den die Restaurationszeit folgte. Aufgrund seiner bekannten liberalen Ansichten und seiner Befürwortung von Demokratie und den Idealen der Französischen Revolution wurde er sogar unter eine Art Hausarrest gestellt. In dieser Zeit wurden Tanz und Hausmusik sehr wichtig, denn man konnte in dieser abstrakten Kommunikationsform seine Haltung zum Ausdruck bringen – sogar Widerspruch zur vorherrschenden Politik –, ohne sich durch die Verwendung konkreter Wörter unmittelbar in Gefahr zu begeben. Private Musikzirkel dieser Zeit erschlossen zudem die Idee der Gleichheit: Viele Frauen wurden exzellente Musikvirtuosinnen, die mit ihren Fähigkeiten, ihrer Ausstrahlung und ihrem Charakter oftmals die Männer in den Schatten stellten! Man denke an Clara Schumanns glanzvolle Karriere, um nur ein Beispiel zu nennen. Etwas Ähnliches finden wir in Johns Konzept für ›Beethoven-Projekt II‹. Mit Ausnahme von Klaus Florian Vogts kurzer Intervention – dem ersten Rezitativ und der folgenden Arie aus »Christus am Ölberge« – teilen sich die Emotionen und der spirituelle Gehalt des Balletts dem Publikum auf einer abstrakten Ebene mit. Jeder Zuhörer ist gezwungen, sich bei der Vorstellung als kreativ Denkender einzubringen. Jeder wird mit verschiedenen Eindrücken und Ideen aus der Oper gehen. Aus unserer Sicht als Musiker erlaubt dies eine enorme Freiheit, eine Verbindung mit dem Publikum aufzubauen.

Kent Nagano, Klaus Florian Vogt und Musiker*innen des Philharmonischen Staatsorchesters bei einer gemeinsamen Probe mit dem Ensemble des Hamburg Ballett © Kiran West  

Wie Sie schon erwähnten, vereint »Beethoven-Projekt II« verschiedene Musikgattungen. In den Jahren nach der Jahrtausendwende erregten Sie Aufmerksamkeit mit Ihren Berliner Konzertprogrammen, die Kammermusik und sinfonisches Repertoire kombinierten. Macht es einen grundlegenden Unterschied, wenn man Tanz hinzufügt?

Ja, sicherlich. Es erinnert mich an eine Fragestellung, die heutzutage viel diskutiert wird: die scheinbare Ergänzungsbedürftigkeit abstrakter oder sinfonischer Musik um visuelle Elemente mit dem Ziel, Aufführungen »leichter zugänglich« zu machen. Mich beunruhigt die Debatte zutiefst, denn sie setzt voraus, dass klassische Musik für das breite Publikum schwer verständlich ist. Wenn es ein Problem gibt, dann liegt das sicher nicht an Beethoven, auch nicht an Mozart, Brahms oder Mendelssohn. Eher kann es zum Problem werden, in welcher Weise, auf welchem künstlerischen Niveau und in welchem Zusammenhang wir ihre Werke aufführen. In Sinfoniekonzerten wird viel mit Videos und allen möglichen visuellen Reizen experimentiert, aber diese Experimente bieten nur Unterhaltung oder Ablenkung, ohne dem Publikum zu helfen, die Tiefe und grundlegende Bedeutung der Werke zu verstehen.

Das Ensemble des Hamburg Ballett mit Musiker*innen des Philharmonischen Staatsorchesters proben die Siebte Sinfonie © Kiran West  

Im Gegensatz dazu ist Johns Choreographie in »Beethoven-Projekt II« völlig unabhängig. Die visuellen Elemente, die er Beethovens Siebter Sinfonie hinzufügt, konzentrieren sich auf den künstlerischen Gehalt und regen das Zusammenwirken von Publikum und der Kunstform Musik an. Paradoxerweise kann eine solche Abstraktionsebene die Musik weniger leicht verständlich machen. John aber erschafft einen mehrdimensionalen Dialog, sodass wir als Publikum ermutigt sind, Teil der Aufführung zu werden, anstatt uns nur passiv zurückzulehnen und uns unterhalten zu lassen. Auf diese Weise wird die Musik ein natürlicher Teil unseres Lebens, sie spricht uns direkt und persönlich an.

John Neumeier steht im engen Austausch mit den Hamburger Behörden, um Möglichkeiten für eine Wiedereröffnung der Oper für unser Publikum zu verhandeln.

John und ich tauschen uns darüber immer wieder aus. Die Lage in der Covid-19-Pandemie ist absolut frustrierend, weil so vieles, was wir über das Corona-Virus wissen, begrenzt ist – so vieles ist ein Rätsel. Diese Zeit hält sicher eine kaum lösbare Aufgabenstellung für alle Regierungsvertreter bereit, denn es gibt keine klaren Antworten, dagegen zuhauf widersprüchliche Informationen, und die Zielsetzungen müssen permanent an eine sich ständig ändernde Lage angepasst werden. Alle sind verletzlich. Alles andere ist unsicher, und dieser Umstand eröffnet ein breites Spektrum unterschiedlicher Ansichten. In einigen Regionen der Vereinigten Staaten kann man öffentliche Verkehrsmittel benutzen, ins Restaurant, in Geschäfte und zu Sportveranstaltungen gehen – wenn auch mit reduzierter Zuschauerzahl –, aber man darf keine Sinfoniekonzerte besuchen, keine Ballett- und Opernaufführungen.

Die Geschichte lehrt uns, dass es ein ernster und gefährlicher Fehler wäre, Kunst und Kultur zu unterschätzen – dieses Fundament unserer Identität, unserer gesellschaftlichen Werte und unseres Gefühls für Lebensqualität –, es würde enorme Konsequenzen nach sich ziehen. Obwohl das Überleben entscheidend von der Verfügbarkeit von Nahrung und einem Obdach abhängt, benötigen wir Menschen mehr als das nackte Überleben, um zu gedeihen. Diese »Menschlichkeit« unterscheidet uns von der Welt der Tiere wie auch der Technik. Während wir als Gesellschaft darum kämpfen, den richtigen Weg zu finden, ist Johns innere Einstellung und Energie, mit der er um unsere Kunst kämpft, eine Haltung, die wir uns als Menschen unbedingt zu eigen machen sollten. Während die Pandemie andauert, diskutieren Politiker, was Priorität haben soll. Diese Debatte können wir nicht gewinnen. Trotzdem wird man jederzeit fühlen, vielleicht nur unterbewusst, dass die seelische Nahrung, die sich aus Schönheit, Natur und Kreativität speist, immer unentbehrlich bleiben wird für ein erfülltes Leben.

Jörn Rieckhoff