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»Musik, die mir nahekommt«

John Neumeier im Gespräch mit Jörn Rieckhoff anlässlich der Uraufführung von »Beethoven-Projekt II«

»Beethoven-Projekt II« ist eine neu konzipierte Premiere, die das ursprünglich geplante Werk Beethoven 9 ersetzt. Wie kam dieser Wechsel zustande? Der wesentliche Impuls bestand offenbar darin, dass Sie nicht von Ihrem Anspruch einer Uraufführung mit Live-Musik unter der Leitung von Generalmusikdirektor Kent Nagano abrücken wollten.

John Neumeier: Es wäre mir nie eingefallen, in der Hamburgischen Staatsoper die Premiere von so einem gewichtigen Werk wie der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven mit aufgezeichneter Musik anzubieten. Meine Ideen konzentrierten sich darauf, wie eine angemessene Ehrung von Beethoven im Jubiläumsjahr seines 250. Geburtstags doch noch möglich wäre. Diese Überlegung hat mich zurückgeführt zu meinen Gefühlen und Erfahrungen mit dem »Beethoven-Projekt«, in dem ich 2018 zentrale Werke Beethovens zusammenstellte, die durch das »Eroica-Thema« verbunden sind. Am Ende der damaligen Arbeit blieb das Gefühl: Meine Beschäftigung mit diesem Komponisten ist bei Weitem nicht abgeschlossen. »Beethoven-Projekt II« ist kein Ersatz-Programm. Eher könnte man von einem Vorziehen in meiner langfristigen Beschäftigung mit Beethoven sprechen, denn dieses Werk hätte auch nach einem Ballett zur Neunten Sinfonie entstehen können.

Madoka Sugai, Alexandr Trusch und Ensemble in »Beethoven-Projekt II« © Kiran West  

Für mich ist das Interessante an der Arbeit mit Beethoven: Man hat zu tun mit einem großen Genie der Musikgeschichte, das ich mir immer wie auf einem Sockel stehend vorstelle. Ich persönlich habe seine Musik immer mit großer Verehrung – ja mit Respekt und Bewunderung angehört. Die Tatsache, dass man mit dieser Musikarbeitet, dass diese Musik zu einer Art »Werkzeug« – ein furchtbares Wort! – für die Erarbeitung eines neuen Kunstwerks wird, bedarf einer ganz anderen Art, mit dieser Musik umzugehen.  Ich hole sie vom Sockel herunter – die Musik wird intim. Sie ist nicht mehr nur das Werk eines bewunderten Meisters, sie muss etwas ganz Nahes werden – für mich persönlich, damit ich damit arbeiten kann. Ich darf sie beim Hören nicht mehr nur »schön« finden, ich muss mich darin wiederfinden. Um es zusammenzufassen: Meine neue Kreation ist ein sehr aufregendes Projekt. Für mich ist es eine Überraschung zu erleben, wie Beethovens Musik eine gewisse Intimität gewinnt: kein unerreichbares Meisterwerk, sondern Musik, die mir sehr nahekommt. Es ist überaus faszinierend, Beethovens Musik zu meiner eigenen werden zu lassen!

»Beethoven-Projekt II« mischt Solo-Klaviermusik, Kammermusik und Orchestermusik – sogar mit Solo-Gesang. Vor zwei Jahrhunderten wäre das nichts Ungewöhnliches, in unserem heutigen Kulturbetrieb gibt es kaum Vergleichbares. Was hat Sie zu dieser Zusammenstellung bewogen?

Die Verbindung von einem Oratorium und einer Sinfonie wäre zu Beethovens Zeit tatsächlich nichts Ungewöhnliches. Wie man nachlesen kann, waren Programme mit verschiedenen Besetzungen damals an der Tagesordnung. Bei Kombinationen mit Kammermusik muss man allerdings berücksichtigen, dass sie eher für Privataufführungen gedacht waren. Meine Repertoire-Auswahl für »Beethoven-Projekt II« hat nicht zuletzt pragmatische Gründe. Für die Neunte Sinfonie hatte ich einen meiner liebsten Sänger vorgesehen, Klaus Florian Vogt. Ich habe mich sehr darauf gefreut, wieder mit ihm zu arbeiten. Als klar wurde, dass wir das geplante Werk nicht umsetzen könnten, habe ich das Beethoven-Repertoire regelrecht danach durchsucht, was trotz allem die Weiterführung seines Vertrages ermöglichen könnte. Dabei bin ich auf »Christus am Ölberge« gestoßen – ein Werk, von dem ich gelesen, aber das ich bis dahin nie vollständig gehört hatte. Innerlich habe ich sofort Klaus Florian vor mir gesehen und seine Stimme gehört.

Aleix Martínez mit Klaus Florian Vogt (Tenor) und Mari Kodama (Klavier) sowie das Philharmonische Staatsorchester Hamburg während einer Probe von »Beethoven-Projekt II« © Kiran West  

Diese Vorentscheidung beeinflusste auch, dass der Abend »Beethoven-Projekt II« heißt und nicht einen romantischen Titel wie »An die ferne Geliebte« bekam – was vielleicht öffentlichkeits-wirksamer wäre. Genau wie mein erstes abendfüllendes »Beethoven-Ballett I« betrachte ich die neue Kreation als Projekt: Es gibt keine nacherzählbare Handlung, es ist kein choreografisches Porträt, auch kein rein sinfonisches Werk. »Beethoven-Projekt II« basiert auf der Faszination und Verbindung eines Choreografen zu einem großen Musiker, in Verbindung mit einer Auswahl von Werken, die ihm zusagen. Diese Werke lassen eventuell biografische Fragmente erahnen; durch die Improvisation zu dieser Musik erfahre ich sie zugleich als geniale Tanzmusik – eine Musik für Tanz in seiner reinsten Form. Mein neues »Beethoven-Projekt« ist wie ein Bouquet aus verschiedenen Farben – musikalischen sowie choreografischen.

Mit Ausnahme der Siebten Sinfonie haben Sie Werke Beethovens gewählt, die im zeitlichen Umfeld des »Heiligenstädter Testaments« entstanden. Steht dahinter eine bewusste Entscheidung?

Die Auszüge aus »Christus am Ölberge« stellen eine Verbindung her zum Leben von Beethoven. Wie einige Wissenschaftler sehe ich einen Zusammenhang zum sogenannten »Heiligenstädter Testament«. Das Seltsame am Oratorium ist, dass es nur das biblische Geschehen am Gründonnerstag thematisiert – bevor das eigentliche, das physische Leiden Christi beginnt. Es ist eine Vorahnung, ein rein innerlicher Kampf, und ein Gebet, dass die Passion bitte nicht stattfinden möge. Das kann man interpretieren als Beethovens eigenes Gebet, komponiert zu einer Zeit, als ihm klar wurde, dass er sein Gehör endgültig verlieren würde. Wie Christus scheint er in seiner Musik darum zu bitten, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen möge. Insofern ist meine Choreografie eher von der Biografie Beethovens angeregt, weniger von der biblischen Passionsgeschichte.

Ida-Sofia Stempelmann und Atte Kilpinen eröffnen den Ersten Satz der Siebten Sinfonie von Ludwig van Beethoven © Kiran West

Die Siebte Sinfonie sehe ich auf einer ganz anderen Ebene. Das Werk ist bekannt als Beethovens tänzerischste Sinfonie, die am meisten auf rhythmischen Impulsen basiert. Daher sind alle Gedanken an eine narrative Handlung abwegig. Meine Choreografie ist eine Hommage an den Ursprung des Tanzes. Hier sollte man den reinen, puren Tanz zu dieser Musik erleben, ja genießen! »Beethoven-Projekt II« bedeutet für mich die Auseinandersetzung eines Choreografen mit verschiedenen Arten von Musiken, die zu verschiedenen Arten von Choreografien führen: teilweise als Fragmente von biografischen Bildern, aber manchmal auch einfach als Tanz, den diese Musik auslöst. Als ich die Musik für diesen Ballettabend zusammenstellte, schrieb ich in mein Notizbuch: Das Ballett ist nicht eine neue Aussage von mir über Beethoven, sondern ich suche und freue mich auf das, was Beethovens Musik mir erzählt.

Jörn Rieckhoff