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Jedes Mal ein Privileg

James Conlon wird als international gefragter Dirigent auf beiden Seiten des Atlantiks hochgeschätzt. Seit 2006 ist er »Music Director« der Los Angeles Opera. Für das aktuelle Gastspiel mit John Neumeiers »Matthäus-Passion« hat er die musikalische Leitung dieser Ballettproduktion übernommen. Ein Ereignis mit Seltenheitswert, wie er in seinem Büro gegenüber Jörn Rieckhoff bekennt.

Wie haben Sie die Corona-Beschränkungen seit März 2020 empfunden?

James Conlon: Es verging fast auf den Tag genau ein Jahr zwischen meiner letzten Aufführung in Europa (»Eugen Onegin« an der Oper in Rom) und meiner ersten Probe in Europa. In dieser Zeit war ich zu Hause, und ich muss sagen, es hatte auch sein Gutes. Meine Töchter kamen zu uns und wir verbrachten das Jahr zusammen als Familie. Einmal sagte meine jüngere Tochter: »Papa, ich habe Dich noch nie jeden Tag zum Abendessen gesehen.« – Es gab also viele tolle Momente, die wir gemeinsam erlebten.

Im vergangenen März fingen die Projekte wieder an, unter anderem mit dem Deutschen Symphonie-Orchester in Berlin, einem der wenigen Orte, wo man versuchte, etwas zu machen. Es war noch ohne Live-Publikum. Aber nach und nach gab es auch wieder Konzerte mit Publikum im Saal. In Los Angeles führten wir am Saisonbeginn zur Wiedereröffnung »Il Trovatore« und »Tannhäuser« auf. In den meisten Häusern, in denen ich dirigiere, liegt die Auslastung zwischen 50 und 60 %. Das ist der derzeitige Stand, und es ist unsere Aufgabe, klassische Musik in einer herausfordernden Zeit zu bewahren. Sie wird sicher zurückkommen. Und John hat recht: je eher, desto besser.

James Conlon (c) Dan Steinberg

Wann haben Sie John zum ersten Mal getroffen? Natürlich weiß ich von Ihrer Zusammenarbeit bei »Orpheus and Eurydice« 2018 an der LA Opera.

Das war vor »Orpheus«. Selbstverständlich wusste ich alles über ihn. Ich bin kein Ballettmensch, aber jeder weiß, wer John Neumeier ist. Ich traf ihn vor etlichen Jahren, als ich das Silvesterkonzert des NDR-Orchesters in der Elbphilharmonie in Hamburg dirigierte. Zu jener Zeit gab das Hamburg Ballett Aufführungen von Johns »Weihnachtsoratorium I-VI«. Natürlich habe ich es mir in der Hamburgischen Staatsoper angesehen, und dort traf ich nach der Aufführung John auf der Bühne.

Dann kam »Orpheus«. Ich hatte viel Freude an der Zusammenarbeit. Als sich die Möglichkeit abzeichnete, dass wir die »Matthäus-Passion« zusammen aufführen könnten, habe ich sofort und mit Begeisterung reagiert: »Ja, das müssen wir unbedingt machen!«

Momentaufnahme aus John Neumeiers »Matthäus-Passion« im Dorothy Chandler Pavilion in Los Angeles (c) Kiran West

Choreographie und Musik haben jeweils ihre eigenen Ansprüche, und sowohl Sie als auch John können auf eine erfolgreiche internationale Karriere zurückblicken. Wie kann man sich die Zusammenarbeit von Ihnen beiden vorstellen?

Das Vokabular von Musik und von Tanz sind unterschiedlich. Es sind beinahe zwei verschiedene Welten. Um ehrlich zu sein, habe ich fast systematisch jede Anfrage abgelehnt, Tanz in irgendeiner Form zu dirigieren. Als junger Mann habe ich meine Erfahrungen gemacht, und ich verstand, dass die musikalischen Kompromisse, die meinem Empfinden nach nötig wären, mir einfach nicht zusagten. Ich vermied das mein Leben lang, aber für John habe ich eine Ausnahme gemacht – weil er John Neumeier ist, weil die Bedeutung seiner Kunst es wert ist, einen Teil von mir im Dienst dieser Zusammenarbeit aufzugeben.

»Matthäus-Passion« ist eine Choreografie, die John vor mehreren Jahrzehnten kreiert hat. Sie wurde mit einem anderen Dirigenten konzipiert, der seine Ideen und Gefühle zu Tempofragen hatte, und es ist ganz natürlich, dass das nicht meine sind.

Wir sollten aber nicht nur über Unterschiede sprechen. Bei vielen der Tempi kann ich genau das machen, was ich mir ohnehin vorstelle. Zufällig entsprachen sie auch Johns Vorstellungen, und John hat sich seinerseits flexibel gezeigt. Wenn ihm etwas wirklich wichtig ist, sagt er es mir, etwa: »Wir können das nicht machen«, oder: »Wir könnten es machen, aber es ergibt keinen Sinn und drückt nicht die Gefühle aus, die wir benötigen.« Und dann versuche ich, es zu verstehen und mich anzupassen.

Das LA Opera Orchestra unter der Leitung von James Conlon, das Ensemble des Hamburg Ballett und der LA Opera Chor bei einer Aufführung der »Matthäus-Passion« im Dorothy Chandler Pavilion in Los Angeles (c) Kiran West

Bitte beschreiben Sie den Probenprozess auf der Bühne des Dorothy Chandler Pavilion.

Wir hatten vergleichsweise wenig Zeit auf der Bühne. Die 48 Stunden waren extrem herausfordernd, denn wir hatten am Ende nur eine Probe, um alles zusammenzubringen. Dazu ist die Aufstellung mit den Chören im hinteren Teil der Bühne eine enorme Herausforderung für mich und das Orchester, weil wir den Chorklang nicht direkt hören.

Ich hätte es vorgezogen, die Chöre direkt vor dem Publikum zu platzieren, anstatt der ersten Sitzreihen – oder auf den Seitenbühnen für eine bessere Raumwirkung. Das wäre wunderbar gewesen! Jede Alternative ließ sich jedoch aufgrund der Corona-Beschränkungen des Los Angeles County nicht umsetzen. Glücklicherweise hat es sich im Laufe der Proben allmählich eingespielt und inzwischen weiß jede und jeder, mit der Situation umzugehen.

James Conlon dirigiert die Aufführungen der »Matthäus-Passion« in Los Angeles (c) Dan Steinberg

Wir sind sehr dankbar für Ihre Energie und Vorfreude, die Sie in die Planung unseres gemeinsamen Projekts eingebracht haben, John und das Hamburg Ballett nach Los Angeles einzuladen.

Christopher Koelsch und ich waren sofort Feuer und Flamme. Jetzt, da alle zusammengekommen sind, erlebe ich es als einen großartigen Moment. Ich liebe die Zusammenarbeit mit John! Die »Matthäus-Passion«zu dirigieren, ist jedes Mal ein Privileg. So etwas über mehrere Wochen zu erleben – das ist wirklich wunderbar!

Jörn Rieckhoff