Rund um den Ü-Wagen – wie der SWR John Neumeiers »Ghost Light« aufzeichnet
Auf dem Parkplatz hinter dem Festspielhaus Baden-Baden hat der SWR eine regelrechte Siedlung eingerichtet. Neben dem großen Ü-Wagen sind mehrere Container aufgebaut. Die Türen stehen meist offen. Wer vorbeikommt, wird freundlich gegrüßt. In diesem Setting entsteht die hochkarätige Aufzeichnung von John Neumeiers jüngstem Ballett »Ghost Light«. Das Hamburg Ballett ist für vier Aufführungen und eine Ballett-Werkstatt zum traditionellen Herbstgastspiel angereist. Auch wenn Abstandsgebot und Hygienekonzept eine weitgehende Trennung von künstlerischer Produktion und Aufzeichnung vorsehen, waren Fernsehredakteur Harald Letfuß und Produktionsleiter Heinz-Jürgen Hilgemann gerne bereit, einen Einblick in ihre Arbeit beim SWR zu geben.
Das Festspielhaus-Publikum feierte die Premiere von »Ghost Light« mit Standing Ovations. Wie ist die Stimmung rund um den Ü-Wagen?
Heinz-Jürgen Hilgemann: Großartig! Immer wieder kommen Kollegen vom Ballett vorbei und sagen: „Es ist so toll mit Euch!“ Wir freuen uns, wieder ein John Neumeier-Ballett in die Welt zu bringen. In einer Zeit, in der nur 500 Zuschauer im Festspielhaus sein dürfen, kommen wenigstens durch den weltweiten Livestream viele Menschen in den Genuss dieser Aufführung.
Harald Letfuß: Die Motivation für dieses Projekt ist besonders groß, weil durch den Lockdown mehr als zwei Monate lang bei uns gar nichts ging. Als ich im Frühsommer andeutete, dass Gespräche mit dem Festspielhaus für ganz großes Ballett laufen, gab es regelrechte Jubelrufe.
Bei welcher Gelegenheit haben Sie John Neumeier kennengelernt?
Harald Letfuß: Die erste Begegnung war »Tod in Venedig« 2004 im Festspielhaus, eine Aufzeichnung mit dem gleichen Aufwand wie bei »Ghost Light«. Seitdem ist der Kontakt nie abgerissen – und jetzt drehen wir sogar das zweite Jahr in Folge.
Heinz-Jürgen Hilgemann: Schon während meines Volontariats Ende der 70er Jahre habe ich in John Neumeiers Produktionen mit Studio Hamburg hineinspickeln können. Jeder wusste: Was dort passiert, ist Weltklasse. Als »der« John Neumeier dann zu uns für Aufzeichnungen nach Baden-Baden kam, hatte ich als Ballettfan Tränen in den Augen. »Tod in Venedig« ist ein unglaublich gut gemachtes Ballett! Bis heute bin ich besonders stolz darauf, dass wir als SWR international die einzige Rundfunkanstalt sind, die einen Film der »Matthäus-Passion« mit John Neumeier in der Rolle des Jesus haben.
Wie kommt im Corona-Jahr 2020 ein Ballett wie »Ghost Light« rechtzeitig in den Redaktionsplan?
Harald Letfuß: Ich glaube, Sie haben mich angerufen (lacht). Wir haben frühzeitig gemeinsam überlegt, die erfolgreiche Zusammenarbeit von »Beethoven-Projekt« unmittelbar fortzusetzen. Als klar wurde, dass die ursprünglich geplante ›Kameliendame‹ unter Corona-Bedingungen nicht aufführbar ist, kam aus Hamburg schnell das Signal, dass John Neumeier etwas völlig Neues kreiert. Mit »Ghost Light« zeichnen wir unter Corona-Bedingungen etwas Einmaliges auf, was es kein zweites Mal auf der Welt gibt. Wir haben alles darangesetzt, diese Produktion Wirklichkeit werden zu lassen: mit großem Ü-Wagen, Containern und einem anspruchsvollen Hygienekonzept.
Herr Hilgemann, als Produktionsleiter haben Sie die gesamte Technik im Blick. Welche Besonderheiten mussten bei der diesjährigen Aufzeichnung beachtet werden?
Heinz-Jürgen Hilgemann: Ein Gedanke vorweg: Meine Kollegen lechzen nach tollen Produktionen. Dabei müssen wir uns auf die guten Ideen der Redaktion verlassen, die an den traditionell herausragenden Ruf des SWR im Kultur- und Klassikbereich anknüpfen kann. Ich habe daher sehr früh nach Beginn des Lockdowns mit Harald Letfuß überlegt, welche Produktionen im Herbst denkbar wären. Sein enger Kontakt zum Hamburg Ballett war entscheidend, um konkrete Planungsschritte rechtzeitig auf den Weg zu bringen. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Unser Ziel ist eine erstklassige Aufzeichnung, die parallel zum Publikumsbetrieb, aber möglichst unauffällig entsteht. Heute arbeiten wir mit exzellenter Technik, die ein Ballett so abfilmt, wie es kreiert ist – einer Technik, die auch schwach ausgeleuchtete Felder eines Lichtdesigns adäquat festhalten kann. Durch Corona sind wir besonders in der Zahl der Kameras beschränkt, die der Regie eine Auswahl an Perspektiven für die Schnittfassung zur Verfügung stellen. Dabei geht es übrigens nicht um den Platzbedarf im Saal, sondern im Ü-Wagen, denn hier sitzen Kollegen, die diese Kameras betreuen.
Harald Letfuß: Von redaktioneller Seite darf ich hinzufügen, dass ein derartiges Projekt nur mit einem Produktionsleiter umsetzbar ist, der mit der Materie Ballett vertraut ist. Dieser Erfahrungsschatz ist eine zentrale Voraussetzung – auch, weil wir die verfügbaren Geldmittel sorgfältig einsetzen müssen. Zu guter Letzt braucht man einen Partner wie das Hamburg Ballett, mit dem man auf Augenhöhe Kompromisse aushandeln kann: zur Dauer der Aufzeichnung, zu Rechtefragen usw.
Wie erleben Sie John Neumeier, wenn er für die Dauer der Vorstellung zum Produktionscontainer kommt, um die Aufzeichnung am Split-Screen zu verfolgen?
Harald Letfuß: Er ist hochkonzentriert und fokussiert. Ich sehe unsere Aufgabe darin, ihm einen Rahmen zur Verfügung zu stellen. Er soll sich voll und ganz darauf einlassen können, wie sein Ballett im Medium des Films auf den Bildschirm kommt. Alle freuen sich, mit welcher Selbstverständlichkeit er sich in unserem Arbeitsbereich bewegt. Ich meine sogar, manchmal ein freudiges Lächeln zu entdecken, wenn etwas besonders gut funktioniert.
Heinz-Jürgen Hilgemann: Mit Myriam Hoyer haben wir eine Regisseurin, die exakt das umsetzt, was John Neumeier sich vorstellt. Dazu gehört auch ein erheblicher Arbeitsaufwand im Vorfeld: dass sie sich mit John Neumeier zusammensetzt und konkret nachfragt, was ihm bei der Aufzeichnung wichtig ist.
Haben derart aufwendige Ballett-Produktionen beim SWR eine Zukunft?
Harald Letfuß: Ich weiß, dass bei vielen Ballettcompagnien die Vorstellungen mit großem Vorlauf ausverkauft sind. Was noch wenig in den Medien thematisiert wird: Es gibt einen immer größeren Kreis von jüngeren Menschen, um die 20, die Ballett für sich entdecken, auch wenn sie es nicht durch ihr Elternhaus kennengelernt haben. Eine regelrechte Renaissance, an der wir teilhaben wollen!
Zudem sind Ballett-Tickets oft hochpreisig. Als öffentlich-rechtlicher Sender mit einem Kulturauftrag steht es uns gut an, die Tradition der SWR-Ballettaufzeichnungen mit hohem Qualitätsanspruch fortzuführen: um Menschen mit körperlichen oder finanziellen Einschränkungen – auch Menschen, für die die nächste Bühne schlicht nicht erreichbar ist – einen Zugang zu dieser großartigen Kunstform anzubieten.
Jörn Rieckhoff