In der Sonntags-Vorstellung von »Tod in Venedig« im Festspielhaus Baden-Baden verkörperte die Solistin Xue Lin erstmals die Rolle »La Barbarina«. In einem Interview erklärt Xue, wie sie sich auf ihr Debüt vorbereitet hat und auf welche historische Person »La Barbarina« verweist.
Am 3. Oktober hast du hier in Baden-Baden zum ersten Mal die Rolle der La Barbarina in »Tod in Venedig« getanzt. Was kannst du aus den Proben mit John Neumeier berichten? Gab es für dich die Gelegenheit mit Hélène Bouchet, für die die Rolle der »La Barbarina« ursprünglich kreiert worden ist, zu arbeiten?
Xue Lin: Ja, als wir im letzten Jahr mit den Proben zur Wiederaufnahme von »Tod in Venedig« begannen, arbeiteten wir viel mit John Neumeier zusammen. Dadurch konnte ich mehr darüber erfahren, wie er sich diese Rolle in seinem Ballett vorgestellt hat und wie ich sie darstellen kann. Danach arbeitete ich auch viel mit den Ballettmeistern Lloyd Riggins und Leslie McBeth zusammen. Um mich noch besser mit einem anderen Tanzstil vertraut zu machen, der zur Rolle der »La Barbarina« gehört.
Hélène hat mir sehr bei allen Schritten geholfen und mir gesagt, wie ich mich immer weiter verbessern kann. Ich bin wirklich dankbar, dass sie mir bei der Einstudierung der Rolle geholfen hat und ich so viel von ihr lernen konnte!
In Thomas Manns Novelle kommt die Figur »La Barbarina« nicht vor, John Neumeier hat sich vielmehr von einer historischen Person inspirieren lassen. Kannst du uns etwas zum historischen Ursprung der »Barbarina« sagen? Wer war sie?
Sie war eine berühmte italienische Ballerina, eine der bedeutendsten Balletttänzerinnen des 18. Jahrhunderts. Sie wurde nicht nur als Tänzerin, sondern auch als Schauspielerin bekannt. Wegen ihrer tadellosen Ausführung der Entrechats nannte man sie »La Barbarina« oder »Die fliegende Göttin«.
Xue, du bist seit 2011 Tänzerin beim Hamburg Ballett, seit 2016 Solistin, und hast schon viele Gastspiele des Hamburg Ballett nach Baden-Baden mitgemacht. Was gefällt dir besonders an Baden-Baden?
Das Erstaunlichste für mich in Baden-Baden ist die Natur, es gibt überall schöne Parkanlagen, Gärten und Blumen. Die Natur macht mich glücklich. Ich habe einmal den Nationalpark Schwarzwald besucht – dort kann man die wilde Schönheit des Waldes und die Magie der unberührten Natur erleben. Einfach schön!
Vielen Dank für das Interview, liebe Xue, und Toi, toi, toi!
Der Erste Solist Christopher Evans wird bei der Wiederaufnahme von John Neumeiers »Tod in Venedig« die Hauptrolle Gustav von Aschenbach erstmals auf der Bühne tanzen. Mitten in den Endproben nimmt er sich Zeit und spricht mit mir über sein Debüt:
Am 29. Oktober 2020 sehen wir dich zum ersten Mal als Gustav von Aschenbach in der Wiederaufnahme von John Neumeiers »Tod in Venedig«. Die Rolle von Aschenbach wurde 2003 von Lloyd Riggins kreiert und entscheidend geprägt. Wie fühlt es sich an, in seine Fußstapfen zu treten?
Christopher Evans: Lloyd Riggins‘ Rollen sind herausfordernd und sehr komplex. Es ist wunderbar für einen Künstler! Das erste Mal, dass ich wirklich eng mit Lloyd zusammengearbeitet habe, war, als ich meine erste Hauptrolle als Albrecht in »Giselle« getanzt habe. Und von da an haben wir gemeinsam bereits an vielen Balletten gearbeitet. Am bemerkenswertesten war die Zusammenarbeit in »Bernstein Dances«! Es war das erste Mal, dass Lloyd diese besondere Rolle des Leonard Bernstein wirklich weitergab. Und jetzt »Tod in Venedig«! Wir arbeiten sehr gut zusammen.
Thomas Mann nannte seine Novelle die »Tragödie einer Entwürdigung«: Im Mittelpunkt steht Gustav von Aschenbach, ein alternder Künstler, dessen scheinbar gefestigter Charakter nie gekannte Wandlungen erfährt und schließlich in vollkommener Hingabe mündet. Wie bereitest du dich auf die ebenso charaktervolle wie seelentiefe Rolle des Aschenbach vor?
Ich
recherchiere gerne, um herauszufinden, wer der Charakter für mich ist. Ich las
das Buch und hörte mir alles an, was John Neumeier und Lloyd Riggins mir über
Thomas Mann und Gustav von Aschenbach erzählt haben. Ich analysiere die Szenen
und Situationen im Ballett und denke darüber nach, wie ich reagieren würde,
wenn ich Aschenbach wäre. Unter Berücksichtigung meiner persönlichen
Lebenserfahrungen kann ich mich so ehrlich wie möglich in diese Person
verwandeln.
Was kanntest du zuerst, das Buch, Viscontis Filmversion oder John Neumeiers Ballett?
Ich sah zuerst John Neumeiers Ballett.
Es ist eine interessante Geschichte, denn nachdem
ich 2010 einen Preis beim Prix de Lausanne gewonnen hatte, wusste ich nicht, an
welcher Ballettschule ich studieren sollte.
Ich wollte in eine Schule gehen, die auch eine Compagnie hat, damit ich eine bessere Chance hätte, einen Vertrag zu bekommen. Ich fand ein Video von John Neumeiers »Die Kameliendame« und auch ein Video von seinem »Tod in Venedig« im Internet. Es waren diese beiden Ballette, die mich dazu gebracht haben, Tänzer beim Hamburg Ballett zu werden. Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit, die Rolle des Armand in »Die Kameliendame« an der Seite von Olga Smirnova vom Bolschoi-Theater zu tanzen. Und jetzt werde ich dieses Jahr Aschenbach verkörpern!
Es ist interessant, wie sich das Leben manchmal entwickelt. Ich fühle mich einfach so glücklich!
Vielen Dank für das Interview, lieber Christopher, und Toi, Toi, Toi!
Ihr wollt mehr über Christopher Evans erfahren? Schaut euch seinen Steckbrief an!
John Neumeiers Ballett »Tod in Venedig« kommt am 29. Oktober 2020 nach 5 Jahren zurück auf die Bühne. Atte Kilpinen, gerade frisch aus Finnland hergezogen, ist seit Beginn der Saison 2020/21 Tänzer beim Hamburg Ballett und unser neuer Tadzio. Anlässlich seines großen Debüts beantwortet er meine persönlichen drei Fragen:
Wie hast du dich auf die Rolle des Tadzio vorbereitet?
Atte Kilpinen: Ich habe versucht, meine eigene Kindheit in Erinnerung zu rufen und mich daran zu erinnern, wie es war, als ich jung war. Es gab glückliche und sicher auch einige traurige Momente, darüber habe ich viel nachgedacht.
John Neumeier hat viel darüber gesprochen, wie ich Tadzios Solo tanzen kann. Tadzio ist einfach ein Junge, der mit einer unbeschwerten Leichtigkeit die Welt erkundet. Man denkt da sofort an seine eigene Kindheit. Wie viele unterschiedliche Ideen hatte man doch als Kind! An einem Tag beschäftigt man sich noch mit Flugzeugen, an einem anderen Tag kommt einem eine noch viel bessere Idee. Wenn ich den Tadzio tanze, versuche ich genau dieses Gefühl, diese Unbeschwertheit, wieder zurückzubekommen. Jetzt wo man erwachsen ist, trägt man auch eine gewisse Verantwortung mit sich, selbst wenn ich mich noch als Kind fühle. Es ist schön, eine Rolle verkörpern zu können, in der man wieder einfach nur Kind sein kann. Das macht mir großen Spaß!
Natürlich habe ich auch Thomas Manns Novelle gelesen und die Verfilmung von Visconti gesehen – das alles dient als Inspiration.
Was kannst du aus den Proben mit John Neumeier berichten? Gab es für dich auch die Gelegenheit mit Edvin Revazov, für den die Rolle des Tadzio ursprünglich von John Neumeier kreiert worden ist, zu arbeiten?
Es ist unglaublich, John Neumeier bei den Proben dabei zu haben. Es fühlt sich für mich immer noch unwirklich an, ein Teil des Hamburg Ballett zu sein und sogleich diese Chance zu bekommen, diese wunderbare Rolle zu tanzen! Mit John Neumeier zu proben ist schön und sehr inspirierend. Tadzios Solo hat er durch seine eigenen Erinnerungen geschaffen, noch heute hat er alle Schritte, die damit verbundenen Ideen in seinem Kopf und gibt diese nun an mich weiter.
Es war sehr entscheidend für meinen Zugang zu der Rolle, dass John Neumeier persönlich noch einmal in seinen Worten den Charakter von Tadzio und die Entstehung dieser Rolle beschrieben hat. Er hat mir über seine eigene Kindheit erzählt und von bestimmten Situationen und Gefühlen, an die er sich zurückerinnert. Aber er möchte nicht, dass ich die Rolle des Tadzio durch seine Erinnerungen tanze, ich tanze es durch meine eigenen. Es brauchte jedoch diese Worte von John, um eine Verbindung zur Rolle zu finden. Er hat mich dazu angeregt, über meine eigene Kindheit nachzudenken und meine eigenen Emotionen in die Rolle einzubringen. Es war toll!
Edvin war bei den Proben fast immer dabei, weil er die Rolle des Gustav von Aschenbach lernt. Er hat mir gezeigt, wie ich einzelne Schritte ausführen kann und in welchen Momenten ich bei der Bewegung etwas freier sein kann, einfach mehr Kind. Es gibt da zum Beispiel ein Pas de deux mit Aschenbach. Tadzio ist eigentlich nicht wirklich da, was wir hier sehen, spielt sich in Aschenbachs Kopf ab. In Wirklichkeit sucht Tadzio nur nach seinen Freunden am Strand. Mit Edvin darüber zu sprechen, wie er den Tadzio interpretiert, seine Erfahrungen zu hören, war eine große Hilfe!
Eine letzte persönliche Frage: Wie und wann kamst du zum Tanz?
Ich war sechs oder sieben Jahre alt und brauchte ein Hobby, weil ich als kleines Kind so viel Energie hatte! Meine Familie und ich mussten etwas finden und so kam es dazu, dass ich zum ersten Mal eine Stunde in einer Tanzschule besucht hatte. Und das ist es, nach dieser Stunde hat mich das Tanzen nie wieder losgelassen!
Vielen Dank, lieber Atte, für das Interview und Toi, Toi, Toi!
Am 5. September kehrt John Neumeiers Ballett »Sylvia« nach über 10 Jahren als neu einstudierte Wiederaufnahme zurück auf den Spielplan. Die Erste Solistin Madoka Sugai wird zum ersten Mal die Titelrolle tanzen. Für John Neumeier die »beste Sylvia aller Zeiten«.
Diesen Sonntag sehen wir dich zum ersten Mal in der Titelrolle bei der Wiederaufnahme von John Neumeiers »Sylvia«, einem Ballett mit langer Tradition. Die Rolle der Sylvia in John Neumeiers Version wurde von Monique Loudières in Paris kreiert und in weiteren Jahren in Hamburg von Heather Jurgensen und Silvia Azzoni maßgebend geprägt. Wie fühlt es sich an in ihre Fußstapfen zu treten?
Madoka Sugai: Ich habe wirklich Respekt vor allen Tänzerinnen, die die Rolle der Sylvia getanzt haben, sie sind wunderbar. Es ist so schade, dass ich sie nicht live erleben konnte. Aber ich habe mir die Interpretation von Silvia Azzoni ansehen können. Über unser Probenvideosystem, die Dancing Cloud, konnte ich mir Aufnahmen von ihr ansehen. Silvia Azzoni ist eine starke und beeindruckende Sylvia.
John Neumeiers »Sylvia« wurde sehr lange nicht mehr in Hamburg gezeigt, ganze zehn Jahre. Ich glaube, die Mehrheit meiner Kolleginnen und Kollegen haben dieses Ballett noch nie getanzt. Es ist eine neue Generation, die zu sehen sein wird, und das ist gut. Ein kompletter Neuanfang!
Neulich hat mir John Neumeier einen tollen Rat gegeben, der simpel klingt, aber viel verändert. Er sagte mir, dass ich die Sylvia auf meine ganz eigene Art interpretieren und nicht die Interpretation von anderen Tänzerinnen als Maßstab nehmen soll. Natürlich ist da Johns Choreografie, seine Schritte, die ich befolgen muss. Aber Sylvia wird nur lebendig, wenn ich etwas von mir hineingebe. Gestern hatten wir eine Bühnenprobe in der Staatsoper und ich fühlte mich großartig. Noch ist es ein »work in progress« und ich arbeite daran, die Sylvia zu werden, die ich sein will. Ich will dem Publikum eine neue Sylvia zeigen und ich hoffe, dass mir das am Sonntag gelingen wird. Dass das Publikum meine Interpretation genießt und ich das gesamte Ensemble zusammenbringen kann, während ich die Sylvia tanze. Ich bin wirklich aufgeregt!
Wie bereitest du dich auf die technisch wie darstellerisch anspruchsvolle Titelrolle vor?
Mir geht es darum, Sylvia auf meine ganz eigene Art und Weise zu verkörpern. Ich genieße die Entwicklung meines Charakters, wie ich von Probe zu Probe immer mehr in die Rolle der Sylvia hineinwachse.
Ein anderer wichtiger Teil für mich ist die Musik. Ich liebe die Musik von Léo Delibes, die Partitur hat wunderschöne Melodien! Die Musik bringt mich immer wieder dazu, jede Art von Rolle zu tanzen. Ohne zu denken, bewegt sich mein Körper einfach nach der Musik, er hört der Musik zu. Manchmal überrascht es mich selbst, wie ich einfach loslassen kann und ich mich automatisch zur Musik bewege. Ich denke dabei nicht explizit an die Schritte oder zähle Takte, es passiert ganz automatisch und mein Körper erinnert sich.
Im Ballett »Sylvia« sticht ein Requisit besonders ins Auge, der Bogen. Wie schwer ist es mit einem Bogen zu tanzen?
Ich liebe den Bogen! Ich fühle mich mit ihm sehr stark. Es ist tatsächlich nicht ganz einfach, mit dem Bogen in den Händen zu springen. Normalerweise nutze ich meine Arme als Stütze für Sprünge, sie helfen mir dabei hoch zu springen. Da ich aber mit meinen beiden Armen den Bogen halte, bei Sprüngen teilweise über meinen Kopf, geht das nicht mehr. Ich muss das richtige Timing finden, um gleichzeitig hoch, aber auch kraftvoll und mit dem Bogen zu springen.
Der Bogen unterstützt mich und die anderen Nymphen darin stark rüberzukommen. Letztendlich verkörpern wir auf der Bühne ja genau das: starke, unabhängige Frauen. Gleich in der ersten Szene wird das deutlich. Ich, Diana und einige andere Nymphen stehen am Bühnenrand und zielen auf die Zielscheibe auf der anderen Bühnenhälfte. Die Position, wie wir den Bogen halten, wie wir stark und zielstrebig auf die Zielscheibe zielen und dabei auch treffen… ich liebe es!
Vielen Dank für das Interview, liebe Madoka und Toi, toi, toi!
»Beethoven-Projekt II« ist die zweite Zusammenarbeit der Weltstars John Neumeier und Kent Nagano. Auch wenn der Hamburgische Generalmusikdirektor sich seit Jahrzehnten intensiv mit Beethovens Werken befasst hat, zeigt er sich von der künstlerischen Originalität des neuen Balletts beeindruckt. Im Online-Interview am 16. April 2021 – sechs Wochen vor der Uraufführung – lässt er keinen Zweifel daran, dass dieses außergewöhnliche Werk Begeisterung auslösen wird: beim Publikum wie auch bei den Mitwirkenden.
Welchen Stellenwert hat das Orchester in diesem Ballett? Das Bühnenbild weist ihm einen Platz genau in der Mitte zu, wodurch Tanz und Musik als aufeinander bezogene Formen des künstlerischen Ausdrucks erscheinen.
Kent Nagano: Wie in »Turangalîla« spiegelt »Beethoven-Projekt II« Johns herausragende Begabung, die Grundidee von Ballett zu vermitteln. Er hat ein Gesamtkunstwerk geschaffen, nicht nur ein Tanzstück mit Orchesterbegleitung. Er verwandelt die Idee von Ballett derart umfassend, dass alle Kunstgattungen organisch einbezogen sind. In diesem Fall stellt das Orchester den »Inhalt« des Abends bereit, aber auch den zugrundeliegenden Energie-Puls und das Medium, durch das sich die Tänzerinnen und Tänzer ausdrücken können. Zugleich sind wir ein sichtbarer Teil des Bühnenbilds, interessanterweise auch die Solisten. Durch diesen facettenreichen Ansatz sind die Tänzer als Künstler gänzlich frei. Sie tanzen zwischen den Musikern, aber auch vor, über und hinter dem Orchester, dem Dirigenten und den Solisten. Die Kunst wandelt sich zu einer Form des umfassenden, aktiven und universellen Austauschs. Für mich wirft dies ein besonderes Licht auf Johns ungewöhnliches Genie: seine Fähigkeit, mit dem Tanz ein Medium zu erschaffen, in dem sich humanistische Ideale ausdrücken lassen. Es gibt historische Vorbilder für diese Art des künstlerischen Ausdrucks, aus Zeiten »obrigkeitlicher Unterdrückung«.
Auch Beethoven lebte in solch einer Epoche: mit dem Wiener Kongress, auf den die Restaurationszeit folgte. Aufgrund seiner bekannten liberalen Ansichten und seiner Befürwortung von Demokratie und den Idealen der Französischen Revolution wurde er sogar unter eine Art Hausarrest gestellt. In dieser Zeit wurden Tanz und Hausmusik sehr wichtig, denn man konnte in dieser abstrakten Kommunikationsform seine Haltung zum Ausdruck bringen – sogar Widerspruch zur vorherrschenden Politik –, ohne sich durch die Verwendung konkreter Wörter unmittelbar in Gefahr zu begeben. Private Musikzirkel dieser Zeit erschlossen zudem die Idee der Gleichheit: Viele Frauen wurden exzellente Musikvirtuosinnen, die mit ihren Fähigkeiten, ihrer Ausstrahlung und ihrem Charakter oftmals die Männer in den Schatten stellten! Man denke an Clara Schumanns glanzvolle Karriere, um nur ein Beispiel zu nennen. Etwas Ähnliches finden wir in Johns Konzept für ›Beethoven-Projekt II‹. Mit Ausnahme von Klaus Florian Vogts kurzer Intervention – dem ersten Rezitativ und der folgenden Arie aus »Christus am Ölberge« – teilen sich die Emotionen und der spirituelle Gehalt des Balletts dem Publikum auf einer abstrakten Ebene mit. Jeder Zuhörer ist gezwungen, sich bei der Vorstellung als kreativ Denkender einzubringen. Jeder wird mit verschiedenen Eindrücken und Ideen aus der Oper gehen. Aus unserer Sicht als Musiker erlaubt dies eine enorme Freiheit, eine Verbindung mit dem Publikum aufzubauen.
Wie Sie schon erwähnten, vereint »Beethoven-Projekt II« verschiedene Musikgattungen. In den Jahren nach der Jahrtausendwende erregten Sie Aufmerksamkeit mit Ihren Berliner Konzertprogrammen, die Kammermusik und sinfonisches Repertoire kombinierten. Macht es einen grundlegenden Unterschied, wenn man Tanz hinzufügt?
Ja, sicherlich. Es erinnert mich an eine Fragestellung, die heutzutage viel diskutiert wird: die scheinbare Ergänzungsbedürftigkeit abstrakter oder sinfonischer Musik um visuelle Elemente mit dem Ziel, Aufführungen »leichter zugänglich« zu machen. Mich beunruhigt die Debatte zutiefst, denn sie setzt voraus, dass klassische Musik für das breite Publikum schwer verständlich ist. Wenn es ein Problem gibt, dann liegt das sicher nicht an Beethoven, auch nicht an Mozart, Brahms oder Mendelssohn. Eher kann es zum Problem werden, in welcher Weise, auf welchem künstlerischen Niveau und in welchem Zusammenhang wir ihre Werke aufführen. In Sinfoniekonzerten wird viel mit Videos und allen möglichen visuellen Reizen experimentiert, aber diese Experimente bieten nur Unterhaltung oder Ablenkung, ohne dem Publikum zu helfen, die Tiefe und grundlegende Bedeutung der Werke zu verstehen.
Im Gegensatz dazu ist Johns Choreographie in »Beethoven-Projekt II« völlig unabhängig. Die visuellen Elemente, die er Beethovens Siebter Sinfonie hinzufügt, konzentrieren sich auf den künstlerischen Gehalt und regen das Zusammenwirken von Publikum und der Kunstform Musik an. Paradoxerweise kann eine solche Abstraktionsebene die Musik weniger leicht verständlich machen. John aber erschafft einen mehrdimensionalen Dialog, sodass wir als Publikum ermutigt sind, Teil der Aufführung zu werden, anstatt uns nur passiv zurückzulehnen und uns unterhalten zu lassen. Auf diese Weise wird die Musik ein natürlicher Teil unseres Lebens, sie spricht uns direkt und persönlich an.
John Neumeier steht im engen Austausch mit den Hamburger Behörden, um Möglichkeiten für eine Wiedereröffnung der Oper für unser Publikum zu verhandeln.
John und ich tauschen uns darüber immer wieder aus. Die Lage in der Covid-19-Pandemie ist absolut frustrierend, weil so vieles, was wir über das Corona-Virus wissen, begrenzt ist – so vieles ist ein Rätsel. Diese Zeit hält sicher eine kaum lösbare Aufgabenstellung für alle Regierungsvertreter bereit, denn es gibt keine klaren Antworten, dagegen zuhauf widersprüchliche Informationen, und die Zielsetzungen müssen permanent an eine sich ständig ändernde Lage angepasst werden. Alle sind verletzlich. Alles andere ist unsicher, und dieser Umstand eröffnet ein breites Spektrum unterschiedlicher Ansichten. In einigen Regionen der Vereinigten Staaten kann man öffentliche Verkehrsmittel benutzen, ins Restaurant, in Geschäfte und zu Sportveranstaltungen gehen – wenn auch mit reduzierter Zuschauerzahl –, aber man darf keine Sinfoniekonzerte besuchen, keine Ballett- und Opernaufführungen.
Die Geschichte lehrt uns, dass es ein ernster und gefährlicher Fehler wäre, Kunst und Kultur zu unterschätzen – dieses Fundament unserer Identität, unserer gesellschaftlichen Werte und unseres Gefühls für Lebensqualität –, es würde enorme Konsequenzen nach sich ziehen. Obwohl das Überleben entscheidend von der Verfügbarkeit von Nahrung und einem Obdach abhängt, benötigen wir Menschen mehr als das nackte Überleben, um zu gedeihen. Diese »Menschlichkeit« unterscheidet uns von der Welt der Tiere wie auch der Technik. Während wir als Gesellschaft darum kämpfen, den richtigen Weg zu finden, ist Johns innere Einstellung und Energie, mit der er um unsere Kunst kämpft, eine Haltung, die wir uns als Menschen unbedingt zu eigen machen sollten. Während die Pandemie andauert, diskutieren Politiker, was Priorität haben soll. Diese Debatte können wir nicht gewinnen. Trotzdem wird man jederzeit fühlen, vielleicht nur unterbewusst, dass die seelische Nahrung, die sich aus Schönheit, Natur und Kreativität speist, immer unentbehrlich bleiben wird für ein erfülltes Leben.
John Neumeier im Gespräch mit Jörn Rieckhoff anlässlich der Uraufführung von »Beethoven-Projekt II«
»Beethoven-Projekt II« ist eine neu konzipierte Premiere, die das ursprünglich geplante Werk Beethoven 9 ersetzt. Wie kam dieser Wechsel zustande? Der wesentliche Impuls bestand offenbar darin, dass Sie nicht von Ihrem Anspruch einer Uraufführung mit Live-Musik unter der Leitung von Generalmusikdirektor Kent Nagano abrücken wollten.
John Neumeier: Es wäre mir nie eingefallen, in der Hamburgischen Staatsoper die Premiere von so einem gewichtigen Werk wie der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven mit aufgezeichneter Musik anzubieten. Meine Ideen konzentrierten sich darauf, wie eine angemessene Ehrung von Beethoven im Jubiläumsjahr seines 250. Geburtstags doch noch möglich wäre. Diese Überlegung hat mich zurückgeführt zu meinen Gefühlen und Erfahrungen mit dem »Beethoven-Projekt«, in dem ich 2018 zentrale Werke Beethovens zusammenstellte, die durch das »Eroica-Thema« verbunden sind. Am Ende der damaligen Arbeit blieb das Gefühl: Meine Beschäftigung mit diesem Komponisten ist bei Weitem nicht abgeschlossen. »Beethoven-Projekt II« ist kein Ersatz-Programm. Eher könnte man von einem Vorziehen in meiner langfristigen Beschäftigung mit Beethoven sprechen, denn dieses Werk hätte auch nach einem Ballett zur Neunten Sinfonie entstehen können.
Für mich ist das Interessante an der Arbeit mit Beethoven: Man hat zu tun mit einem großen Genie der Musikgeschichte, das ich mir immer wie auf einem Sockel stehend vorstelle. Ich persönlich habe seine Musik immer mit großer Verehrung – ja mit Respekt und Bewunderung angehört. Die Tatsache, dass man mit dieser Musikarbeitet, dass diese Musik zu einer Art »Werkzeug« – ein furchtbares Wort! – für die Erarbeitung eines neuen Kunstwerks wird, bedarf einer ganz anderen Art, mit dieser Musik umzugehen. Ich hole sie vom Sockel herunter – die Musik wird intim. Sie ist nicht mehr nur das Werk eines bewunderten Meisters, sie muss etwas ganz Nahes werden – für mich persönlich, damit ich damit arbeiten kann. Ich darf sie beim Hören nicht mehr nur »schön« finden, ich muss mich darin wiederfinden. Um es zusammenzufassen: Meine neue Kreation ist ein sehr aufregendes Projekt. Für mich ist es eine Überraschung zu erleben, wie Beethovens Musik eine gewisse Intimität gewinnt: kein unerreichbares Meisterwerk, sondern Musik, die mir sehr nahekommt. Es ist überaus faszinierend, Beethovens Musik zu meiner eigenen werden zu lassen!
»Beethoven-Projekt II« mischt Solo-Klaviermusik, Kammermusik und Orchestermusik – sogar mit Solo-Gesang. Vor zwei Jahrhunderten wäre das nichts Ungewöhnliches, in unserem heutigen Kulturbetrieb gibt es kaum Vergleichbares. Was hat Sie zu dieser Zusammenstellung bewogen?
Die Verbindung von einem Oratorium und einer Sinfonie wäre zu Beethovens Zeit tatsächlich nichts Ungewöhnliches. Wie man nachlesen kann, waren Programme mit verschiedenen Besetzungen damals an der Tagesordnung. Bei Kombinationen mit Kammermusik muss man allerdings berücksichtigen, dass sie eher für Privataufführungen gedacht waren. Meine Repertoire-Auswahl für »Beethoven-Projekt II« hat nicht zuletzt pragmatische Gründe. Für die Neunte Sinfonie hatte ich einen meiner liebsten Sänger vorgesehen, Klaus Florian Vogt. Ich habe mich sehr darauf gefreut, wieder mit ihm zu arbeiten. Als klar wurde, dass wir das geplante Werk nicht umsetzen könnten, habe ich das Beethoven-Repertoire regelrecht danach durchsucht, was trotz allem die Weiterführung seines Vertrages ermöglichen könnte. Dabei bin ich auf »Christus am Ölberge« gestoßen – ein Werk, von dem ich gelesen, aber das ich bis dahin nie vollständig gehört hatte. Innerlich habe ich sofort Klaus Florian vor mir gesehen und seine Stimme gehört.
Diese Vorentscheidung beeinflusste auch, dass der Abend »Beethoven-Projekt II« heißt und nicht einen romantischen Titel wie »An die ferne Geliebte« bekam – was vielleicht öffentlichkeits-wirksamer wäre. Genau wie mein erstes abendfüllendes »Beethoven-Ballett I« betrachte ich die neue Kreation als Projekt: Es gibt keine nacherzählbare Handlung, es ist kein choreografisches Porträt, auch kein rein sinfonisches Werk. »Beethoven-Projekt II« basiert auf der Faszination und Verbindung eines Choreografen zu einem großen Musiker, in Verbindung mit einer Auswahl von Werken, die ihm zusagen. Diese Werke lassen eventuell biografische Fragmente erahnen; durch die Improvisation zu dieser Musik erfahre ich sie zugleich als geniale Tanzmusik – eine Musik für Tanz in seiner reinsten Form. Mein neues »Beethoven-Projekt« ist wie ein Bouquet aus verschiedenen Farben – musikalischen sowie choreografischen.
Mit Ausnahme der Siebten Sinfonie haben Sie Werke Beethovens gewählt, die im zeitlichen Umfeld des »Heiligenstädter Testaments« entstanden. Steht dahinter eine bewusste Entscheidung?
Die Auszüge aus »Christus am Ölberge« stellen eine Verbindung her zum Leben von Beethoven. Wie einige Wissenschaftler sehe ich einen Zusammenhang zum sogenannten »Heiligenstädter Testament«. Das Seltsame am Oratorium ist, dass es nur das biblische Geschehen am Gründonnerstag thematisiert – bevor das eigentliche, das physische Leiden Christi beginnt. Es ist eine Vorahnung, ein rein innerlicher Kampf, und ein Gebet, dass die Passion bitte nicht stattfinden möge. Das kann man interpretieren als Beethovens eigenes Gebet, komponiert zu einer Zeit, als ihm klar wurde, dass er sein Gehör endgültig verlieren würde. Wie Christus scheint er in seiner Musik darum zu bitten, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen möge. Insofern ist meine Choreografie eher von der Biografie Beethovens angeregt, weniger von der biblischen Passionsgeschichte.
Die Siebte Sinfonie sehe ich auf einer ganz anderen Ebene. Das Werk ist bekannt als Beethovens tänzerischste Sinfonie, die am meisten auf rhythmischen Impulsen basiert. Daher sind alle Gedanken an eine narrative Handlung abwegig. Meine Choreografie ist eine Hommage an den Ursprung des Tanzes. Hier sollte man den reinen, puren Tanz zu dieser Musik erleben, ja genießen! »Beethoven-Projekt II« bedeutet für mich die Auseinandersetzung eines Choreografen mit verschiedenen Arten von Musiken, die zu verschiedenen Arten von Choreografien führen: teilweise als Fragmente von biografischen Bildern, aber manchmal auch einfach als Tanz, den diese Musik auslöst. Als ich die Musik für diesen Ballettabend zusammenstellte, schrieb ich in mein Notizbuch: Das Ballett ist nicht eine neue Aussage von mir über Beethoven, sondern ich suche und freue mich auf das, was Beethovens Musik mir erzählt.
Zu
Beginn des ersten abendfüllenden Balletts von John Neumeier zur Musik von
Ludwig van Beethoven steht ein Flügel auf der Bühne. Davor – mittendrin und als
Teil der Choreographie – sitzt Pianist Michal Bialk. Er interpretiert zunächst
solo die »Eroica-Variationen«,
fusioniert dann mit zwei Streichern zum »Geistertrio«
und lässt den Flügel mit dem 2. Satz der
Klaviersonate in D-Dur op. 10 Nr 3 ausklingen.
Seit der Uraufführung im Juni 2018 in Hamburg ist Michal Bialk Teil des »Beethoven-Projekt«, hat die Compagnie im März 2019 nach Hongkong begleitet und war auch beim saisoneröffnenden Gastspiel im Festspielhaus Baden-Baden dabei. Für unseren Blog hat er mir drei Fragen beantwortet.
Warum und seit wann ist
das Klavier dein Instrument und wie stehst du zu Beethovens Musik?
Michal Bialk: Es ist ein tolles
Instrument und die Literatur für das Klavier grandios. Natürlich gibt es viele
fantastische Instrumente, aber die Komponisten mehrerer Jahrhunderte haben sich
große Mühe gegeben, damit ich auf diesem
gut zu tun habe. Kurz gesagt: Ich liebe das Klavier sowie die geniale Musik,
die dafür geschrieben wurde und möchte sie spielen! Das habe ich eigentlich
erst als Teenager gespürt – ohne dass Eltern, Großeltern oder Freunde ihre
Finger im Spiel hatten.
Würde
man Musiker generell – aber vor allem Pianisten – fragen, was das Universellste
in der gestandenen alten, traditionsreichen Musik seit der Barockzeit ist, das
alle möglichen Emotionen des 21. Jahrhunderts wiederspiegelt, dann wäre die
Antwort »Beethoven«.
Er ist sehr modern! Ich denke, wenn wir seine Musik spielen, dann spielen wir sie heute. Das ist das ›Coole‹ an Beethoven.
Wie hast du die Kreation des »Beethoven-Projekt« erlebt?
Es
war die erste Kreation, in die ich intensiv eingebunden war und daher sehr
spannend. Es ist unfassbar interessant mit John zu arbeiten und im Studio zu sehen,
wie Ballett zu Musik entsteht. Ich durfte in eine eigene Welt eintauchen!
Als besonders habe ich die Interaktion zwischen John und seinen Tänzern erlebt. Nicht in der Beziehung Choreograf/Ballettdirektor mit seiner Compagnie/Solisten, sondern als Charaktere, die so sind, wie sie sind. Dazu kam Beethovens Musik, die so ist, wie sie ist und nicht angepasst werden sollte. Die ehrliche Arbeit mit der Musik bleibt unvergesslich.
Wie ist es mit dem Hamburg Ballett auf Tour zu sein?
Es
ist sehr schön, kreativ und immer als Prozess zu sehen: Für Hongkong wurde die
Hamburg-Fassung von John ein wenig geändert. Das war auch für meinen Teil spürbar.
Zuletzt in Baden-Baden gab es wieder zwei kleine Änderungen, die auch mich
betreffen.
Deren
Ursprung liegt in den unterschiedlichen Bühnen. Es geht um die Dimensionen und die
Position des Flügels. Das beeinflusst ganz stark die Akustik des Instruments.
Dementsprechend muss der Flügel auf jeder Bühne individuell platziert werden,
damit die Kraft und Botschaft, die in den Variationen liegt, im Zuschauerraum
auch Johns Vorstellung entsprechend ankommt.
Es wird nie langweilig, ist ein Work-in-Progress und einfach ›super toll‹!
Die Aufführungen des »Beethoven-Projekt« im Rahmen der Herbstfestspiele 2019 sind das dritte gemeinsame Projekt des Hamburg Ballett mit der Deutschen Radio Philharmonie im Festspielhaus Baden-Baden. Vor zwei Jahren markierten Aufführungen von John Neumeiers Ballett »Das Lied von der Erde« mit Klaus Florian Vogt und Benjamin Appl den Beginn der fruchtbaren Zusammenarbeit. Seit wenigen Monaten ist Maria Grätzel Managerin des Orchesters, dem die FAZ erst kürzlich »überregionales Renommee« und einen »fabelhaften Chefdirigent« (Pietari Inkinen) attestierte, der die Hörer aus nah und fern anziehe. Am Rande der Generalprobe verrät Maria Grätzel, was sie an der Kooperation mit John Neumeier und dem Hamburg Ballett besonders schätzt.
Die Deutsche Radio Philharmonie ist ein erfolgreiches Konzertorchester. Was motiviert Ihr Orchester, eine Produktion mit dem Hamburg Ballett zu realisieren?
Maria Grätzel: Gerade dass es sich um eine szenische Produktion handelt, ist für uns reizvoll! Als Rundfunksinfonieorchester haben wir nur selten die Gelegenheit, Opern oder Ballette musikalisch mitzugestalten. Das »Beethoven-Projekt« ist eine willkommene und zugleich herausfordernde Aufgabe – vor allem, weil es um ein Ballett von der Qualität geht, die sich mit dem Namen John Neumeier verbindet.
Beethovens 250. Geburtstag ist in der Klassikwelt in aller Munde. Wie fügt sich John Neumeiers »Beethoven-Projekt« in die Programmplanung der Deutschen Radio Philharmonie ein?
Wir beziehen zum Beethoven-Jubiläum ganz aktiv Stellung. Einen Jahrtausend-Komponisten wie ihn kann man einfach nicht ignorieren! In dem Projekt »My Playlist Beethoven« gehen wir in Schulen und lassen die Kinder eine Playlist von »Beethoven-Lieblingsstücken« zusammenstellen, die im kommenden Jahr in Konzerten zu hören sein werden. Außerdem stehen in meinem Kalender: ein Wochenende mit sämtlichen Beethoven-Klavierkonzerten – Lars Vogt macht »play & conduct« – und eine Deutschland-Tournee mit Beethovens Neunter in einer Neuedition von Breitkopf & Härtel.
Bei der Planung des »Beethoven-Projekt« war es John Neumeier wichtig, aus den 85 CDs seiner Beethoven-Gesamtaufnahme eine stimmige Auswahl für den zweistündigen Ballettabend zusammenzustellen. Wie sehen Sie die Werkauswahl aus Orchesterperspektive?
Ich empfinde die Kombination von Kammer- und Orchestermusik in einem Programm als besonders spannend. Einige Musiker unseres Orchesters erhalten so zusätzlich die Gelegenheit, ihr herausragendes Können zu zeigen. Ein Streichquartett der Deutschen Radio Philharmonie spielt den gewichtigen langsamen Satz aus Beethovens op. 132. Unser Erster Konzertmeister Ermir Abeshi und unser Solocellist Teodor Rusu spielen den anspruchsvollen langsamen Satz des »Geistertrios« sogar auf der Bühne – auswendig! Aber auch das ganze Orchester ist mit einem der zentralen Werke aus Beethovens Sinfonik vertreten, der »Eroica«. Für mich persönlich ist es ein Privileg, mit der Compagnie von John Neumeier aufzutreten.
Im Rahmen der Herbstfestspiele 2019 zeigt das Hamburg Ballett im Festspielhaus Baden-Baden John Neumeiers 160. Ballett, das »Beethoven-Projekt«. Die beiden Aufführungen am 3. und 4. Oktober werden vom SWR aufgezeichnet und voraussichtlich im Frühjahr 2020 ausgestrahlt. Dr. Wolfgang Gushurst, seit 2017 Leiter der SWR-Hauptabteilung »Kultur, Wissen, SWR2«, hat sich in besonderer Weise für diese Kooperation stark gemacht. Anlässlich der Saisoneröffnung im Festspielhaus Baden-Baden sprach er mit Dr. Jörn Rieckhoff über seine persönliche Motivation, für John Neumeier auch medial den roten Teppich auszurollen.
Was verbinden Sie mit John Neumeier und dem Hamburg Ballett? Wo haben Sie die Compagnie bisher erlebt?
Dr. Wolfgang Gushurst: Sehr beeindruckend und intensiv sind die Aufführungen wie z.B. im letzten Jahr im Festspielhaus Baden-Baden mit »Bernstein Dances«. Das Besondere und die intensive Detailarbeit vermittelt sich aber auch sehr gut bei einem Proben- oder Werkstattbesuch. So hatte ich bei einem Hamburg-Aufenthalt mit meiner Familie Gelegenheit, im Rahmen der Theaternacht einen Einblick in die Probenarbeit in der Hamburger Ballettschule zu erhalten. Dies kann ich sehr empfehlen.
Der SWR ist ein langjähriger Partner des Hamburg Ballett und hat in der Vergangenheit zentrale Werke aus John Neumeiers Schaffen aufgezeichnet. Was war der Impuls, diese Tradition mit John Neumeiers neuestem Ballett wiederzubeleben?
Wir stehen kurz vor dem Beethovenjahr
2020. Die verschiedensten Orchester, Ensembles, Musiker beschäftigen sich mit
den Werken, und vermutlich wird alles, was Beethoven jemals auf Notenpapier
gebracht hat, zur Aufführung gelangen. Als Programmmacher und auch
Kulturproduzent sind wir immer auf der Suche nach originellen Zugängen, was mit
der künstlerischen Aneignung von Beethovens Musik durch John Neumeier
garantiert gegeben ist.
Natürlich hilft bei solchen Projekten auch die langjährige erfolgreiche Zusammenarbeit etwa zur »Matthäus Passion« oder »Tod in Venedig«. Übrigens hatte in der »Matthäus-Passion« John Neumeier bei der SWR-Aufzeichnung 2005 als Jesus seinen legendären letzten Auftritt als Tänzer in einer Hauptrolle.
John Neumeier bringt das Hamburg Ballett seit mehr als 20 Jahren regelmäßig mit neuen Programmen ins Festspielhaus Baden-Baden. Welche Rolle spielt das für Ihre Berichterstattung?
Die künstlerische Qualität, die große
Begeisterung, die die Aufführungen auslösen, und auch der sehr gute
Publikumszuspruch sind für uns die Anknüpfungspunkte für die Berichterstattung.
John Neumeier ist nicht nur ein Magnet für die Zuschauerinnen und Zuschauer der
Aufführungen, sondern es gibt eine sehr große Schnittmenge mit den Nutzern der
SWR-Kulturangebote in Fernsehen, bei SWR2 oder im Netz.
Mehr darüber, wie die Filmfassung des »Beethoven-Projekt« entstanden ist, erfahrt ihr im Beitrag der Reihe »Hamburg Ballett in Zahlen«: »Beethoven-Projekt« als Film.
John Neumeiers »Bernstein Dances« sind zurück im Repertoire. Ein besonderes Highlight ist, dass Marc Bouchkov den Part der Solovioline übernehmen wird. Erst kürzlich gewann er den 2. Preis und die Silbermedaille beim renommierten Tschaikowsky Wettbewerb in Moskau. Für den Blog hat er meine persönlichen drei Fragen beantwortet:
Leonard Bernstein wäre 2018 100 Jahre alt geworden. Was macht aus deiner Sicht Bernsteins Musik so besonders?
Marc Bouchkov: Mich hat schon immer sehr beeindruckt, wie Bernstein dirigiert. Man sieht nicht häufig einen Komponisten, der viele seiner Werke selbst dirigiert. Wenn man dies hört und sieht, versteht man sehr viel von seinem Charakter und dem Spaß, den er dabei hatte. Ich denke, dass lässt sich auch auf das Komponieren übertragen. Bernstein hatte auch daran viel Spaß. Seine Musik ist immer auch ein Fest, es gibt so viele Sachen, die passieren; rhythmisch, harmonisch und melodisch. Meiner Meinung nach hat er einen perfekten klassischen Musikstil gefunden; Musik mit Bildern. Jedes Stück, das er komponiert hat, erzählt uns eine Geschichte. Man könnte seine Werke sofort als Film, als Musical oder auch als Tanz auf die Bühne bringen. In seiner Musik steckt aber auch viel Gefühl, wie beispielsweise in der Serenade nach Platons Symposion. Bernsteins Musik zeichnet eine Genialität aus, die man sehen, hören und verstehen kann. Als Person war er eher extravagant und sehr offen, für Viele war er ein Vorbild, auch für uns Musiker. Ich habe sehr viel Respekt vor ihm!
Leonard Bernstein bezeichnete einst seine Serenade für Violine, Streichorchester, Harfe und Schlaginstrumente nach Platons Symposion als sein bestes Werk. Was macht dieses Werk so besonders?
Isaac
Stern hat diese Serenade einfach genial gespielt! Bei der Uraufführung
dirigierte Bernstein selbst, zwei Genies zusammen auf einer Bühne, das muss
unglaublich gewesen sein. Die Serenade ist das Resultat von Bernsteins besten
Qualitäten. Eine unglaublich melodische Linie, dazu sehr viel Rhythmus und
Energie, das Stück ist sehr tänzerisch. Die Harmonien erkennt man sofort
wieder; wenn man sie hört, weiß man, das ist Bernstein! Manchmal höre ich eine
Inspiration von Strawinsky heraus, trotzdem bleibt Bernstein seinem ganz
eigenen Stil treu. Von der analytischen Seite her ist die Serenade geradezu
perfekt.
Etwas Anderes macht die Serenade auch so besonders: Es ist das Thema, das Bernstein wählte: Eine Serenade nach Platons Symposion, das ist meiner Meinung nach ein Statement. Alle wissen, dass Bernstein ein unglaubliches Herz hatte. Liebe ist für ihn alles. In der Serenade präsentiert er ganz unterschiedliche Facetten von Liebe, sie kann verrückt sein, introvertiert, extrovertiert, sehr geschlossen… Ohne Liebe sind wir Menschen keine Menschen mehr. In seinem fünfsätzigen Werk hat Bernstein die bei einem Gastmahl gehaltenen erfundenen Reden zum Thema Liebe musikalisch perfekt wiedergegeben; wenn man Platons Symposion liest, dann kann man es musikalisch nur auf Bernsteins Weise spielen. Meine Verbindung zu diesem Stück ist sehr stark.
Wann wurde dir klar, dass die Musik zu deinem Beruf wird? Welche Rolle spielt Hamburg für deine Entwicklung?
Eigentlich haben alle in meiner Familie Violine gespielt. Die Violine ist meine Muttersprache.
Ich habe einige Jahre in Hamburg gelebt und mit dem NDR-Sinfonieorchester gespielt. Immer wenn ich nach Hamburg komme, fühlt es sich wie ein nach Hause kommen an. Aus Hamburg bin ich als Student weggegangen und nun komme ich als Künstler wieder zurück. Auch wenn ich weit weg wohne, ist das Gefühl für diese Stadt immer noch sehr stark. Übrigens scheint jedes Mal, wenn ich nach Hamburg komme, die Sonne – ein schöner Willkommensgruß!
Vielen Dank für das Interview, lieber Marc und herzlich willkommen in Hamburg!