Das Hamburg Ballett eröffnet im Festspielhaus Baden-Baden die erste Ausgabe des Tanzfestivals »The World of John Neumeier« mit drei Vorstellungen von »Beethoven-Projekt II« (1.-3. Oktober). Ida Stempelmann, Ensemblemitglied beim Hamburg Ballett, tanzt eine führende Solorolle in diesem Ballett von John Neumeier. In unserem Blog spricht sie über die Kreation und über ihre weiteren Auftritte in Baden-Baden.
Ida, in Baden-Baden tanzt du dieses Jahr in mehreren Theatern. Im Festspielhaus sehen wir dich dieses Wochenende in John Neumeiers »Beethoven-Projekt II«. In deinem Steckbrief für unseren Blog sagtest du, dass deine schönste Erinnerung mit dem Hamburg Ballett der gesamte Kreationsprozess von »Beethoven-Projekt II« war. Was war so besonders daran?
Ida Stempelmann: Erstmal war es natürlich sehr besonders, weil es meine allererste Kreation mit John Neumeier war und es immer eine Überraschung war, was wir als Nächstes machen würden. Es ist wirklich eine besondere Zeit, die man da im Studio verbringt und ich konnte sehen und Teil davon sein, wie ein Ballett von John Neumeier zu Stande kommt!
Dann fiel die Kreation auch in eine Zeit, wo endlich etwas mehr Normalität in die Theater zurück gekehrt ist nach den sehr strengen Corona-Regelungen. Wir durften uns beim Tanzen wieder berühren. Die Uraufführung von »Beethoven-Projekt II« war die erste Aufführung, wo das Orchester uns wieder begleiten durfte, in diesem Ballett spielte das Orchester sogar mit uns auf der Bühne.
Ida Stempelmann und Atte Kilpinen, im Hintergrund das Orchester in »Beethoven-Projekt II« (c) Kiran West
Es war so schön das Orchester spielen zu hören und auf der Bühne zu sehen. Nachdem Corona-bedingt die Premiere (ganze 7-mal!) verschoben werden musste, unsere Vorfreude endlich wieder vor Publikum zu tanzen immer mehr wuchs, war es wirklich ein ganz besonderes Gefühl unsere Freude am Tanzen wieder mit Menschen teilen zu können.
Du tanzt auch in »Die Unsichtbaren« für das Bundesjugendballett im Theater Baden-Baden. Erzähl mal, wie wurdest du überhaupt Teil des Projekts? Wen verkörperst du in »Die Unsichtbaren«?
Nach einer »Matthäus-Passion«-Probe im April rief John Neumeier mich zu ihm und erzählte mir von dem Projekt, erklärte worum es gehen würde und fragte mich, ob ich bei der Produktion mitmachen wollen würde. Darüber musste ich keine Sekunde nachdenken, ich habe sofort ja gesagt!
Es ist ein sehr interessantes und wichtiges Thema und ich liebe das BJB. Wir haben etwas über einen Monat fast täglich mit John Neumeier im Studio verbracht und sehr intensiv an dem Werk gearbeitet. Es war für mich eine große Bereicherung, so tiefgründig zu arbeiten und in die Geschichte unserer Kunstform in Deutschland einzutauchen.
Ida Stempelmann mit dem Bundesjugendballett in »Die Unsichtbaren« (c) Kiran West
In dem Stück verkörpere ich keine bestimmte Figur. Die einzige Figur, die durchgehend derselbe Charakter bleibt, ist Isabella Vértes-Schütter als Mary Wigman. Sie ist es auch, die uns wie ein roter Faden durch den Abend führt. Wir Tänzer verkörpern verschiedene Situationen, Erinnerungen und Personen, die eine Rolle in Mary Wigmans Leben gespielt haben. Manchmal agieren wir als wir selbst – als das BJB, eine Gruppe, die sich mit dem Thema des Abends auseinandergesetzt hat.
Zwischen Proben und Vorstellungen ist oft nicht sehr viel Zeit, aber gibt es etwas an Baden-Baden, was dir besonders gefällt? Einen Ort, Platz, Café, das du noch besuchen möchtest?
Letztes Jahr sind wir einen Berg hochgewandert und haben dort einen Stand gefunden, wo man Honig von einem lokalen Imker kaufen kann. Es ist schön von so viel Natur umgeben zu sein. Und die Kartoffelsuppe bei Café König ist superlecker!
Prof. Roland Geyer ist einer der profiliertesten Intendanten und Musikmanager Österreichs, der ab 2006 das Theater an der Wien als innovatives Stagione-Opernhaus international neu positionierte. Mit John Neumeier verbindet ihn eine 18-jährige Zusammenarbeit. Zum Saisonauftakt präsentiert er mit »Beethoven-Projekt II« das zehnte Gastspiel des Hamburg Ballett an seinem Haus innerhalb von 15 Jahren. Am Rande der Proben nahm er sich Zeit für ein ausführliches Gespräch mit unserem Kommunikationsdirektor Jörn Rieckhoff.
John Neumeier hat ganz wenige Uraufführungen mit seiner Compagnie außerhalb Hamburgs realisiert. Wie haben Sie ihn im Vorfeld überzeugt, dass das Theater an der Wien für »Weihnachtsoratorium I-III« der richtige Ort wäre?
Roland Geyer: Bevor das Theater an der Wien 2006 eröffnet wurde, habe ich seit 1997 als Musikintendant der Stadt Wien zwei Festivals geleitet: das Sommerfestival »Klangbogen Wien« sowie das Festival »Osterklang«, einen Gegenpol zu den Salzburger Osterfestspielen unter Beteiligung der Wiener Philharmoniker. Bereits bei diesem Festival, das sich der Kontemplation in einem großen künstlerischen Spektrum verpflichtet fühlte, gab es zwei gemeinsame Produktionen mit John Neumeier. Mit zwei oder drei Jahre Vorlauf habe ich mich damals um »Messias« für den Osterklang 2003 bemüht. Ich fand: Dieses wunderbare Werk der Besinnung, das auch außerhalb des sakralen Ansatzes weitreichende Fragen aufwirft, – das wäre ein regelrechter Hit in meinem Festival.
Ich kann mich noch genau an die Schräge erinnern, auf der Lloyd Riggins als Hauptfigur tanzte. Johns Choreografien sind für mich Interpretationen, die im Zuschauer etwas erwecken: ein Darüber-hinaus-Denken, sodass man etwas mitnimmt, aus dem man immer wieder schöpfen kann – und das im Idealfall seinem Leben eine Bereicherung gibt.
Johns vierte Produktion, die ich eingeladen hatte, war eine Uraufführung für das Theater an der Wien: »Weihnachtsoratorium I-III«. Das war für uns der Durchbruch, zusammen mit einer Opernproduktion kurz darauf mit Nikolaus Harnoncourt. Da ist der Musiktheaterwelt, zumindest Europas, plötzlich bewusst geworden: Im Theater an der Wien ist mehr los als gedacht, da muss man genauer hinschauen.
Man spürt die Empathie, die Sie John Neumeiers Werken entgegenbringen. Sicher sind der Raum und die Zeit, die Sie ihm geben, seine Werke mit Live-Musik speziell für die Bühne im Theater an der Wien einzurichten, ein wichtiger Grund, warum er immer wieder gerne Ihre Einladungen angenommen hat.
Dazu kommt natürlich das historische Haus mit seiner besonderen Akustik und seiner wunderbaren Intimität. Auf den meistern Plätzen hat man das Gefühl, man könnte der Sängerin oder dem Tänzer die Hand auf die Schulter legen. Gerade für das »Beethoven-Projekt II« ist die Historie gewaltig. »Christus am Ölberge« ist 1803 hier im Haus uraufgeführt worden. Die zwei Sonaten sind in der Zeit entstanden, als Beethoven hier intensiv gearbeitet hat.
Daneben habe ich mit John über die Jahre eine Gesprächsfreundschaft aufbauen dürfen. Dafür bin ich sehr dankbar, denn John ist ein Mensch, der nicht sofort jeden umarmt. Gerade heute hatten wir zwei Stunden zusammen, in denen es nur wenige Minuten um das aktuelle Projekt ging. Uns beschäftigt: Was bedeutet die Existenz als Mensch, auch angesichts der menschenunwürdigen Flüchtlingssituation, die gerade in Afghanistan aufgebrochen ist? Wir tauschen uns aus, und sehen keine Trennung zwischen künstlerischen Fragen und der Welt um uns herum. Ich genieße solche Gespräche!
Trotz der großen internationalen Erfolge des Hamburg Ballett empfinde ich im Theater an der Wien jedes Mal eine besonders tiefe Resonanz. Wie erklären Sie die besondere Wertschätzung, die John Neumeier von Ihrem Publikum erfährt?
Ich habe wohl eine gute Hand dafür, mit sensiblen, hochkreativen Menschen eine Gesprächsebene aufzubauen, sodass sie mir vertrauen. Ich sehe mich als Begleiter der Künstler und vermittle ihnen, dass ich mich mit aller Kraft dafür einsetze, aus dem gemeinsamen Projekt das Beste zu machen. Diese künstlerische Vertrauensbasis spürt auch das Publikum bei den Aufführungen, wofür das Theater an der Wien inzwischen bekannt ist.
John hat im Gegenzug in 18 Jahren eine große Vielfalt an »Bewegungswelten« mitgebracht: Denken Sie sich den »Messias« neben »Orpheus« oder »Die Kameliendame« neben dem »Weihnachtsoratorium«. In seiner Art, an die Themen heranzugehen, war immer ersichtlich: Der Mensch steht im Mittelpunkt. Egal, ob es dann klassischer oder moderner, leichter verständlich oder den Intellekt stärker herausfordernd choreografiert war.
Was hat Sie bei der Vorbereitung für das aktuelle Gastspiel beschäftigt?
Es war eine wichtige Frage in den Vorgesprächen zu »Beethoven-Projekt II«, dass John in Hamburg das Orchester hinter den Tänzern platziert hatte. Die Akustik in unserem kleineren Theater hätte eine massive Verstärkung erforderlich gemacht. Weil John unser Haus gut kennt, hat er sofort verstanden, dass das Orchester im Graben spielen muss, um das Erlebnis im Zuschauerraum lebendig zu halten.
Bei der Platzierungsprobe ist mir aufgefallen, dass er einiges für unser Haus adaptiert hat. Man kann schon sagen, dass wir eine Wiener Fassung zu sehen bekommen. Ich habe mich früh dafür eingesetzt, dass der Flügel nicht in der ersten Gasse, sondern an der Seite auf dem überbauten Orchestergraben steht. Diese Plattform gab es auch im »Weihnachtsoratorium«, und auch in »Beethoven-Projekt II« ist es eine wunderbare Brücke in den Zuschauerraum.
Abgesehen davon sehe ich den Applaus des Live-Publikums als größte Anerkennung, die die Künstler für ihre Leistung erhalten. Insofern freut es mich ungemein, dass die hohe künstlerische Qualität von John Neumeiers Produktion mit den Tänzerinnen und Tänzern des Hamburg Ballett dieses Wochenende mit zwei vollen Sälen gewürdigt wird.
»Beethoven-Projekt II« ist die zweite Zusammenarbeit der Weltstars John Neumeier und Kent Nagano. Auch wenn der Hamburgische Generalmusikdirektor sich seit Jahrzehnten intensiv mit Beethovens Werken befasst hat, zeigt er sich von der künstlerischen Originalität des neuen Balletts beeindruckt. Im Online-Interview am 16. April 2021 – sechs Wochen vor der Uraufführung – lässt er keinen Zweifel daran, dass dieses außergewöhnliche Werk Begeisterung auslösen wird: beim Publikum wie auch bei den Mitwirkenden.
Welchen Stellenwert hat das Orchester in diesem Ballett? Das Bühnenbild weist ihm einen Platz genau in der Mitte zu, wodurch Tanz und Musik als aufeinander bezogene Formen des künstlerischen Ausdrucks erscheinen.
Kent Nagano: Wie in »Turangalîla« spiegelt »Beethoven-Projekt II« Johns herausragende Begabung, die Grundidee von Ballett zu vermitteln. Er hat ein Gesamtkunstwerk geschaffen, nicht nur ein Tanzstück mit Orchesterbegleitung. Er verwandelt die Idee von Ballett derart umfassend, dass alle Kunstgattungen organisch einbezogen sind. In diesem Fall stellt das Orchester den »Inhalt« des Abends bereit, aber auch den zugrundeliegenden Energie-Puls und das Medium, durch das sich die Tänzerinnen und Tänzer ausdrücken können. Zugleich sind wir ein sichtbarer Teil des Bühnenbilds, interessanterweise auch die Solisten. Durch diesen facettenreichen Ansatz sind die Tänzer als Künstler gänzlich frei. Sie tanzen zwischen den Musikern, aber auch vor, über und hinter dem Orchester, dem Dirigenten und den Solisten. Die Kunst wandelt sich zu einer Form des umfassenden, aktiven und universellen Austauschs. Für mich wirft dies ein besonderes Licht auf Johns ungewöhnliches Genie: seine Fähigkeit, mit dem Tanz ein Medium zu erschaffen, in dem sich humanistische Ideale ausdrücken lassen. Es gibt historische Vorbilder für diese Art des künstlerischen Ausdrucks, aus Zeiten »obrigkeitlicher Unterdrückung«.
Auch Beethoven lebte in solch einer Epoche: mit dem Wiener Kongress, auf den die Restaurationszeit folgte. Aufgrund seiner bekannten liberalen Ansichten und seiner Befürwortung von Demokratie und den Idealen der Französischen Revolution wurde er sogar unter eine Art Hausarrest gestellt. In dieser Zeit wurden Tanz und Hausmusik sehr wichtig, denn man konnte in dieser abstrakten Kommunikationsform seine Haltung zum Ausdruck bringen – sogar Widerspruch zur vorherrschenden Politik –, ohne sich durch die Verwendung konkreter Wörter unmittelbar in Gefahr zu begeben. Private Musikzirkel dieser Zeit erschlossen zudem die Idee der Gleichheit: Viele Frauen wurden exzellente Musikvirtuosinnen, die mit ihren Fähigkeiten, ihrer Ausstrahlung und ihrem Charakter oftmals die Männer in den Schatten stellten! Man denke an Clara Schumanns glanzvolle Karriere, um nur ein Beispiel zu nennen. Etwas Ähnliches finden wir in Johns Konzept für ›Beethoven-Projekt II‹. Mit Ausnahme von Klaus Florian Vogts kurzer Intervention – dem ersten Rezitativ und der folgenden Arie aus »Christus am Ölberge« – teilen sich die Emotionen und der spirituelle Gehalt des Balletts dem Publikum auf einer abstrakten Ebene mit. Jeder Zuhörer ist gezwungen, sich bei der Vorstellung als kreativ Denkender einzubringen. Jeder wird mit verschiedenen Eindrücken und Ideen aus der Oper gehen. Aus unserer Sicht als Musiker erlaubt dies eine enorme Freiheit, eine Verbindung mit dem Publikum aufzubauen.
Wie Sie schon erwähnten, vereint »Beethoven-Projekt II« verschiedene Musikgattungen. In den Jahren nach der Jahrtausendwende erregten Sie Aufmerksamkeit mit Ihren Berliner Konzertprogrammen, die Kammermusik und sinfonisches Repertoire kombinierten. Macht es einen grundlegenden Unterschied, wenn man Tanz hinzufügt?
Ja, sicherlich. Es erinnert mich an eine Fragestellung, die heutzutage viel diskutiert wird: die scheinbare Ergänzungsbedürftigkeit abstrakter oder sinfonischer Musik um visuelle Elemente mit dem Ziel, Aufführungen »leichter zugänglich« zu machen. Mich beunruhigt die Debatte zutiefst, denn sie setzt voraus, dass klassische Musik für das breite Publikum schwer verständlich ist. Wenn es ein Problem gibt, dann liegt das sicher nicht an Beethoven, auch nicht an Mozart, Brahms oder Mendelssohn. Eher kann es zum Problem werden, in welcher Weise, auf welchem künstlerischen Niveau und in welchem Zusammenhang wir ihre Werke aufführen. In Sinfoniekonzerten wird viel mit Videos und allen möglichen visuellen Reizen experimentiert, aber diese Experimente bieten nur Unterhaltung oder Ablenkung, ohne dem Publikum zu helfen, die Tiefe und grundlegende Bedeutung der Werke zu verstehen.
Im Gegensatz dazu ist Johns Choreographie in »Beethoven-Projekt II« völlig unabhängig. Die visuellen Elemente, die er Beethovens Siebter Sinfonie hinzufügt, konzentrieren sich auf den künstlerischen Gehalt und regen das Zusammenwirken von Publikum und der Kunstform Musik an. Paradoxerweise kann eine solche Abstraktionsebene die Musik weniger leicht verständlich machen. John aber erschafft einen mehrdimensionalen Dialog, sodass wir als Publikum ermutigt sind, Teil der Aufführung zu werden, anstatt uns nur passiv zurückzulehnen und uns unterhalten zu lassen. Auf diese Weise wird die Musik ein natürlicher Teil unseres Lebens, sie spricht uns direkt und persönlich an.
John Neumeier steht im engen Austausch mit den Hamburger Behörden, um Möglichkeiten für eine Wiedereröffnung der Oper für unser Publikum zu verhandeln.
John und ich tauschen uns darüber immer wieder aus. Die Lage in der Covid-19-Pandemie ist absolut frustrierend, weil so vieles, was wir über das Corona-Virus wissen, begrenzt ist – so vieles ist ein Rätsel. Diese Zeit hält sicher eine kaum lösbare Aufgabenstellung für alle Regierungsvertreter bereit, denn es gibt keine klaren Antworten, dagegen zuhauf widersprüchliche Informationen, und die Zielsetzungen müssen permanent an eine sich ständig ändernde Lage angepasst werden. Alle sind verletzlich. Alles andere ist unsicher, und dieser Umstand eröffnet ein breites Spektrum unterschiedlicher Ansichten. In einigen Regionen der Vereinigten Staaten kann man öffentliche Verkehrsmittel benutzen, ins Restaurant, in Geschäfte und zu Sportveranstaltungen gehen – wenn auch mit reduzierter Zuschauerzahl –, aber man darf keine Sinfoniekonzerte besuchen, keine Ballett- und Opernaufführungen.
Die Geschichte lehrt uns, dass es ein ernster und gefährlicher Fehler wäre, Kunst und Kultur zu unterschätzen – dieses Fundament unserer Identität, unserer gesellschaftlichen Werte und unseres Gefühls für Lebensqualität –, es würde enorme Konsequenzen nach sich ziehen. Obwohl das Überleben entscheidend von der Verfügbarkeit von Nahrung und einem Obdach abhängt, benötigen wir Menschen mehr als das nackte Überleben, um zu gedeihen. Diese »Menschlichkeit« unterscheidet uns von der Welt der Tiere wie auch der Technik. Während wir als Gesellschaft darum kämpfen, den richtigen Weg zu finden, ist Johns innere Einstellung und Energie, mit der er um unsere Kunst kämpft, eine Haltung, die wir uns als Menschen unbedingt zu eigen machen sollten. Während die Pandemie andauert, diskutieren Politiker, was Priorität haben soll. Diese Debatte können wir nicht gewinnen. Trotzdem wird man jederzeit fühlen, vielleicht nur unterbewusst, dass die seelische Nahrung, die sich aus Schönheit, Natur und Kreativität speist, immer unentbehrlich bleiben wird für ein erfülltes Leben.
John Neumeier im Gespräch mit Jörn Rieckhoff anlässlich der Uraufführung von »Beethoven-Projekt II«
»Beethoven-Projekt II« ist eine neu konzipierte Premiere, die das ursprünglich geplante Werk Beethoven 9 ersetzt. Wie kam dieser Wechsel zustande? Der wesentliche Impuls bestand offenbar darin, dass Sie nicht von Ihrem Anspruch einer Uraufführung mit Live-Musik unter der Leitung von Generalmusikdirektor Kent Nagano abrücken wollten.
John Neumeier: Es wäre mir nie eingefallen, in der Hamburgischen Staatsoper die Premiere von so einem gewichtigen Werk wie der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven mit aufgezeichneter Musik anzubieten. Meine Ideen konzentrierten sich darauf, wie eine angemessene Ehrung von Beethoven im Jubiläumsjahr seines 250. Geburtstags doch noch möglich wäre. Diese Überlegung hat mich zurückgeführt zu meinen Gefühlen und Erfahrungen mit dem »Beethoven-Projekt«, in dem ich 2018 zentrale Werke Beethovens zusammenstellte, die durch das »Eroica-Thema« verbunden sind. Am Ende der damaligen Arbeit blieb das Gefühl: Meine Beschäftigung mit diesem Komponisten ist bei Weitem nicht abgeschlossen. »Beethoven-Projekt II« ist kein Ersatz-Programm. Eher könnte man von einem Vorziehen in meiner langfristigen Beschäftigung mit Beethoven sprechen, denn dieses Werk hätte auch nach einem Ballett zur Neunten Sinfonie entstehen können.
Für mich ist das Interessante an der Arbeit mit Beethoven: Man hat zu tun mit einem großen Genie der Musikgeschichte, das ich mir immer wie auf einem Sockel stehend vorstelle. Ich persönlich habe seine Musik immer mit großer Verehrung – ja mit Respekt und Bewunderung angehört. Die Tatsache, dass man mit dieser Musikarbeitet, dass diese Musik zu einer Art »Werkzeug« – ein furchtbares Wort! – für die Erarbeitung eines neuen Kunstwerks wird, bedarf einer ganz anderen Art, mit dieser Musik umzugehen. Ich hole sie vom Sockel herunter – die Musik wird intim. Sie ist nicht mehr nur das Werk eines bewunderten Meisters, sie muss etwas ganz Nahes werden – für mich persönlich, damit ich damit arbeiten kann. Ich darf sie beim Hören nicht mehr nur »schön« finden, ich muss mich darin wiederfinden. Um es zusammenzufassen: Meine neue Kreation ist ein sehr aufregendes Projekt. Für mich ist es eine Überraschung zu erleben, wie Beethovens Musik eine gewisse Intimität gewinnt: kein unerreichbares Meisterwerk, sondern Musik, die mir sehr nahekommt. Es ist überaus faszinierend, Beethovens Musik zu meiner eigenen werden zu lassen!
»Beethoven-Projekt II« mischt Solo-Klaviermusik, Kammermusik und Orchestermusik – sogar mit Solo-Gesang. Vor zwei Jahrhunderten wäre das nichts Ungewöhnliches, in unserem heutigen Kulturbetrieb gibt es kaum Vergleichbares. Was hat Sie zu dieser Zusammenstellung bewogen?
Die Verbindung von einem Oratorium und einer Sinfonie wäre zu Beethovens Zeit tatsächlich nichts Ungewöhnliches. Wie man nachlesen kann, waren Programme mit verschiedenen Besetzungen damals an der Tagesordnung. Bei Kombinationen mit Kammermusik muss man allerdings berücksichtigen, dass sie eher für Privataufführungen gedacht waren. Meine Repertoire-Auswahl für »Beethoven-Projekt II« hat nicht zuletzt pragmatische Gründe. Für die Neunte Sinfonie hatte ich einen meiner liebsten Sänger vorgesehen, Klaus Florian Vogt. Ich habe mich sehr darauf gefreut, wieder mit ihm zu arbeiten. Als klar wurde, dass wir das geplante Werk nicht umsetzen könnten, habe ich das Beethoven-Repertoire regelrecht danach durchsucht, was trotz allem die Weiterführung seines Vertrages ermöglichen könnte. Dabei bin ich auf »Christus am Ölberge« gestoßen – ein Werk, von dem ich gelesen, aber das ich bis dahin nie vollständig gehört hatte. Innerlich habe ich sofort Klaus Florian vor mir gesehen und seine Stimme gehört.
Diese Vorentscheidung beeinflusste auch, dass der Abend »Beethoven-Projekt II« heißt und nicht einen romantischen Titel wie »An die ferne Geliebte« bekam – was vielleicht öffentlichkeits-wirksamer wäre. Genau wie mein erstes abendfüllendes »Beethoven-Ballett I« betrachte ich die neue Kreation als Projekt: Es gibt keine nacherzählbare Handlung, es ist kein choreografisches Porträt, auch kein rein sinfonisches Werk. »Beethoven-Projekt II« basiert auf der Faszination und Verbindung eines Choreografen zu einem großen Musiker, in Verbindung mit einer Auswahl von Werken, die ihm zusagen. Diese Werke lassen eventuell biografische Fragmente erahnen; durch die Improvisation zu dieser Musik erfahre ich sie zugleich als geniale Tanzmusik – eine Musik für Tanz in seiner reinsten Form. Mein neues »Beethoven-Projekt« ist wie ein Bouquet aus verschiedenen Farben – musikalischen sowie choreografischen.
Mit Ausnahme der Siebten Sinfonie haben Sie Werke Beethovens gewählt, die im zeitlichen Umfeld des »Heiligenstädter Testaments« entstanden. Steht dahinter eine bewusste Entscheidung?
Die Auszüge aus »Christus am Ölberge« stellen eine Verbindung her zum Leben von Beethoven. Wie einige Wissenschaftler sehe ich einen Zusammenhang zum sogenannten »Heiligenstädter Testament«. Das Seltsame am Oratorium ist, dass es nur das biblische Geschehen am Gründonnerstag thematisiert – bevor das eigentliche, das physische Leiden Christi beginnt. Es ist eine Vorahnung, ein rein innerlicher Kampf, und ein Gebet, dass die Passion bitte nicht stattfinden möge. Das kann man interpretieren als Beethovens eigenes Gebet, komponiert zu einer Zeit, als ihm klar wurde, dass er sein Gehör endgültig verlieren würde. Wie Christus scheint er in seiner Musik darum zu bitten, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen möge. Insofern ist meine Choreografie eher von der Biografie Beethovens angeregt, weniger von der biblischen Passionsgeschichte.
Die Siebte Sinfonie sehe ich auf einer ganz anderen Ebene. Das Werk ist bekannt als Beethovens tänzerischste Sinfonie, die am meisten auf rhythmischen Impulsen basiert. Daher sind alle Gedanken an eine narrative Handlung abwegig. Meine Choreografie ist eine Hommage an den Ursprung des Tanzes. Hier sollte man den reinen, puren Tanz zu dieser Musik erleben, ja genießen! »Beethoven-Projekt II« bedeutet für mich die Auseinandersetzung eines Choreografen mit verschiedenen Arten von Musiken, die zu verschiedenen Arten von Choreografien führen: teilweise als Fragmente von biografischen Bildern, aber manchmal auch einfach als Tanz, den diese Musik auslöst. Als ich die Musik für diesen Ballettabend zusammenstellte, schrieb ich in mein Notizbuch: Das Ballett ist nicht eine neue Aussage von mir über Beethoven, sondern ich suche und freue mich auf das, was Beethovens Musik mir erzählt.
Was kann ein großes Ballettensemble tun, wenn im Zuge der Corona-Pandemie die eigene Staatsoper und auch alle anderen Bühnen im Land für das Publikum geschlossen sind? John Neumeier hat es sich zur Aufgabe gemacht, in der Zeit des Lockdowns wenigstens die Probenbedingungen für das Hamburg Ballett soweit wie möglich an einen Normalzustand heranzuführen.
Voraussetzungen Seit Mitte Oktober gilt im Ballettzentrum ein strenges Hygienekonzept. Es schließt die AHA-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmasken) ebenso ein wie regelmäßiges Lüften durch die großen Fensterfronten des Schumacher-Baus.
Zusätzlich werden die Tänzerinnen und Tänzer regelmäßig auf Covid-19 getestet. Sie dürfen einander berühren – allerdings nur innerhalb festgelegter und nachvollziehbarer Sequenzen im Rahmen der Choreografie.
Die Probenarbeit Seit Beginn der Corona-Krise hat John Neumeier sich ganz auf das Management und die künstlerische Entwicklung des Hamburg Ballett konzentriert. Im zweiten Lockdown seit November 2020 plädiert er für eine möglichst schnelle Rückkehr zur Live-Aufführung – sobald das politisch und im Hinblick auf den Gesundheitsschutz vertretbar ist. Aus dieser Haltung heraus gewinnen die täglichen Proben im Ballettzentrum Hamburg eine besondere Bedeutung, die er mehr als üblich persönlich leitet.
Künstlerische Ideen John Neumeier nutzt die zusätzliche Probenzeit während des Lockdowns für gründliche Proben. Das Hygienekonzept des Hamburg Ballett erlaubt auch Durchläufe abendfüllender Ballette, einschließlich großer Ensembleszenen.
Neben »Beethoven-Projekt II«, das weiterhin auf seine Uraufführung wartet, probt John Neumeier mit besonderer Sorgfalt »Ein Sommernachtstraum« und »Tod in Venedig«.
Im »Steckbrief« stellen sich unsere Tänzerinnen und Tänzer vor, hier kommt Ida Stempelmann.
Name: Ida Stempelmann Geburtsdatum und -ort: 29.5.2000 in Düsseldorf, Deutschland Engagement: Hamburg Ballett ab 2020/2021. Bundesjungendballett ab 2018/2019
Lieblingsfarbe: Grün Lieblingsfilm: »Paper Towns« Lieblingssong: Ändert sich andauernd, aber mein Lieblingsmusiker zur jeder Zeit ist Macklemore.
Wenn
ich keine Tänzerin wäre, wäre ich …
… wahrscheinlich
Dolmetscherin, weil mir Sprachen lernen Spaß macht.
Welche ist deine schönste Erinnerung mit dem Hamburg Ballett? Der gesamte Kreationsprozess von »Beethoven-Projekt II«. Besonders schön war der erste Probentag in der Staatsoper mit dem Orchester. Es war so schön das erste mal nach über 6 Monaten wieder ein Orchester live spielen zu hören und sehen.
Wie erlebst du den Unterschied zwischen der Arbeit beim Bundesjugendballett und dem Hamburg Ballett? An meinem ersten Arbeitstag mit dem Hamburg Ballett war es ein besonderes Gefühl, nun ein Teil einer neuen Kompanie zu sein und doch dasselbe Gebäude zu betreten. Ich war sehr gespannt, wie es sein würde, statt 7 über 60 Kollegen zu haben, John Neumeier beim Kreieren zuschauen zu können, und nachdem ich mir viele Vorstellungen vom Hamburg Ballett angesehen habe, zu erleben, wie sie auf die Beine gestellt werden. Ich freue mich riesig darauf, beim Hamburg Ballett neue Erfahrungen zu sammeln und ganz viel dazu zu lernen!
Dies oder Das …
Comedy oder Drama? Comedy.
Bücher oder Filme? Filme.
Zuhören oder Sprechen? Sprechen.
Früher Vogel oder Nachteule? Nachteule.
Sommer oder Winter? Sommer.
Berge oder Meer? Meer.
Familie oder Freunde? Beides.
Tee oder Kaffee? Jeden Tag morgens Kaffee und abends Tee.