Anna Laudere hat als Erste Solistin in ihren 23 Jahren beim Hamburg Ballett viele große Hauptrollen getanzt und kreiert. Darunter unter anderem die Titelrolle in »Anna Karenina«, Marguerite Gautier in »Die Kameliendame« oder die Doppelrolle Hippolyta/Titania in »Ein Sommernachtstraum«. Beim Festival »The World of John Neumeier« in Baden-Baden 2024 verkörpert sie in den beiden Tennessee Williams-Balletten von John Neumeier eine der weiblichen Hauptcharaktere. Im Interview für unseren Blog verrät sie, was das Besondere an diesen Figuren ist und wie sie sich den künstlerischen Herausforderungen stellt.
Du tanzt bei »The World of John Neumeier« in Baden-Baden nicht nur die Hauptrolle der Blanche DuBois in »Endstation Sehnsucht«, sondern gibst auch dein Debüt als Amanda Wingfield in »Die Glasmenagerie«. Beides sind emotional intensive, komplexe Frauenfiguren, die aus der Feder von Tennessee Williams stammen. Was verbindet deiner Meinung nach diese beiden Figuren? Wo liegen ihre Unterschiede?
Anna Laudere: „Ich denke, dass beide Frauen sehr starke Persönlichkeiten sind, die sich in einer schwierigen Situation befinden, in die das Leben sie gebracht hat. Sie gehen mit ihren Herausforderungen um, so gut sie es können, so gut sie es wissen. Beide Rollen sind sehr komplizierte und vielschichtige Charaktere, die viele verschiedene Emotionen in sich vereinen. Amanda habe ich noch nicht in ihrer Gänze kennengelernt, aber ich würde schon jetzt sagen, dass sie mir nahesteht. Ich freue mich also sehr auf die Zeit in Baden-Baden, auf die Proben und die Vorstellungen, um meine Reise mit Amanda zu vertiefen. Da wird Johns Unterstützung sicherlich eine große Hilfe sein, dass er mich anleitet, sie besser kennenzulernen um hoffentlich das Beste aus mir herauszuholen. Ich bin wirklich aufgeregt.“
Sowohl die Rolle der Blanche, als auch die Rolle der Amanda erfordern nicht nur tänzerisches Können, sondern auch schauspielerisches Talent. Wie balancierst du diese beiden Aspekte während deiner Performance, und welche Techniken nutzt du?
Anna Laudere: „Ich würde sagen, es ist Arbeit, Arbeit, Arbeit. Man muss viel proben, viel Zeit investieren. Denn man sollte die Schritte und die Musik so klar haben, dass man nicht darüber nachdenken muss. Sie müssen automatisch in deinem Körper sein. Außerdem sollte man wissen, was die einzelnen Schritte bedeuten, denn die meisten Schritte in Johns Balletten haben eine Bedeutung. Für die tiefe Darstellung der Emotionen ist es wichtig, immer mit vollem Einsatz zu proben. Sowohl körperlich als auch gefühlsmäßig. Nur so findet man über die Zeit hinweg den richtigen Weg. Johns Ballette sind meistens sehr komplex, weil die Figuren immer eine Menge Subtext haben. Es ist nicht notwendig, dass das Publikum diesen gesamten Subtext kennt, aber wenn man es selber richtig fühlt, dann kann auch das Publikum mitfühlen. Deshalb ist es so wichtig immer beide Seiten, also den Tanz und das Schauspielen zu kombinieren. Für mich ist Johns Anleitung in diesem Prozess absolut notwendig und schön. Denn er sieht jeden Künstler anders. Er sieht, wie er dich weiterentwickeln kann und führt dich in die richtige Richtung. Und auch wenn man eine Rolle schon oft getanzt hat, sollte man sich stetig reflektieren. Denn mit der Zeit verändert man sich und damit verändert sich auch die Rolle in einem selbst. Man kann immer etwas mehr in sie hineinlegen. Und ich denke, das ist das Wichtigste für uns Künstler: immer weiter zu wachsen.“
Das Hamburg Ballett gastiert in diesem Jahr zum 27. Mal in Baden-Baden. Du bist bereits seit 2001 mit dabei, also zum 24. Mal! Wie hast die Kurstadt im Laufe der Jahre empfunden und gibt es Lieblingsorte von dir?
„Ich muss ganz ehrlich sagen, dass Baden-Baden einer meiner absoluten Lieblingsorte ist. Wirklich. Es ist die Atmosphäre, die Natur, die Menschen, und auch das Festspielhaus ist einfach wunderbar. Jeder hier ist so freundlich, so offen und bereit zu helfen. Und das ist meiner Meinung nach alles, was für die Kreativität notwendig ist. Baden-Baden inspiriert mich als Künstlerin jedes Jahr aufs Neue. Und wir haben hier so schöne Ballette aufgeführt. Jedes einzelne Jahr war eine wunderbare Erfahrung. Es ist wirklich einer meiner Lieblingsorte.“
Seit 2019 tanzt der gebürtige Ukrainer Artem Prokopchuk beim Hamburg Ballett und verkörperte seitdem viele verschiedene Rollen wie zum Beispiel Tybalt in »Romeo und Julia« und Der Goldene Sklave und Der Faun in »Nijinsky«. Im Rahmen des Gastspiels des Hamburg Ballett beim Festival »The World of John Neumeier« in Baden-Baden debütiert er in diesem Jahr nun in der Rolle des Stanley Kowalski in John Neumeiers Literaturballett »Endstation Sehnsucht«. Wir haben mit ihm über sein Debüt und seine Vorbereitungen auf die Rolle gesprochen.
Herzlichen Glückwunsch, lieber Artem, zu deinem Debüt in Baden-Baden! Die Rolle des Stanley Kowalski aus Tennessee Williams‘ Drama »Endstation Sehnsucht«ist eine sehr komplexe Figur mit vielen Facetten. Was bedeutet es für Dich, diese Rolle zum ersten Mal zu tanzen und wie bereitest Du Dich auf die emotionalen Herausforderungen vor, die mit dieser Darstellung verbunden sind?
Artem Prokopchuk: „Es fasziniert mich, in diese Rolle schlüpfen zu können und all das zu erleben, was Stanley zu bieten hat. Dabei ist es eine besondere Ehre und Hilfe, von so vielen Tänzer*innen umgeben zu sein, die ihre Rollen in »Endstation Sehnsucht« schon oft getanzt und tief erkundet haben. Ihre Erfahrungen geben mir Zuversicht. Sie sind zu einem wichtigen Teil der Vorbereitung auf diese Aufführung geworden, und ihr Wissen und Vertrauen haben uns zusammengeschweißt. Derzeit bin ich noch dabei herauszufinden, wie es sich schlussendlich anfühlen wird, Stanley zu verkörpern. Aber ich bin gespannt – und auch ein wenig ängstlich – es zu erfahren!“
John Neumeiers Choreografie ist bekannt für ihre Ausdruckstiefe und musikalische Komplexität. Was ist für dich in Bezug auf die Figur des Stanley besonders wichtig?
Artem Prokopchuk: „Ich fühle eine enorme Verantwortung, mit dieser Figur sorgsam umzugehen. Ich muss im Grunde in die Schuhe von jemandem schlüpfen, der zu ungeheurem Schaden, ungeheurer Gewalt fähig ist. Stanleys Gewalt ist nicht nur physisch; sie ist gleichzeitig auch psychologisch und emotional, und ich hoffe, dass ich das in jedem Blick und jeder Bewegung vermitteln kann. Es ist aufregend, mit einer so komplexen Figur betraut zu werden, und ich bin mit einer Mischung aus Nervosität und Aufregung erfüllt, während ich all die Emotionen durchlebe, die mit der Darstellung von Stanley einhergehen.“
Verrätst Du uns dein persönliches Ritual, bevor Du auf die Bühne gehst?
Artem Prokopchuk: „Bevor sich der Vorhang hebt und das Publikum eintrifft, verbringe ich gerne einen ruhigen Moment auf der Bühne nur für mich selbst. Ich schaue mir die Kulissen an, die mich umgeben, und das Kostüm, das ich trage, versuche die Energie zu spüren, die all das besitzt. Ich danke diesen Kulissen und Kostümen dafür, dass sie mir den Zugang zu einer anderen Seite von mir ermöglichen. Für mich bedeutet das Tanzen von solchen Balletten auch immer in der Zeit zu reisen. Ich versetze mich in eine andere Zeit im Raum, um andere Menschen zu treffen und in manchen Fällen ein anderer Mensch zu sein. Es ist eine Reise, für die ich sehr dankbar bin.“
Vielen Dank für das Gespräch, Artem und TOI TOI TOI!
John Neumeiers Ballette sind voller Details. Während man als Zuschauer*in vorrangig auf Bühnenbild, Kostüme, die Musik und die Choreografie achtet, werden einzelne Requisiten und Kulissenteile erst auf dem zweiten Blick wahrgenommen. Kennt Ihr in »Dornröschen« die sechsköpfige Ahnengalerie?
»Dornröschen«, Erster Teil. Während Prinz Désiré immer tiefer in sein rätselhaftes Erlebnis eintaucht, beobachtet er Szenen aus Auroras Kindheit und Jugend. Im Hintergrund ist eine sechsköpfige Ahnengalerie sichtbar. Aber wer sind die abgebildeten Portraitierten? Natürlich sind hier keine zufälligen Personen zu sehen, sondern sechs Abbildungen von historischen Persönlichkeiten des Tanzes, die eng verknüpft sind mit dem Ballett »Dornröschen« und dessen Schöpfer Marius Petipa.
Wir blicken zuerst von links oben nach unten: Das Gesicht der ersten Dame ist Olga Preobrajenska (1871-1962) zuzuordnen. Sie war Primaballerina am Mariinski Theater in St. Petersburg und wichtige Lehrerin zahlloser Tänzerinnen von Weltruf, darunter Margot Fonteyn. Ausgebildet wurde sie an der kaiserlichen Ballettschule in St. Petersburg, zu ihren Lehrer*innen gehörte u.a. Marius Petipa, der Choreograf von »Dornröschen«. Ihr wurde übrigens auch schon in einem anderen John-Neumeier Ballett eine Hommage gesetzt: Eine der Solo-Ballerinen im Ballets Russes Teil in »Nijinsky« ist inspiriert von Preobrajenska, im Besetzungszettel zur Uraufführung des Balletts im Jahr 2000 wurde sie zudem namentlich aufgeführt. Aber auch wenn wir ihren Namen auf den Programmzetteln nicht mehr finden, ihr Geist bleibt weiterhin auf der Bühne präsent. Und das hat auch einen guten Grund: Preobrajenska hatte eine enge Verbindung zu den Ballets Russes: Ihre Schülerinnen Tamara Toumanova, Tatiana Riabouchinska und Irina Baronova wurden im Alter von nur 13 Jahren zu Stars der Ballets Russes-Compagnie; als sogenannte »Baby-Ballerinas« begann ihre aufsteigende Karriere.
Weiter geht es mit dem mittleren Portrait auf der linken Seite der Ahnengalerie: Nicht viel schreiben muss man über Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893), der unvergessliche Ballettmusik komponiert hat, unter anderem zu »Dornröschen«, »Der Nussknacker« und »Schwanensee«, drei Ballettklassiker in der Choreografie von Marius Petipa.
Die dritte Portraitierte links unten ist Carlotta Brianza (1867-1930). Sie war eine italienische Primaballerina aus Mailand mit internationaler Karriere, gefeiert wurde sie für ihre virtuose italienische Technik. Berühmtheit erlangte sie, weil sie 1890 von Marius Petipa ausgewählt wurde, um in der Uraufführung von »Dornröschen« die Hauptrolle der Prinzessin Aurora zu tanzen.
Foto: Stiftung John Neumeier (c) Theater Museum, St. Petersburg
Während ihres Engagements am kaiserlichen Mariinski-Theater in St. Petersburg tanzte sie weitere führende Rollen in Balletten von Petipa. 1891 verließ sie Russland und setzte ihre Karriere in Italien, Wien, Paris und London fort. Wie auch Olga Preobrajenska unterrichtete sie nach ihrem Rückzug von der Bühne als Ballettpädagogin.
Drei Portraits sind noch unbekannt? Wir blicken nach rechts oben zu einem Mann, der lange an der Seite von Marius Petipa gearbeitet hat: Lew Iwanow (1834-1901). Er war ein außerordentlicher Tänzer, später Ballettmeister, Choreograf und Assistent von Petipa in Sankt Petersburg am Mariinski Theater. Als langjähriger Assistent übernahm er 1892 von dem erkrankten Petipa die Arbeit an »Der Nussknacker«, der berühmte Schneeflockenwalzer gilt als typisch für seinen lyrischen Stil. Für eine Neufassung von »Schwanensee«, die er gemeinsam mit Petipa erarbeitete, schuf er eine neue Choreografie für den zweiten Akt. Der sogenannte »Weiße Akt«, den John Neumeier in seiner Version »Illusionen – wie Schwanensee« rekonstruiert, beruft sich auf Iwanows Choreografie.
In der Mitte der rechten Spalte ist Pierina Legnani (1868-1930) zu sehen, Primaballerina assoluta der Mailänder Scala, später im Mariinski-Theater in St. Petersburg, dessen Ballettdirektor Marius Petipa war. Sie ging in die Ballettgeschichte als beste Tänzerin ihrer Zeit ein, Petipa selbst ließ sich mehrmals von ihr inspirieren und kreierte für sie wichtige Rollen oder änderte Choreografien so um, dass sie ihre technischen Fähigkeiten zeigen konnte. So wurden zum Beispiel im Coda-Teil des Grand Pas de deux im dritten Akt von »Schwanensee« 32 fouettés en tournant eingefügt, zu diesem Zeitpunkt beherrschte nur sie diese Drehungen.
Der Name des letzten Portraitierten auf der Ahnengalerie fiel des Öfteren: Marius Petipa (1818-1910). Ein bedeutender Choreograf, aus Marseille kommend, der 1847 als Tänzer nach St. Petersburg ging und blieb. Er wurde zum Ersten Ballettmeister ernannt, was bedeutete, dass er für jede Spielzeit des Mariinski Theaters einige neue Ballette kreieren sollte. Über 50 Jahre lang war Petipa in Russland tätig. Mit über 70 Jahren schuf er, gemeinsam mit dem Komponisten Peter Tschaikowksy, seine vielleicht besten Ballette, darunter »Dornröschen«.
Seine Bedeutung für die Balletthistorie kann an dieser Stelle nur angerissen werden: Petipa kreierte das klassische Repertoire für die Zukunft, alles was wir aus dem 19. Jahrhundert kennen – mit Ausnahme der Inszenierungen von August Bournonville, der in Dänemark tätig war – kennen wir durch seine Augen, er hat das klassische Ballett kodifiziert. Die Tänzer*innen trainieren jeden Vormittag noch dieselben Exercises wie die Tänzer*innen im 19. Jahrhundert, sie bedienen sich quasi derselben Codes. Natürlich hat sich einiges geändert, aber im Kern ist das immer noch die Sprache des klassischen Balletts. Petipas Choreografien sind in der Ausbildung klassischer Tänzer*innen auf der ganzen Welt nach wie vor gängig. Und auch Choreograf*innen setzen sich immer wieder mit seinen Stücken auseinander. So auch John Neumeier, der mit seinem »Dornröschen«-Ballett das Erbe Marius Petipas aufs Sorgsamste integriert und gleichzeitig ein eigenes Werk geschaffen hat, das sich bis heute größter Beliebtheit erfreut.
Am 6., 7., 8. und 10. Oktober kann John Neumeiers »Dornröschen« im Festspielhaus Baden-Baden erlebt werden – die Ahnengalerie selbstverständlich auch.
Matias Oberlin ist seit Beginn der Saison 2023-24 neuer Erster Solist beim Hamburg Ballett. Für unseren Blog spricht er über die Rollen eines Bösewichts, die er aktuell in Hamburg (Stanley in »Endstation Sehnsucht«) und auf Gastspiel in Baden-Baden (Der Dorn in »Dornröschen«) verkörpert.
Matias, erst einmal gratuliere ich dir sehr herzlich zu deiner Beförderung zum Ersten Solisten, wohlverdient! Als neuer Erster Solist hast du dich Anfang dieser Spielzeit in Hamburg in der Rolle des Stanley Kowalski in »Endstation Sehnsucht« präsentiert. Was sind die besonderen Herausforderungen an dieser Rolle? Wie schaffst du es nach einer Vorstellung aus dieser Rolle des Bösewichts wieder herauszukommen?
Matias Oberlin: Eine der Herausforderungen der Rolle besteht darin, dass ich mich nicht persönlich davon beeinflussen lasse. Ich liebe es jedoch, diese Art von Rollen zu interpretieren, und ich hatte in letzter Zeit mehrfach Gelegenheit, sie zu erkunden. Deshalb versetze ich mich auch sehr stark in sie hinein, denn als Künstler möchte ich Teile von mir entdecken, die ich noch nicht kenne. Ich glaube, dass wir alle eine »böse« Seite in uns verborgen haben, warum sollten wir sie also nicht ergründen, und wo könnte man das besser tun als in einer Rolle wie Stanley.
Zu Beginn des Arbeitsprozesses für diese Rolle hat mich diese dunkle Seite sehr belastet, und ich habe mit meiner Mutter darüber gesprochen. Sie sagte, dass ich nach den Aufführungen oder Proben einfach mal kräftig durchatmen sollte, damit diese Facette wieder verschwindet. Und das hat wirklich gut funktioniert. Die Unterstützung meiner Freunde und Familie war eine große Hilfe.
Jetzt sind wir hier in Baden-Baden und tanzen in unserer zweiten Gastspielwoche »Dornröschen« im Festspielhaus. Die Rolle des Dorns, die du bereits in Hamburg verkörpert hast, kann man auch zu den »bösen« Rollen in deinem Repertoire zählen. Wer ist der Dorn und welche Rolle spielt er in John Neumeiers Ballett?
Der Dorn ist der Widersacher der Rose, die Aurora beschützt. Er stellt das Hindernis dar, gegen das der Prinz kämpfen muss, um den Zauber zu brechen und seine Liebe zu treffen, die 100 Jahre lang geschlafen hat. Er spielt eine sehr wichtige Rolle in der Geschichte, denn natürlich kann es das Gute nicht ohne das Böse geben.
Baden-Baden hat für das Hamburg Ballett eine lange Tradition. Was gefällt dir besonders an der Stadt? Gibt es einen Lieblingsort, den du neben Proben und Vorstellungen im Theater immer wieder aufsuchst?
Baden-Baden ist für mich wie eine zweite Heimat. Seit ich vor 10 Jahren in der Compagnie anfing, komme ich immer wieder hierher, und so gibt es viele Orte, die ich Jahr für Jahr immer wieder gerne besuche. Ich bin ein bescheidener Mensch, daher finde ich, dass das Schönste an der Stadt die Stadt selbst ist. Ich liebe es, durch die Straßen zu ziehen und die schöne Natur zu genießen, die Baden-Baden umgibt.
Vielen Dank für das Interview, lieber Matias, und viel Erfolg weiterhin in Baden-Baden!
»Dona Nobis Pacem« ist John Neumeiers jüngstes Ballett zur Musik der h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach. Im Festspielhaus Baden-Baden wird die Produktion erstmals mit dem Freiburger Barockorchester (FBO) aufgeführt, einem international renommierten Ensemble in der Tradition der historisch informierten Aufführungspraxis. Im Vorfeld der Festspielhaus-Premiere sprach Hamburg Ballett-Kommunikationsdirektor Dr. Jörn Rieckhoff über das aktuelle Projekt mit Hans-Georg Kaiser, dem Intendanten und Geschäftsführer des Orchesters.
Welche Farbe bringt das Freiburger Barockorchester in die Baden-Badener Aufführungen ein? Kurz gesagt: Wie klingt der FBO-Bach?
Hans-Georg Kaiser: Ich glaube sehr daran, dass man Aufführungen mit unserem und ohne unser Orchester unterscheiden kann. Es wird Johann Sebastian Bach in besonderer Weise gerecht, seine Musik auf historischen Instrumenten zu spielen. Unsere Streicher musizieren auf Darmsaiten, die Holz- und Blechbläser verwenden Instrumente ohne Klappen und Ventile. Als Hörer erlebt man auf diese Weise eine viel größere Palette an Klangfarben.
Speziell zur h-Moll-Messe haben wir eine enge Verbindung, seit wir vor vielen Jahren eine szenische Produktion mit Achim Freyer realisierten. Es ist eines unserer Lieblingsstücke.
Das Freiburger Barockorchester ist ein international präsentes Ensemble. Wie oft kannst Du als Intendant Musiktheater- und Tanzproduktionen einplanen?
Ich freue mich jedes Mal, wenn wir von Opernhäusern oder jetzt vom Hamburg Ballett John Neumeier für derartige Produktionen angefragt werden. Bei unseren üblichen Tourneen sind wir heute in Paris, morgen in Brüssel, dann in Freiburg und Berlin – jeden Tag an einem anderen Ort. Natürlich ist es toll, dasselbe Programm in den großen Konzerthäusern aufzuführen. Ein noch tieferes Erlebnis aber stellt sich ein, wenn man ein Werk mehrfach auf einer Bühne und mit denselben künstlerischen Partnern musiziert. Im November etwa realisieren wir mit Simon Rattle die Charpentier-Oper »Médée« – solche Gelegenheiten nimmt unser Orchester gerne wahr.
Welche Verbindung hat das FBO zum Publikum in Baden-Baden? Von Hamburg aus gesehen habt Ihr hier ein Heimspiel.
Seit der Hauseröffnung kommen wir regelmäßig ins Festspielhaus. Ich erinnere mich an unvergessliche Konzerte, beispielsweise im Juni 2004 mit Cecilia Bartoli am Abend ihres Geburtstags. Ein anderes Mal haben wir Mozarts »Don Giovanni« mit René Jacobs szenisch aufgeführt. Jeder Auftritt hier ist ein besonderes Erlebnis, weil das Haus mit allen Abteilungen hinter der Veranstaltung steht und schaut, dass sie zu einem großen Erfolg für ein treues Publikum wird.
Zuletzt haben Hamburg Ballett und FBO vor vier Jahren mit Glucks Oper »Orphée et Eurydice« gemeinsam die Intendanz von Benedikt Stampa eingeläutet. Wie hat sich das Orchester in den vier turbulenten Jahren seitdem entwickelt?
Aktuell fühlen wir uns ganz hervorragend. Die Vielzahl unserer Konzerte lässt uns spüren, dass der Hunger nach Kultur ungebrochen groß ist. Auch haben wir die Möglichkeit, unsere vielfältige Arbeit von der Kammermusik bis zur Romantik umfassend zu dokumentieren, vor allem bei den Labels harmonia mundi und Deutsche Grammophon.
Natürlich hat die Pandemie auch uns als freies Orchester hart getroffen. Aber wir haben die Zeit genutzt, um unsere Position im internationalen Kulturbetrieb und den allmählichen Generationswechsel unter unseren Mitgliedern zu reflektieren. Auch haben wir neue Wege der Kommunikation beschritten, um unser Publikum noch enger an uns zu binden. Uns ist sehr bewusst geworden, dass Live-Erlebnisse, bei dem das Orchester mit dem Publikum im Saal gemeinsam atmet, unersetzlich sind.
Insofern sehe ich es als positives Zeichen, dass unsere Vorstellungen mit dem Hamburg Ballett John Neumeier und den jungen Sängerinnen und Sängern des Vokalensemble Rastatt in den kommenden Tagen ausverkauft sind. Übrigens übernimmt mit Cecilia Bernardini unsere neue Künstlerische Ko-Leiterin die Position als Konzertmeisterin. Sie und der Dirigent Holger Speck erweisen sich hierbei als hervorragende Partner. Gemeinsam bieten wir dem Festspielhaus-Publikum in der hochkarätigen Interpretation von Tanz und Musik einzigartige Erlebnisse. Daran sollten wir in der Zukunft anknüpfen – in Baden-Baden, gerne aber auch in Hamburg.
Im Dezember 2022 feierte John Neumeiers jüngste Kreation »Dona Nobis Pacem« ihre Uraufführung in Hamburg. Nun ist das Ballett im Rahmen von John Neumeiers Festival »The World of John Neumeier« zum ersten Mal in der Kurstadt Baden-Baden zu erleben. Aleix Martínez beantwortet drei Fragen über die Musik von Johann Sebastian Bach, seine Rolle »ER«und den Kreationsprozess mit John Neumeier.
John Neumeier hat sich für sein Ballett »Dona Nobis Pacem« für die h-Moll Messe von Johann Sebastian Bach entschieden. Was für einen Bezug hast du zu dieser Musik?
Aleix Martínez: Ich denke, dass die Musik von Johann Sebastian Bach etwas wirklich Tiefes in jedem Menschen berührt. Für mich geht es nicht primär um das Verstehen, sondern eher mehr um das Gefühl und die universelle Idee seiner Musik. Für mich persönlich steht auch nicht die Religion im Fokus, obwohl ich natürlich weiß, dass es sich um eine Messe handelt und ich empfinde, dass es ein riesiges, gehaltvolles Werk ist. Aber ich versuche eher die Essenz der Musik zu finden, mich loszulösen von allen Interpretationen und Fakten, die es auch im wissenschaftlichen Kontext über dieses Werk gibt. Und auch wenn John Neumeier die Musik vielleicht aus einer anderen Perspektive anhört, sehe ich darin – und das ist meine persönliche Meinung – die Suche nach dem Unbekannten oder den Versuch, einen gewissen Sinn im Unbekannten zu finden. Antworten auf die vielen Fragen zu finden, die wir nicht wirklich beantworten können. Ich würde also sagen, für mich hat die Musik fast den gegenteiligen Effekt. Ich hinterfrage durch die Musik eher, was vielleicht der Glaube ist. (lacht) Das ist für mich auch eine Stärke dieser Musik: es gibt kein richtig und kein falsch, es gibt nur die persönliche Emotion, die die Musik in jedem Menschen auslöst.
Du hast bereits mehrere große Rollen für Ballette wie »Anna Karenina«, »Beethoven-Projekt I« und »Beethoven-Projekt II« mit John Neumeier kreiert. Was ist das Besondere an deiner Rolle »ER« in »Dona Nobis Pacem«?
Aleix Martínez: Es ist schwer zu sagen, was besser oder schlechter ist, denn es ist immer anders. Jede Kreation, jede Produktion ist anders. Manchmal gibt es bei Balletten wie zum Beispiel »Anna Karenina« eine sehr starke Dramaturgie oder eine vorgeschriebene Handlung, auf der die Geschichte und Choreografie aufbaut. Das ist dann eine andere Herangehensweise und in der Hinsicht habe ich bei der Kreation von DNP eine große Freiheit empfunden. DNP berührt für mich Themen, die universell sind. Ich fühle, dass ich in der Choreografie sowohl über die Gegenwart, die Vergangenheit und vielleicht auch die Zukunft spreche. Und die Kraft dieser Arbeit – was ich erlebe, während ich auf der Bühne stehe oder auch schon in der Kreation erlebt habe – ist die Möglichkeit, mich immer wieder zu hinterfragen. Immer wieder zu hinterfragen, was wir als Menschheit im Allgemeinen tun. Woran wir glauben. Worum wir bitten und wen wir um Hilfe bitten. Ich kann also keine klare Antwort auf die Frage geben, was das Besondere an der Rolle ER ist. Denn es hat viel damit zu tun, was ich fühle.
Wie kann man sich den Kreationsprozess eines neuen Balletts von John Neumeier vorstellen?
Aleix Martínez: Nun, es gibt immer eine gewisse Aufregung, wenn man etwas Neues beginnt. Besonders bei der Arbeit mit einem so großartigen Künstler wie John. Als Choreograf hat John sein Vokabular über viele Jahre hinweg entwickelt und ich darf nun Teil eines dieser Kapitel sein. Mittlerweile würde ich sagen haben wir eine künstlerische Beziehung aufgebaut und ich fühle mich sehr frei, auch im Studio mit ihm zu forschen. Das ist für mich das Interessanteste, dass ich nicht nur ein Instrument bin, sondern aktiver Teil des Prozesses. Ich versuche jedes Mal herauszufinden, was er will, und in welche Richtung wir gehen können. Manchmal wissen wir das beide nicht und das ist auch ok, denn dann entwickelt sich etwas zwischen dem Schöpfer und dem Tänzer. Und wenn man kreiert, gibt es nichts Richtiges, nichts Falsches. Es geht immer um das, was in dem Moment passiert, und daraus können viele Dinge entstehen. Im Prozess ist es für mich wichtig, mich genau wie bei der Musik von Bach von allem, was ich über John weiß, frei zu machen. Wenn ich mich vollkommen in den Künstler hineinversetzen kann, mich wirklich mit der Essenz seiner Arbeit verbinden kann, ist das für mich das Wesentliche.
Über 45 Jahre ist John Neumeier von dem »Hamlet«-Stoff fasziniert und arbeitet an immer wieder neuen Ballettfassungen. Eine Frage steht dabei immer im Vordergrund: Wie kann man einem so umspannenden Klassiker der Weltliteratur gerecht werden und ihn für die Bühne des Balletts adaptieren? Bevor die neueste Version »Hamlet 21« auf der Bühne des Festspielhaus Baden-Baden zu erleben ist, möchten wir auf eine kleine Zeitreise gehen und die Entwicklung der einzelnen »Hamlet«-Versionen aufzeigen. Schaut selbst!
John Neumeier ist seit drei Jahren Ballettdirektor des Hamburg Ballett. Im Januar dieses Jahres feiert seine erste »Hamlet«-Version Premiere, aber nicht in Hamburg und mit seiner Compagnie, sondern in New York mit den damaligen Startänzer*innen Gelsey Kirkland als Ophelia, Erik Bruhn als Claudius, Marcia Haydée als Gertrude und Mikhail Baryschnikow als Hamlet. William Carter verkörpert den Geist.
Mikhail Baryshnikow ist es auch, der John Neumeier überhaupt dazu bringt, ein Hamlet-Ballett zu kreieren.
»Baryschnikow wollte diese Rolle so gern tanzen, dass sein damaliger Agent Sheldon Gold mich jeden Tag mit Anrufen bombardierte. Misha schlug Dmitri Schostakowitsch Film- und Schauspielmusik zu Hamlet vor. Mich dagegen faszinierte eine ungewöhnlich starke Komposition des amerikanischen Komponisten Aaron Copland, Connotations for Orchestra«.
Daher wird die erste einaktige Fassung »Hamlet Connotations« genannt, angelehnt an die assoziative, fragmentarische Struktur des Balletts, das für nur 5 Tänzer*innen kreiert ist.
1976
Nach der Uraufführung von »Hamlet Connotations« in New York, regt die Tänzerin Marcia Haydée, die schon als Hamlets Mutter Gertrude in New York tanzte, eine zweite Fassung für das Stuttgarter Ballett an. Nach dem Tod von John Cranko wird sie 1976 zur Ballettdirektorin dieser Compagnie ernannt.
Heraus kommt »Der Fall Hamlet«, eine von der Ausstattung vereinfachte Version, die emotional umso intensiver ist und im November 1976 in Stuttgart Premiere feiert. Ein Jahr später wird die Choreografie auch in Hamburg und mit Tänzer*innen der Hamburger Compagnie gezeigt.
In einer Programmnotiz von John Neumeier für die Stuttgarter Fassung steht: »Das Ballett erzählt keine Geschichte. In ihren Aussagen stellen sich die vier Figuren den Fall vor. Jeder muss sich mit einem Mordfall auseinandersetzen, muss über die Leiche schreiten, um in einer möglichen Zukunft weiterleben zu können.«
1985
Die Urfassung zu »Hamlet 21« entsteht in Kopenhagen für das Royal Danish Ballet. Für die Eröffnung des neu renovierten Opernhauses lädt man John Neumeier dazu ein, ein Ballett mit einem dänischen Thema beizusteuern. Der Choreograf willigt ein und kreiert seine dritte Hamlet-Fassung mit dem Titel »Amleth«. In »Amleth« verwendet John Neumeier erstmals Elemente der Vorgeschichte von Saxo Grammaticus und verknüpft sie mit dem berühmten Shakespeare-Stoff.
Die »Gesta Danorum« von Saxo Grammticus, um 1200 auf Latein herausgebracht, gilt heutzutage als eine der wichtigsten Quellen für die frühe dänisch-nordische Geschichte und enthält die Amlethus-Sage, die als Inspirationsvorlage für Shakespeares »Hamlet« diente. In der Geschichtssammlung werden der Krieg zwischen Norwegen und Dänemark sowie die Hochzeits Geruths thematisiert. Durch das Einbinden der Amlethus-Sage bekommen wir auch wertvolle Einblicke in die Kindheit des Titelhelden und die Beziehung zu seiner Mutter Geruth.
»Amleth« ist John Neumeiers erste abendfüllende Hamlet-Version. Die Tänzer*innen stattet er in wikingerartige Kostüme aus, die das Geschehen des Stücks historisch verorten. Diese Ausstattung wird sich nicht lange halten. Die dänische Königin Margrethe II, die eine Bewunderin von John Neumeiers Werken ist, antwortet nach der Premiere des Stücks auf die Frage, wie es ihr gefallen habe: »Es hat vielleicht ein bisschen zu viel Geschichte«.
Die Beschäftigung mit dem »Hamlet-Stoff« zieht sich fort. John Neumeier denkt sein »Amleth«-Ballett weiter und kreiert eine Neufassung für seine Hamburger Compagnie. Das Konzept, Shakespeares »Hamlet« mit der Amlethus-Sage von Saxo Grammaticus zu verbinden, behält er bei. Von den Wikinger-Kostümen verabschiedet er sich und verlegt die Handlung in eine moderne Epoche zwischen den 1930er und 1960er-Jahren.
Für John Neumeier ist das zentrale Dilemma in Shakespeares »Hamlet« die Verantwortung für die Vergangenheit. Der junge Mann will eigentlich studieren, interessiert sich für das Theater und soll nun Blut-Rache verüben. Dieser Grundkonflikt wird in dem Pas deux zwischen Hamlet und dem Geist seines Vaters deutlich, der von seinem Sohn Rache an seinen Mord durch den eigenen Bruder verlangt. Dieses Pas de deux gibt es in dieser Form übrigens schon seit der allerersten »Hamlet«-Version von 1976.
Wie schon beim Vorgängerballett »Amleth« lässt sich John Neumeier von der Musik Michael Tippetts inspirieren.
2013
Unter dem Titel »Shakespeare Dances – Die ganze Welt ist Bühne« zeigt John Neumeier Kurzformen seiner Ballette »Wie es Euch gefällt«, »Vivaldi oder Was ihr wollt« und »Hamlet«.
In »Hamlet« konzentriert er sich dabei auf die Kernszenen , darunter die Begegnung der Titelfigur mit dem Geist seines verstorbenen Vaters und deren Auswirkungen.
Das vorerst letzte Ballett zum »Hamlet«-Stoff feiert im Juni 2021 Premiere in Hamburg. Ursprünglich schon für März 2020 geplant, muss die Neuversion coronabedingt mehrere Male verschoben werden. John Neumeier nutzt die Zeit und ergänzt während der Corona-Wartezeit das Stück um eine neue Rahmenhandlung, die das Geschehen um Hamlet als Tagtraum in einem Klassenzimmer verortet.
»Die Schauspiele William Shakespeares waren während meiner gesamten Karriere eine bleibende Inspirationsquelle. Aber wenn man 45 Jahre von einem Stoff fasziniert ist und so lange daran arbeitet, muss es dafür einen guten Grund geben. Shakespeares Drama Hamlet ist sicher ein Wahrzeichen der Weltliteratur. Es ist ein Werk, von dem wir voraussetzen, dass es wesentlich ist, von dem wir annehmen, dass wir es kennen sollten. Viele von uns haben Hamlet in der Schule gelesen. Möglicherweise sollte auch mein Ballett in einem Klassenzimmer beginnen?«
Diesen Gedanken macht John Neumeier wahr. Seine vorerst letzte Ballettversion von »Hamlet« eröffnet die 46. Hamburger Ballett-Tage. Dieses Wochenende feiert »Hamlet 21« seine Baden-Baden Premiere und ist für insgesamt drei Vorstellungen im Festspielhaus zu erleben (7., 8. und 9. Oktober).
Damit endet unsere kleine Zeitreise. Und wer weiß, vielleicht müssen wir schon bald diesen Blog um ein weiteres »Hamlet«-Ballett aktualisieren.
Mit »Die Unsichtbaren« hat John Neumeier eine Tanz-Collage für das Bundesjugendballett geschaffen, die die aufblühende Tanzszene Deutschlands in den 1920er Jahren darstellt bis die »Machtübernahme« der Nationalsozialisten den künstlerischen Aufschwung zunichtemachte. Als Tanzhistoriker hat Ralf Stabel John Neumeier bei seiner Inszenierung wissenschaftlich beraten und bei der dramaturgischen Arbeit unterstützt. Im Interview erzählt er über die Hintergründe seiner Recherche, seine Erkenntnisse und die Herausforderungen dabei.
Sie haben sich als Theaterwissenschaftler und Tanzhistoriker bereits viel mit der aufblühenden deutschen Tanzszene in den 1920er Jahren beschäftigt und unter anderem Bücher über Alexander von Swaine und Gret Palucca veröffentlicht. Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit John Neumeier?
Ralf Stabel: John Neumeier hatte die Idee für eine Inszenierung über die Tänzer*innen, die in der Zeit des Nationalsozialismus von Ausgrenzung, Verfolgung und an Leib und Leben bedroht waren. Wir sprachen miteinander und sehr schnell wurde klar, dass das Wesentliche dieser Situation ihre Unsichtbarkeit war. Daher der Titel. Die weitere Zusammenarbeit ergab sich dann ganz selbstverständlich, weil es nun darum ging, »Die Unsichtbaren« aufzufinden und einige von ihnen, stellvertretend für sehr viele, in der Inszenierung wieder sichtbar zu machen. Das »wissenschaftliche« Suchen war meine Aufgabe. John Neumeier hat dann unter Verwendung der Fakten diese ergreifende Inszenierung geschaffen.
Was war für Sie persönlich die größte Herausforderung bei dem Projekt »Die Unsichtbaren«?
Von menschlichen Schicksalen zu hören oder zu wissen, ist eine Sache. Sich aktiv auf die Suche zu begeben und dann auch im Detail Lebens- und vor allem Leidenswege kennen zu lernen, um sie zu beschreiben, hat eine ganz andere Dimension. Das ist die menschliche Seite. Die wissenschaftliche Herausforderung bestand und besteht darin, dass man nach Menschen sucht, von denen man nichts weiß. Wo und wie fängt man da an? Über diejenigen, die damals im Rampenlicht standen, lässt sich vieles finden. Aber es gibt wenig Publiziertes oder nur schwer auffindbares Dokumentarisches über diejenigen, die entlassen und ausgegrenzt wurden, die emigrieren mussten, die deportiert oder gar ermordet wurden.
Für die Produktion haben Sie viele Nachforschungen angestellt, um die »Unsichtbaren« also all die Menschen aus der Welt des Tanzes, die während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur aus Deutschland fliehen mussten oder dort ausgegrenzt, verfolgt und im schlimmsten Fall ermordet wurden, sichtbar zu machen. Wie sind Sie bei Ihrer Forschung vorgegangen?
Zuerst habe ich ganz klassisch versucht, Publikationen zu Einzelschicksalen zu finden. Dann waren verschiedene Lexika, die sich mit dem Thema Flucht und Exil beschäftigen, hilfreich. In Fachzeitschriften gab es vereinzelt Publikationen zum Thema. Das Internet ist mit seinem Informationsangebot eine Hilfe. Doch schnell stellte sich heraus, dass dieses Thema ein noch überwiegend unbearbeitetes Feld war und ist. So musste ich nach ganz anderen Quellen suchen. Es lassen sich Schicksale anhand der verlegten Stolpersteine rekonstruieren, und es gibt auch das Gedenkbuch des Bundesarchivs, das die »Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland« auflistet. Aber die Auflistungen sind nicht in Berufsgruppen unterteilt bzw. fehlt diese Information meist. Stellen Sie sich also bitte vor, dass Sie nach jemandem suchen, von dem Sie nichts wissen, außer dass sie oder er im Bereich Tanz beschäftigt war und verschwunden ist. Sie haben aber keinen Namen, keinen Beruf, kein Alter, keine Adresse … nichts. Ich habe dann angefangen, die Bühnenjahrbücher dieser Zeit zu vergleichen, um herauszufinden, wer von einem Jahr auf das andere »verschwunden« ist. Die Zeitschrift »Der Tanz« liefert ebenso Informationen über Menschen in dieser Zeit. Man muss ein Gespür für das Verschwinden von Menschen entwickeln und dann versuchen, ihren weiteren Lebensweg zu recherchieren. Der führte dann für viele in die jüdischen Kulturbünde, ins Exil, in den Untergrund, ins Gefängnis oder auch in die Konzentrations- und Vernichtungslager.
Wie viele Schicksale von Menschen konnten Sie recherchieren und inwiefern sind diese in die Produktion miteingeflossen?
Wir haben im Zusammenhang mit der Inszenierung »Die Unsichtbaren« eine Memorial Wall entworfen, auf der die Namen von Betroffenen alphabetisch und mit dem Wissen um die Unvollständigkeit dieser Auflistung zusammengetragen sind. Diese Erinnerungswand wird es auch in Baden-Baden zu sehen geben, und sie ist ebenso im Internet einsehbar. Für die Internet-Präsentation bemühe ich mich, zu jedem einzelnen Menschen Biografisches zur Verfügung zu stellen und hoffe, dass sich weitere Interessierte finden, die sich an dieser Recherche-Arbeit beteiligen. Eigentlich wäre ein internationales Team notwendig, denn durch den damaligen Krieg ist es ein europäisches Thema, durch die Exile hat es eine internationale Dimension. Derzeit sind 274 Schicksale aufgelistet. John Neumeier lässt einige dieser Tänzer*innen auftreten, andere werden zitiert, über wieder andere wird berichtet. Am Ende der Inszenierung werden alle bisher bekannten Betroffenen von den Darsteller*innen mit Namen benannt.
In der Tanz-Collage werden viele historische Originaldokumente wie Briefe, Erlasse oder Reden verwendet und von den Schauspieler*innen und Tänzer*innen als Text rezitiert. Weitere Texte wurden von Ihnen verfasst. So auch ein Tribunal, bei welchem sich die Tänzerin Mary Wigman einer fiktiven Gerichtsverhandlung über ihre möglichen Verstrickungen in das System des Nationalsozialismus stellt. Inwiefern lassen sich aus heutiger Perspektive überhaupt Urteile über die Frage von Schuld fällen?
Urteile zu fällen, ist im engeren Sinn eine Aufgabe von Juristen. Wir können uns aber zu der Frage der individuellen Verantwortung verhalten. Ich schreibe Bücher deshalb in der Zeitform der Gegenwart, weil ich in der Darstellung nicht klüger sein möchte, als der Mensch, der in einer konkreten Situation handeln muss. Dadurch besteht auch die Identifikationsmöglichkeit für die Leser*innen: Wie hätte ich mich denn verhalten? Wir sollten uns fragen: Was konnten die Tänzer*innen 1933 zur »Machtergreifung« wissen, was 1936 zu den Olympischen Spielen? Wer hat die Reichspogromnacht 1938 wirklich miterlebt? Wer konnte wann etwas über die Konzentrations- und Vernichtungslager wissen? Wer hat damals überhaupt die Gesetze gelesen, die die Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung von Menschen »regelten«? Und wer hatte dann noch den Mut, unter Einsatz des eigenen Lebens einzugreifen? Wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Medien damals »gleichgeschaltet« waren. Um Handlungsoptionen überhaupt in Erwägung ziehen zu können, muss man über gesicherte Informationen verfügen.
Vor dem Hintergrund der derzeitigen weltpolitischen Lage und dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine erscheint eine thematisch vordergründig »historische« Produktion wie »Die Unsichtbaren« zeitgemäßer denn je. Haben Sie einen Wunsch oder eine Idealvorstellung, wie wir heutzutage mit der Lücke der »Unsichtbaren« umgehen sollten?
Wünschenswert ist, diese »Lücke« erstmal zur Kenntnis zu nehmen. Das heißt, dass wir uns im Tanz, aber auch in allen anderen Bereichen des Lebens fragen: wie konnten wir diese Schicksale nur so lange ignorieren? Um ein Interesse an diesem Thema zu wecken und weitere Diskussionen anzuregen, wäre es großartig, wenn »Die Unsichtbaren« – wie jetzt in Baden-Baden – an Orten gezeigt werden könnten, die für diese Geschichte von besonderer Bedeutung sind. Das sind nicht nur Städte in Deutschland, sondern auch die großen Zentren des Exils. Und selbstverständlich muss die heute noch in der Schule befindliche Generation um dieses Thema wissen. Die Untaten von vor 80 Jahren scheinen für uns Geschichte zu sein. Schaut man in die Welt, wird man eines Besseren belehrt. Wir haben die Verpflichtung, Gewalt zu verhindern und Frieden zu stiften. John Neumeier hat dies mit den Mitteln des Theaters gemacht. Ich bin John Neumeier dankbar für diese Inszenierung.
Bundesjugendballett bei »The World of John Neumeier« »Die Unsichtbaren« am 5.10. um 20.00 Uhr und am 6.10. um 14.00 und 20.00 Uhr | Theater Baden-Baden »Bewegende Erinnerung« Podiumsdiskussion mit John Neumeier und Tanzexpert*innen am 5.10. um 17.00 Uhr | Kulturhaus LA 8 Weitere Informationen und Tickets finden Sie auf der Webseite des Festspielhaus Baden-Baden
In unserer Reihe »Das Hamburg Ballett in Zahlen« veröffentlichen wir regelmäßig interessante Zahlen und Fakten rund um das Hamburg Ballett. Was verbirgt sich wohl hinter der heutigen Zahl?
Unsere Tänzerinnen und Tänzer sind in Baden-Baden angekommen und freuen sich auf die allererste Ausgabe des Festivals »The World of John Neumeier«. Im Festspielhaus tanzt unsere Compagnie John Neumeiers Ballette »Beethoven-Projekt II« (1.-3.10.) und »Hamlet 21« (7.-9.10.). In den kommenden Tagen wird auf der Bühne des Festspielhauses fleißig geprobt. Unsere Technik-Crew ist bereits seit ein paar Tagen vor Ort und hat im Voraus alles für die Ankunft unserer Tänzerinnen und Tänzer vorbereitet: Die LKW, voll mit Kostümen, Bühnenbild und Requisiten, entladen, die Kulissen aufgebaut und den Tanzboden ausgelegt. Insgesamt 400 Quadratmeter Schwingboden und zwei Sätze PVC (etwa 800 Quadratmeter) wurden aus Hamburg mitgenommen und vor Ort verlegt.
Ein Tanzboden besteht in der Regel aus einem Unterboden und einem Deckbelag, auch Tanzteppich genannt. Die Eigenschaften des Deckbelags richten sich nach den stilrichtungsabhängigen Bedürfnissen der einzelnen Institutionen. Bei uns besteht der Tanzteppich aus PVC. Er darf nicht glatt sein, damit unsere Tänzerinnen und Tänzer nicht ausrutschen. Er sollte aber auch nicht stumpf sein, denn dann bleiben die Tänzer »kleben«, was wiederum zu Verletzungen wie Bänderrissen führen kann. Unter dem Tanzteppich ist ein sogenannter Schwingboden unumgänglich. Der etwas nachgiebige Boden, bestehend aus »schwingenden« Platten, schont die Gelenke unserer Tänzerinnen und Tänzer und reduziert Verletzungsrisiken. Ein professioneller Tanzboden ist somit eines der wichtigsten Utensilien und darf bei keiner unserer Tourneen fehlen!
James Conlon is an internationally acclaimed conductor who is much in demand on both sides of the Atlantic Ocean. Since 2006, he has been LA Opera’s Music Director. For the current tour performances of John Neumeier’s “St. Matthew Passion”, he has accepted the musical direction of this ballet production – a rare incident, as he admits in his conversation with Jörn Rieckhoff.
How did you experience the Covid restrictions since March 2020?
James Conlon: There was almost exactly one year between my last performance in Europe (“Eugene Onegin” at the Rome Opera) and my first rehearsal in Europe. During this time, I stayed at home, and I must say, it was not all bad. My daughters came to us, and we, as a family, spent the year together. My little girl once said: “Papa, I have never seen you every night for dinner.” – So, there were many great things we experienced together.
Then, projects started again last March, among others with the Deutsches Symphonie-Orchester in Berlin which was one of the few places that was trying to do something. It was still without live audience. But little by little, performances in public started. In Los Angeles, we re-opened the season with “Il Trovatore” and “Tannhäuser”. In most places where I conduct, the audience is between 50 and 60 % of the capacity. This is where we are, and it is our job to preserve classical music in a challenging time. Certainly, it will come back. And John is right: the sooner the better.
James Conlon (c) Dan Steinberg
When did you meet John for the first time? Obviously, I know about your collaboration on “Orpheus and Eurydice” at the LA Opera in 2018.
It was before “Orpheus”. Of course, I knew all about him. I am not a ballet person, but everybody knows who John Neumeier is. I met him several years ago, when I conducted the New Year’s Eve concert of the NDR orchestra at the Elbphilharmonie in Hamburg. At the time, the Hamburg Ballet was doing performances of John’s “Christmas Oratorio I-VI”. Of course, I went to see it at the Hamburg State Opera, and there I actually met John backstage after the performance.
Then came “Orpheus”. I enjoyed the collaboration very much. When the possibility came up that we would be able to do “St. Matthew Passion”, I completely jumped on it and said: “Yes, let’s do it!”
Scene from John Neumeier’s „St. Matthew Passion“ at the Dorothy Chandler Pavilion in Los Angeles (c) Kiran West
Both choreography and music have their own demands, and both you and John have enjoyed a tremendous international career. How can one imagine the working process of the two of you?
The vocabularies of music and dance are different. They are almost like two different worlds. To be honest, I have almost systematically turned down any opportunity to conduct dance in any form. I had some experiences when I was very young, and I understood that the musical compromises that I felt I had to make, were just not to my taste. So, I avoided it all my life, but I made an exception for John – because he is John Neumeier, because the greatness of his art makes it worth surrendering a part of me in the service of this collaboration.
“St. Matthew Passion” is a choreography that John created many decades ago. It was conceived with another conductor who had his ideas and feelings about tempi, and it is natural that mine are different.
But let’s not talk so much about differences. With a lot of the tempi, I am able to do exactly what I would do anyway. They happened to work for John as well, and John has actually expressed flexibility. When it really matters to him, he tells me and says: “We cannot do this”, or: “We could do it, but it makes no sense and it does not project the feelings we need to have.” And then, I try to understand it, and I try to accommodate.
The LA Opera Orchestra conducted by James Conlon, the ensemble of the Hamburg Ballet and the LA Opera Chorus during a performance of the „St. Matthew Passion“ at the Dorothy Chandler Pavilion in Los Angeles (c) Kiran West
Can you describe the rehearsal process on the stage of the Dorothy Chandler Pavilion?
We had relatively little time together on stage. The 48 hours were very, very challenging, because in the end, we had only one chance to get it all in place. Plus, the setup with the choruses placed at the back of the stage, is tremendously challenging for me and the orchestra, because we do not hear their sound directly.
I would have preferred to put the choruses in the front of the public space by taking out the first few rows – or to have them on the side stages perform antiphonally. This would have been wonderful! Every alternative however, was taken away by the Covid restrictions of the County of Los Angeles. Anyway, in the course of the rehearsals, everybody was getting better and finally knew how to deal with the situation.
James Conlon conducts performances of the „St. Matthew Passion“ in Los Angeles (c) Dan Steinberg
We are very grateful for the energy and anticipation you put into planning our common project to invite John and the Hamburg Ballet to Los Angeles.
Both Christopher Koelsch and I were passionate about the idea that this would take place. Now, that everybody has come together, it is a great moment for me. I love the collaboration with John! To conduct the “St. Matthew Passion”, is always a privilege. To do it in a way that you live with it for several weeks – this is truly wonderful!