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45 Jahre »Illusionen – wie Schwanensee«

Vor 45 Jahren, im Jahr 1976, widmete sich John Neumeier einem der bekanntesten Ballette der Welt: »Schwanensee«. Die Ursprünge dieses Werkes, das mittlerweile zu einem Synonym für klassisches Ballett geworden ist, liegen Ende des 19. Jahrhunderts, um genauer zu sein im Jahr 1877. Damals komponierte Peter I. Tschaikowsky sein erstes abendfüllendes Ballett mit der eingängigen Musik, die internationalen Weltruhm erlangte. Einen weiteren Grundstein für die weltweite Bekanntheit legte die im Jahre 1895 von Lew Iwanov und Marius Petipa kreierte Choreografie, die in ihrer Form von vielen großen Choreografen des 20. Jahrhunderts interpretiert wurde, unter anderem George Balanchine, Rudolf Nurejew oder John Cranko.

John Neumeier beschäftigte sich in seiner dritten Spielzeit am Hamburg Ballett mit dem Stück, das die Geschichte des jungen Prinzen Siegfried und seine tragische Liebe zur verzauberten Schwanenprinzessin Odette erzählt. Er erschuf eine träumerische Neuinterpretation des Werks, die vor 45 Jahren, am 2. Mai 1976 unter dem Titel »Illusionen – wie Schwanensee« zur Uraufführung kam.

Ein choreografischer Anspruch John Neumeiers lag darin, den Kern der Choreografie von Marius Petipa und Lew Iwanow zu erhalten und gleichzeitig zeitgemäße Themen in dem Ballett zu verhandeln: »Eine ›Schwanensee‹-Konzeption für unsere Compagnie kann sich nicht auf die naive Nacherzählung eines Märchens mit den uns fremden Mitteln des 19. Jahrhunderts beschränken. Sie findet ihren Sinn nur, wenn sie das überzeitliche Thema der unverwirklichbaren Liebe und seine Interpretation, die es durch das 19. Jahrhundert erfahren hat, mit heutigen Mitteln darstellt.«

Das Ende von John Neumeiers »Illusionen – wie Schwanensee« weicht von der Erzählung der traditionellen Version ab; der König folgt dem symbolischen »Mann im Schatten« und findet seinen Tod in den Fluten des Sees. © Kiran West


John Neumeiers Ansatz liegt deshalb in einer Fokussierung auf eine geschichtlich reale Person: Er inszeniert die Rolle des Prinzen Siegfrieds nach historischem Beispiel an König Ludwig II von Bayern angelehnt. Dieser König, dessen Beiname Märchenkönig von den zahlreichen Bauprojekten namhafter deutscher Schlösser (zum Beispiel Neuschwanstein) herrührt, wurde seinerzeit aufgrund einer angeblichen Manie für wahnsinnig erklärt und entmündigt. Im Zentrum von John Neumeiers Fassung steht also die Figur eines Königs, der sich in träumerischen Illusionen verliert, zwischen Wahnsinn und Wirklichkeit transzendiert. Auch das opulente Bühnenbild von Jürgen Rose referiert auf die innere Zerrissenheit des tragischen Herrschers und ist inspiriert von dessen Schlössern.

Jürgen Rose während der Besichtigung der Schlösser Ludwig II in Bayern im August 1975 © Jean-Marie Bottequin
Prinzessin Natalia (Hélène Bouchet) besucht den eingesperrten König (Edvin Revazov) in seinem Gefängnis. Die Kulisse von Jürgen Rose ist inspiriert von den unfertigen Räumen im Schloss Herrenchiemsee © Kiran West

Die Rolle dieses Königs wurde in den vergangenen 45 Jahren von vielen Tänzern interpretiert. Die Erstbesetzung der Uraufführung war der deutsche Tänzer Max Midinet, der im Schaffensprozess an der Kreation der Figur beteiligt war.

Aber auch andere Stars des Hamburg Ballett wie Janusz Mazoń, Jean Laban, Vladimir Derevianko und Lloyd Riggins verkörperten die Rolle des tragischen, vom metaphorischen »Mann im Schatten« verfolgten Königs.

»Illusionen – wie Schwanensee« erfreut sich bis heute großer Beliebtheit, wird von Zuschauern wie Presse immer wieder als originelle Neukonzeption des Weltklassikers beschrieben. Neben Gastspielen in Japan, München und Paris gehört das Ballett außerdem zum festen Repertoire des Bayerischen Staatsballetts und des Semperoper Ballett in Dresden. In Hamburg tanzten die Schwäne und der König zuletzt im Jahr 2018. Bei der Wiederaufnahme verkörperte der Erste Solist Edvin Revazov die Rolle des Königs.

Anna Laudere als Odette und Edvin Revazov als König © Kiran West

Friederike Adolph