Die Aufführungen des »Beethoven-Projekt« im Rahmen der Herbstfestspiele 2019 sind das dritte gemeinsame Projekt des Hamburg Ballett mit der Deutschen Radio Philharmonie im Festspielhaus Baden-Baden. Vor zwei Jahren markierten Aufführungen von John Neumeiers Ballett »Das Lied von der Erde« mit Klaus Florian Vogt und Benjamin Appl den Beginn der fruchtbaren Zusammenarbeit. Seit wenigen Monaten ist Maria Grätzel Managerin des Orchesters, dem die FAZ erst kürzlich »überregionales Renommee« und einen »fabelhaften Chefdirigent« (Pietari Inkinen) attestierte, der die Hörer aus nah und fern anziehe. Am Rande der Generalprobe verrät Maria Grätzel, was sie an der Kooperation mit John Neumeier und dem Hamburg Ballett besonders schätzt.
Die Deutsche Radio Philharmonie ist ein erfolgreiches Konzertorchester. Was motiviert Ihr Orchester, eine Produktion mit dem Hamburg Ballett zu realisieren?
Maria Grätzel: Gerade dass es sich um eine szenische Produktion handelt, ist für uns reizvoll! Als Rundfunksinfonieorchester haben wir nur selten die Gelegenheit, Opern oder Ballette musikalisch mitzugestalten. Das »Beethoven-Projekt« ist eine willkommene und zugleich herausfordernde Aufgabe – vor allem, weil es um ein Ballett von der Qualität geht, die sich mit dem Namen John Neumeier verbindet.
Beethovens 250. Geburtstag ist in der Klassikwelt in aller Munde. Wie fügt sich John Neumeiers »Beethoven-Projekt« in die Programmplanung der Deutschen Radio Philharmonie ein?
Wir beziehen zum Beethoven-Jubiläum ganz aktiv Stellung. Einen Jahrtausend-Komponisten wie ihn kann man einfach nicht ignorieren! In dem Projekt »My Playlist Beethoven« gehen wir in Schulen und lassen die Kinder eine Playlist von »Beethoven-Lieblingsstücken« zusammenstellen, die im kommenden Jahr in Konzerten zu hören sein werden. Außerdem stehen in meinem Kalender: ein Wochenende mit sämtlichen Beethoven-Klavierkonzerten – Lars Vogt macht »play & conduct« – und eine Deutschland-Tournee mit Beethovens Neunter in einer Neuedition von Breitkopf & Härtel.
Bei der Planung des »Beethoven-Projekt« war es John Neumeier wichtig, aus den 85 CDs seiner Beethoven-Gesamtaufnahme eine stimmige Auswahl für den zweistündigen Ballettabend zusammenzustellen. Wie sehen Sie die Werkauswahl aus Orchesterperspektive?
Ich empfinde die Kombination von Kammer- und Orchestermusik in einem Programm als besonders spannend. Einige Musiker unseres Orchesters erhalten so zusätzlich die Gelegenheit, ihr herausragendes Können zu zeigen. Ein Streichquartett der Deutschen Radio Philharmonie spielt den gewichtigen langsamen Satz aus Beethovens op. 132. Unser Erster Konzertmeister Ermir Abeshi und unser Solocellist Teodor Rusu spielen den anspruchsvollen langsamen Satz des »Geistertrios« sogar auf der Bühne – auswendig! Aber auch das ganze Orchester ist mit einem der zentralen Werke aus Beethovens Sinfonik vertreten, der »Eroica«. Für mich persönlich ist es ein Privileg, mit der Compagnie von John Neumeier aufzutreten.
Im Rahmen der Herbstfestspiele 2019 zeigt das Hamburg Ballett im Festspielhaus Baden-Baden John Neumeiers 160. Ballett, das »Beethoven-Projekt«. Die beiden Aufführungen am 3. und 4. Oktober werden vom SWR aufgezeichnet und voraussichtlich im Frühjahr 2020 ausgestrahlt. Dr. Wolfgang Gushurst, seit 2017 Leiter der SWR-Hauptabteilung »Kultur, Wissen, SWR2«, hat sich in besonderer Weise für diese Kooperation stark gemacht. Anlässlich der Saisoneröffnung im Festspielhaus Baden-Baden sprach er mit Dr. Jörn Rieckhoff über seine persönliche Motivation, für John Neumeier auch medial den roten Teppich auszurollen.
Was verbinden Sie mit John Neumeier und dem Hamburg Ballett? Wo haben Sie die Compagnie bisher erlebt?
Dr. Wolfgang Gushurst: Sehr beeindruckend und intensiv sind die Aufführungen wie z.B. im letzten Jahr im Festspielhaus Baden-Baden mit »Bernstein Dances«. Das Besondere und die intensive Detailarbeit vermittelt sich aber auch sehr gut bei einem Proben- oder Werkstattbesuch. So hatte ich bei einem Hamburg-Aufenthalt mit meiner Familie Gelegenheit, im Rahmen der Theaternacht einen Einblick in die Probenarbeit in der Hamburger Ballettschule zu erhalten. Dies kann ich sehr empfehlen.
Der SWR ist ein langjähriger Partner des Hamburg Ballett und hat in der Vergangenheit zentrale Werke aus John Neumeiers Schaffen aufgezeichnet. Was war der Impuls, diese Tradition mit John Neumeiers neuestem Ballett wiederzubeleben?
Wir stehen kurz vor dem Beethovenjahr
2020. Die verschiedensten Orchester, Ensembles, Musiker beschäftigen sich mit
den Werken, und vermutlich wird alles, was Beethoven jemals auf Notenpapier
gebracht hat, zur Aufführung gelangen. Als Programmmacher und auch
Kulturproduzent sind wir immer auf der Suche nach originellen Zugängen, was mit
der künstlerischen Aneignung von Beethovens Musik durch John Neumeier
garantiert gegeben ist.
Natürlich hilft bei solchen Projekten auch die langjährige erfolgreiche Zusammenarbeit etwa zur »Matthäus Passion« oder »Tod in Venedig«. Übrigens hatte in der »Matthäus-Passion« John Neumeier bei der SWR-Aufzeichnung 2005 als Jesus seinen legendären letzten Auftritt als Tänzer in einer Hauptrolle.
John Neumeier bringt das Hamburg Ballett seit mehr als 20 Jahren regelmäßig mit neuen Programmen ins Festspielhaus Baden-Baden. Welche Rolle spielt das für Ihre Berichterstattung?
Die künstlerische Qualität, die große
Begeisterung, die die Aufführungen auslösen, und auch der sehr gute
Publikumszuspruch sind für uns die Anknüpfungspunkte für die Berichterstattung.
John Neumeier ist nicht nur ein Magnet für die Zuschauerinnen und Zuschauer der
Aufführungen, sondern es gibt eine sehr große Schnittmenge mit den Nutzern der
SWR-Kulturangebote in Fernsehen, bei SWR2 oder im Netz.
Mehr darüber, wie die Filmfassung des »Beethoven-Projekt« entstanden ist, erfahrt ihr im Beitrag der Reihe »Hamburg Ballett in Zahlen«: »Beethoven-Projekt« als Film.
Petra Müller ist Spielleiterin an der Hamburgischen Staatsoper. Zwischen den Endproben und der ersten Vorstellung im Festspielhaus Baden-Baden erzählt sie mir von ihrem Job, von der Probenarbeit zu »Orphée et Eurydice« und den Besonderheiten einer Ballett-Oper.
Sie sind die guten Geister
des Repertoires. An Opernhäusern und Theatern sorgen die Spielleiter dafür,
dass die Stücke immer lebendig bleiben, auch wenn sie schon seit vielen Jahren
auf dem Spielplan stehen. Petra Müller ist seit 20 Jahren an der Hamburgischen
Staatsoper angestellt und hat schon viele Generationen von Sängern in die
Ideenwelt diverser Inszenierungen eingearbeitet. Unter anderem ist sie bei der
Einstudierung der Ballett-Oper »Orphée et Eurydice« beteiligt, inszeniert und
choreografiert von John Neumeier. Die Produktion feierte im Jahr 2017
Uraufführung in Chicago, wurde anschließend in Los Angeles gezeigt. Beide Male
hat das Joffrey Ballet die tänzerischen Parts übernommen. Im Februar 2019
folgte die Hamburg-Premiere unter Beteiligung des Hamburg Ballett. »Sobald die
Proben in Hamburg begonnen haben, war ich als Spielleiterin voll im Einsatz,
als Assistentin begleite und unterstütze ich den Regisseur«. Eine Inszenierung,
die Petra von Anfang begleitet hat, betreut sie in der Regel auch später. Und
so sehen wir sie bei der Vorstellungsserie in Baden-Baden wieder.
An jeder Neueinstudierung an der Hamburgischen Staatsoper sind ein, manchmal auch zwei Spielleiter beteiligt. Diese sind dann für die an der Produktion beteiligten Sänger verantwortlich, aber auch für die Statisten und den Chor, wenn dieser eine Szene auf der Bühne hat. Als Spielleiterin bei »Orphée et Eurydice« ist Petra für insgesamt drei Sänger zuständig. Von Anfang an ist sie in die Ideen des Regisseurs John Neumeier involviert. Während der Proben schreibt sie alles auf – ähnlich wie es bei einer Ballettproduktion der Choreologe macht. Im sogenannten Regiebuch sind alle Anweisungen der Regie vermerkt. Das Regiebuch ist ein Klavierauszug, in dem zwischen zwei Notenseiten immer eine leere Blankoseite eingeklebt wird, auf der die Spielleiterin wichtige Gedanken des Regisseurs, Auf- und Abgänge der Sänger, Blickrichtungen, technische Ereignisse und vieles mehr festhält. »Ich notiere mir auch, welche Kostüme die Sänger anhaben oder ob sie mit speziellen Requisiten spielen«.
Wichtig ist, dass man genau erkennen kann, wie die Inszenierung abläuft, sodass man sie später eigenständig einstudieren kann. »In der Oper ist es üblich, dass ein Regisseur nach der Premiere seine Arbeit beendet«, erklärt mir Petra. »Dann sind wir als Spielleiter gefragt, wir können dank unserer Regiebücher ein Stück selbstständig über viele Jahre hinweg immer wieder aufnehmen. Wir allein sind dafür verantwortlich die Ideen des Regisseurs weiterzugeben und die gesamte Umsetzung so gut wie möglich zu erhalten«. Das erklärt auch die Bezeichnung Spielleiter, die an vielen Opernhäusern geläufig ist. Bei einer neuen Besetzung kann ein Spielleiter mithilfe des Regiebuchs die neuen Sänger präzise einarbeiten. »Jeder Sänger arbeitet anders. Bei einer Operninszenierung darf es kleinere Änderungen geben, ein Sänger macht vielleicht noch einen Schritt, bevor seine Phrase beginnt. Das geht natürlich bei einer Ballett-Oper nicht. Die Sänger, die sich zwischen den Tänzern bewegen, müssen alles minutiös richtig machen, sozusagen auf der richtigen Zählzeit. Alles muss miteinander passieren. Bei Orphée ist alles sehr viel präziser vom Timing als es in einer Oper wäre. Das macht es aber auch so faszinierend!«.
Schwieriger wird es immer,
wenn ein Sänger bei einer Oper kurzfristig einspringt. Dann muss ein
Spielleiter eine Art Gastfassung erstellen. Der Sänger braucht die wesentlichen
Informationen, aber nicht zu viele. »Das muss alles sehr schnell gehen. Der »Einspringer«
kommt ja meist ein paar Stunden vor Beginn der Vorstellung angereist. Mit der
Kurzfassung müssen wir es schaffen, diesen Sänger in die Produktion zu bringen.
Wir geben ihm eine Art Stichwortzettel in die Hand, in der das Wichtigste
draufsteht. Geh nach links, nimm das Buch in die Hand, bleibe in der Mitte
stehen. Ich bin in solchen Momenten dann hinter der Bühne. Zwischen seinen
Auftritten gehen wir die nächsten Regieanweisungen durch. Szene für Szene.« Im
Notfall springt die Spielleiterin selbst ein. Dies ist bei »Orphée et Eurydice«
zum Glück nicht der Fall. Dennoch schaut Petra lieber von der Seitenbühne auf
die Inszenierung. Für die Auftritte der Sänger ist dann aber der Inspizient
verantwortlich.
Bei der Ballett-Oper »Orphée
et Eurydice« ist alles etwas anders, denn hier gibt es einen Regisseur, der
nach der Premiere nicht geht, sondern jede weitere Vorstellungsserie leitet. Änderungen,
auch nach der Premiere, sind immer möglich. So auch in Baden-Baden: »John
Neumeier ist sehr kreativ und entwickelt seine Stücke immer weiter. So bleiben
seine Stücke lebendig. Das ist anders als bei einer Oper, die meist nach der
Premiere fertig ist. Es ist eher selten, dass ein Opernregisseur noch einmal
wiederkommt und nachträglich neue Anweisungen gibt«, so Petra. In Baden-Baden
herrscht schon immer eine kreative Atmosphäre für John Neumeier. Viele seiner
Ballette verändern sich bei den Proben auf der großen Bühne des
Festspielhauses. Das kann Lichteinstellungen betreffen, aber auch die
Choreografie oder – wie im Fall der Ballett-Oper – die Inszenierung. Nur einen
Tag vor der Baden-Baden Premiere von »Orphée et Eurydice« gibt es eine
wesentliche Änderung, die vor allem die Sänger betrifft. Für Petra ist dies
keine stressige Situation, sondern etwas sehr Erfreuliches: »Ich bin total
begeistert, John Neumeier hat immer sehr gute Ideen; das was er sieht und
verändert, ist wunderbar. Der zusätzliche Schlussauftritt von Eurydice ist wirklich
eine Steigerung gegenüber der letzten Vorstellungsserie«! Und was genau hat er
verändert? »Ganz am Ende des Stücks kommt Eurydice noch einmal auf die Bühne,
quasi wie eine Erscheinung. Orphée geht für das Schlussbild mit ihrem Schleier
nach vorne raus und er hat das Gefühl, dass sie da ist, dass sie bei ihm ist.
Wenn der Vorhang fällt, sehen wir alle drei Sänger auf der Bühne: Orphée,
Eurydice und Amor. Ein berührendes Schlussbild!«
Für Petra geht mit der Arbeit an der Ballett-Oper »Orphée et Eurydice« ein Wunsch in Erfüllung. Bevor sie als Spielleiterin nach Hamburg ging, war sie mit nur 18 Jahren und noch vor dem Studium als Regieassistentin am Theater in Altenburg angestellt. »Das Theater bot Oper, Operette und Ballett an. Ich war meistens beim Ballett, da die Operette für mich als 18-jährige noch nicht so interessant war. Die Tänzer waren alle jung, in meinem Alter und so fand man mich immer wieder in einer Ballettprobe«. Mit »Orphée et Eurydice« schließt sich nun der Kreis. »Als Regieassistentin habe ich praktisch das gemacht, was ich jetzt auch in Hamburg mache. Durch die Ballettproduktionen, die ich damals am Theater Altenburg betreut habe, kenne ich mich im Ballett ein wenig aus. Ich weiß beispielsweise, was eine Arabeske ist oder eine Pirouette. Eine Sache habe ich vorher tatsächlich noch nie gemacht: Für »Orphée« suche ich die Spitzenschuhe für die Sängerin der Eurydice aus. Eine sehr exotische Aufgabe!«. Ohnehin übernimmt Petra auf dieser Tournee auch andere, neue Aufgaben, die sie als Spielleiterin in Hamburg sonst nicht machen würde: »Ich bin hier in Baden-Baden quasi für alles zuständig, wo die Musik live ist. Wenn zum Beispiel der Chor Chormappen braucht, dann kümmere ich mich darum. In Hamburg wäre es Aufgabe des Orchesterwarts. Ich übernehme hier gerne diese anderen Aufgaben, ich arbeite gerne so!«.
Die Begeisterung für ihren Beruf ist spürbar. Trotz kurzfristiger Änderungen, die jederzeit möglich sind und immer wieder neuen Herausforderungen, findet sie die Arbeit an der Staatsoper absolut erfüllend. »Die Arbeit an der Ballett-Oper ist nicht nur für mich, sondern auch für die Künstler etwas ganz Besonderes«, fügt sie noch hinzu. »Ich merke, wie zwei Künstlergruppen hier aufeinandertreffen und sich gegenseitig beflügeln. Die Sänger sind fasziniert von der Tänzerwelt, von dieser Präzision und Hingabe. Auch die Tänzer blicken fasziniert auf die Sänger, wenn sie ihre Stimme hören. Dieses gemeinsame Projekt ist ein einmaliges Erlebnis für alle Beteiligten!«
In knapp zwei Stunden
beginnt die erste Vorstellung von »Orphée«. Petra möchte nachsehen, ob die
Sänger schon da sind und ob sie etwas brauchen. Bevor sie geht, hat sie noch
eine letzte Anekdote für mich: »Bei einer Probe hier in Baden-Baden hat der
Sänger, der Orphée verkörpert, bei der Furienszene aufgehört zu singen, weil er
die Harfe nicht richtig hören konnte. Die Tänzer, als Furien, haben die Melodie
einfach weiter gesungen.« Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie Tänzer
und Sänger im Laufe der Zeit zusammengewachsen sind!
Heute Abend stellt sich John Neumeier mit seiner Ballett-Oper erstmals dem Publikum an der Oos als Opernregisseur vor. In Baden-Baden erleben wir noch ein weiteres großes Debüt: Die Sopranistin Arianna Vendittelli wird zum ersten Mal als Eurydice singen. Grund genug ihr meine persönlichen drei Fragen zu stellen:
In der Produktion »Orphée et Eurydice« von John Neumeier bist du in der Rolle der Eurydice zu erleben. Wie hast du dich auf diese Rolle vorbereitet?
Arianna Vendittelli: Ich habe diese Rolle wie gewohnt vorbereitet: Zunächst lerne ich sie technisch. Dann versuche ich mich in den Charakter hineinzuversetzen, indem ich die tiefere Bedeutung des Textes studiere. Ich möchte die kompositorischen Entscheidungen des Komponisten verstehen und umsetzen.
Die
Rolle der Eurydice ist eine Herausforderung für jeden Interpreten. »Orphée et
Eurydice« ist ein Liebesdrama, doch Eurydice selbst lebt nicht. Ich muss also
dem Publikum den Schmerz ihres Verlustes vermitteln, aber ohne eine wirkliche
Lebenskraft.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit John Neumeier und seinem Team? Wie ist der Probenprozess mit einem Regisseur, der eigentlich ein Choreograf ist?
Für mich war es eine wundervolle
Erfahrung. Oft überinterpretieren wir Sänger die Charaktere, beispielsweise mit
automatischen Gesten. Die Choreografie hingegen, obwohl sie keine Improvisation
zulässt, befreit den Charakter auf eine magische Art und Weise. Von John
Neumeier zu lernen, wie ich so auf der Bühne agieren kann, ist ein großartiges
Geschenk.
Du hast schon früh mit dem Singen angefangen, oder? Hast du schon einmal in Baden-Baden gesungen oder ist es das erste Mal hier für dich?
Ja, ich wollte schon immer Opernsängerin werden. Mit 19 Jahren begann ich dann Gesang zu studieren. Innerhalb von nur vier Jahren gab ich mein Debüt bei den Salzburger Festspielen. Ich liebe es einfach zu singen. In Baden-Baden war ich bisher noch nicht. Es ist ein unglaublicher Ort. Das Theater hier ist riesig und hat eine sehr gute Akustik. Die Leute, die hier arbeiten, sind nett, haben immer ein Lächeln auf dem Gesicht und sind sehr professionell!
Vielen Dank, liebe Arianna, für das Interview und Toi Toi Toi!
Anlässlich der Saisoneröffnung der neuen Intendanz von Benedikt Stampa am Festspielhaus Baden-Baden spielt das Freiburger Barockorchester (FBO) erstmals in einer Produktion des Hamburg Ballett. Die Ballett-Oper »Orphée et Eurydice« von Christoph Willibald Gluck gehört musikalisch zum Kernrepertoire des Orchesters. Gottfried von der Goltz, Künstlerischer Leiter des FBO, spielt selbst am Konzertmeisterpult und gibt in der Pause der Generalprobe einen Einblick in die Orchesterperspektive auf das gemeinsame Projekt.
»Orphée et Eurydice« wurde 1774 in Paris aufgeführt – in einer Zeit, als die Tänzersolisten berühmter waren als die Sänger. Welche musikalischen Anknüpfungspunkte bietet die Partitur?
Gottfried von der Goltz: Trotz aller Reformen, die sich mit dem Namen Gluck verbinden, steht »Orphée et Eurydice« ganz in der Tradition der französischen Barockoper. Die Abfolge von Rezitativ, Arie, Chor und Ballett ist hier geradezu unzertrennlich. Es macht unglaublich Spaß, den musikalischen Reichtum dieser Oper mit Leben zu füllen. Ich genieße jede einzelne Probe!
Das FBO spielt vor allem Konzerte, mit Abo-Reihen in Freiburg, Berlin und Stuttgart. Wie ist es für Euch, sich auf die szenische Produktion einer Ballett-Oper einzustellen?
Für uns ist es immer eine große Freude, wenn die Inszenierung
die Musik auch dramaturgisch mit Substanz zu füllen vermag. John Neumeier ist
dafür bekannt, sich besonders einfühlsam auf die Tradition eines Werkes
einzulassen. Ich persönlich finde es eine gelungene Idee, dass ein tödlicher Autounfall
der geliebten Ehefrau den Impuls für Orphées Reise in die Unterwelt bildet. Es
ist eine Situation, die in der heutigen Welt jeden treffen könnte.
Das Hamburg Ballett und das FBO haben jeweils ein reges internationales Tourneeleben: Dieses Jahr waren wir beim Hong Kong Arts Festival, ihr bei den Salzburger Festspielen. Im kommenden Jahr ist es umgekehrt. Was bedeutet es für das FBO, nun erstmals gemeinsam mit dem Hamburg Ballett im Festspielhaus Baden-Baden aufzutreten?
Es ist eine unglaublich bereichernde Zusammenarbeit und
zugleich künstlerisch eine interessante Initiative von Benedikt Stampa. Der
Übergang von den Orchesterproben in Freiburg zu den Bühnenproben im Festspielhaus
ist erstaunlich glatt verlaufen. Obwohl der Saal sehr groß ist, haben wir eine
klare Akustik vorgefunden, die den Orchesterklang stets präsent hält.
Trotzdem muss ich mich noch weitgehend auf die musikalische Gestaltung konzentrieren, um gemeinsam mit Alessandro de Marchi die Koordination zwischen Bühne und Orchester zu organisieren. Ich freue mich schon darauf, in den Vorstellungen noch mehr die szenische und choreografische Gestaltung mitzuverfolgen!
Das Hamburg Ballett gastiert
zum vierten Mal beim Hong Kong Arts Festival und bringt drei große
Ballettproduktionen auf die Bühne: »Der Nussknacker«, »Beethoven-Projekt« und
das Galaprogramm »The World of John Neumeier«. Von der zweiten Woche in
Hongkong und den ersten Vorstellungen des Balletts »Beethoven-Projekt«
außerhalb Hamburgs berichtet Nicolas Hartmann, Assistent der
Ballettbetriebsdirektion:
Unsere zweite Produktion, die wir im Rahmen des Hongkong Arts Festival zeigen, ist das Ballett »Beethoven-Projekt«. John Neumeiers jüngste Ballettkreation wird zum ersten Mal außerhalb Hamburgs gezeigt! Nach unserer ausverkauften Vorstellungsserie von »Der Nussknacker« sind auch die Aufführungen dieses Programms mit Kammermusikstücken – ein Satz aus dem Geistertrio und ein Streichquartettsatz, vier Sätzen aus den »Geschöpfen des Prometheus« und der »Eroica« Sinfonie – sehr gut besucht. Auch mit diesem jüngsten Werk John Neumeiers können wir in Hongkong einen großen Erfolg verbuchen. Für das »Beethoven-Projekt« ist unser Solo-Pianist Michal Bialk angereist, der uns später weiter nach Peking begleiten wird. Unser Erster Dirigent für Ballett, Simon Hewett, leitet die Abende musikalisch.
In einem »Pre-Performance Talk« gibt unser Pressesprecher Jörn Rieckhoff eine Einführung in das Ballett. Es kommen viele Nachfragen von den Gästen. Schön zu sehen, wie interessiert unser Publikum ist! Eine weitere Zusatzveranstaltung in Hongkong ist »The Artist Salon«: Am Donnerstag sprach Emma Liu, Radiomoderatorin bei RTHK Radio 4, im wunderschönen Lanson Place Hotel mit John Neumeier eine Stunde lang über seine Sammlung und Stiftung, über seine Herangehensweise bei der Kreation von neuen Balletten und über das »Beethoven-Projekt«.
Nachdem wir einige kleine Krankheitsausfälle am Anfang der Tournee hatten, sind alle wieder fit. Zwei unserer Tänzer, Sara Ezzel und Matias Oberlin, sind nach Toronto zum Erik Bruhn Preis eingeladen worden und verlassen uns für ein paar Tage. Sie tanzen das Grand Pas de deux aus John Neumeiers »Der Nussknacker« und zeigen außerdem eine neue Choreografie des ehemaligen Tänzers aus dem Bundesjugendballett, Kristian Lever. Das Stück von Kristian Lever mit dem Titel »An intimate distance« gewinnt schließlich den choreografischen Preis des Wettbewerbs – ein toller Erfolg!
Den Abschluss unseres Gastspiels in Hongkong bilden zwei Vorstellungen der Ballettgala »The World of John Neumeier«: ein besonderes Programm mit vielen Ausschnitten aus einigen der wichtigsten Ballette John Neumeiers, speziell von unserem Chef wie eine Art Retrospektive zusammengestellt. Dieses Mal ist es ganz besonders aufregend, da John Neumeier die Gala live moderiert. Dadurch gewinnt der Abend noch mehr an Emotionalität.
Am Sonntagmorgen gibt
unsere Ballettmeisterin Laura Cazzaniga ein letztes Ballett-Training für
fortgeschrittene Amateure im Rahmen des Zusatzprogramms vom Hongkong Arts
Festival. Ein sehr talentiertes Mädchen aus dieser Gruppe wird an der
Aufnahmeprüfung der Ballettschule des Hamburg Ballett teilnehmen – wir sind
gespannt, ob wir sie in unserer Ballettschule wiedersehen.
Gruppenfoto mit Laura Cazzaniga und den Ballett-SchülerInnen
Wir haben uns sehr gut aufgehoben gefühlt beim Hongkong Arts Festival. Wir wurden von einem sehr professionellen und herzlichen Team betreut – und die Atmosphäre der Stadt ist einfach beeindruckend: Jeden Abend gibt es eine Licht- und Lasershow von allen Hochhäusern in Hongkong City. Druch unsere Vorstellungen bekommen wir die Shows meist nur durch Zufall mit oder verpassen sie natürlich an einigen Abenden ganz. Aber der Blick vom Theater über das Wasser nach Hongkong Central ist überwältigend. Viele Touristen kommen extra mit einer Fähre rüber, um das Spektakel von unserer Seite zu sehen.
Wir haben außerdem erlebt, dass Hongkong eine sehr große, aufgeschlossene und interessierte Expats-Gemeinde hat, in der man durchaus auf bekannte Gesichter treffen kann. So haben unser Pressesprecher Jörn Rieckhoff und ich zufällig eine gemeinsame alte Bekannte aus unserer Heimatstadt Bremen in Hongkong getroffen, die mit ihrem Mann eine unserer Vorstellungen besuchte. Wie klein die Welt doch sein kann!
Das Festival endet nun offiziell nach unserer letzten »Gala«-Vorstellung. Für uns heißt es: Auf nach Peking – die dritte Woche unserer China-Tour beginnt!
Das Hamburg Ballett ist bereits zum vierten Mal Gast beim Hong Kong Arts Festival und bringt drei große Ballettproduktionen auf die Bühne: »Der Nussknacker«, »Beethoven-Projekt« und das Galaprogramm »The World of John Neumeier«. Nach einer ereignisreichen Woche bekommen wir Daheimgebliebenen Nachricht aus Hongkong: Ulrike Schmidt, Ballettbetriebsdirektorin und Stellvertreterin des Ballettintendanten John Neumeier, berichtet uns von ihren Erlebnissen vor Ort:
Ein Wiedersehen im Frühling beim Hong Kong Arts Festival: Gestartet sind wir – nach dem ersten Schock durch die Streichung unseres Fluges von Hamburg nach Frankfurt – bei stürmischem Winterwetter und gelandet bei herrlichem Sonnenschein im Frühling in Hongkong. Glücklicherweise sind alle 80 Teilnehmer, unsere Tänzerinnen und Tänzer sowie unser Team, in China gelandet, ›nur‹ 15 Koffer fehlten!
Wir sind bereits zum vierten Mal beim Arts Festival in
Hongkong eingeladen. Mit im Gepäck sind drei verschiedene Ballette von John
Neumeier. Insgesamt neun Vorstellungen zeigen wir im beeindruckenden Hong Kong
Cultural Centre Grand Theatre, bevor wir weiter nach Beijing reisen.
Zum Auftakt unserer Tournee tanzten wir vor ausverkauftem Haus John Neumeiers »Der Nussknacker« in zwei Besetzungen, musikalisch begleitet vom Hongkong Philharmonic Orchestra. Es gab zwei Nachmittagsvorstellungen, die nur für Kinder angeboten wurden. Gespannt verfolgten die Kleinen die Ereignisse auf der großen Bühne. Entdeckt ihr oben auf dem Bild John Neumeier?
Wir sind sehr froh, dass alle »Nussknacker«-Vorstellungen ein großer Erfolg waren. Zusätzlich gab es ein besonderes Rahmenprogramm: Unser Stellvertretender Ballettdirektor Lloyd Riggins gab eine Meisterklasse für angehende Tänzerinnen und Tänzer. Unser Solist Konstantin Tselikov brachte jungen Kindern erste Tanzschritte bei. Unsere Gastspielleiterin Rachel Nowak führte interessierte Besucherinnen und Besucher hinter die Bühne und ich hielt eine englischsprachige Einführung zum Thema Networking.
Nach der letzten »Nussknacker«-Vorstellung, eine Matinee, begann bereits der Umbau für unsere nächste Produktion: »Beethoven-Projekt«. Dieses Ballett nehmen wir zum ersten Mal mit auf Tournee und wir sind natürlich gespannt, wie die neueste Kreation von John Neumeier hier in China ankommen wird!
Mitte März bricht das Hamburg Ballett zu einer Gastspielreise nach Hongkong und Peking auf. Im Gepäck: Die Ballette „Der Nussknacker“, „Die Kameliendame“, „Beethoven-Projekt“ und die Gala „The World of John Neumeier“. Um die vier unterschiedlichen Programme in beiden Städten zeigen zu können, reisen neben 133 Mitarbeitern auch jede Menge Requisiten, Kostüme und technisches Equipment mit. Damit alles rechtzeitig und unversehrt ankommt, wird in Hamburg und München aufwendige logistische Vorarbeit geleistet. Simone Krammer vom Logistikpartner HEED! aus München hat uns Fragen zum Planungsprozess des Gastspiels beantwortet.
Kleider, Röcke, Hosen und
Schuhe. Perücken, Schnurrbärte, Hüte und Schmuck. Vorhänge, Werkzeug, Schwingboden
und meterweise Kabel machen sich für das Gastspiel nach Hongkong und Peking auf
den Weg. Manches Equipment wird schon Monate vorher mit Containerschiffen
transportiert. 11 Container werden dafür beladen. Anderes wird mit kürzerem
Vorlauf per Luftfracht verschickt. Um Bühnenbild, Requisiten, Technik & Co
überhaupt nach Hongkong und Peking einführen zu können, ist die vorherige
Anfertigung eines sogenannten Carnet A.T.A. (Carnet ist das französische Wort
für Heft, A.T.A. steht für »Admission Temporaire / Temporary Admission«) notwendig.
Simone Krammer von HEED! erklärt: »Das Carnet ist ein Zollpassierscheinheft und
regelt die Ein- und Ausfuhr von Gebrauchsgegenständen, die das Gastspielland
nach Ende der Tournee wieder verlassen werden. Es listet in unserem Fall also
alle 3521 Posten auf, die die Compagnie nach Hongkong und Peking begleiten. Der
Vorteil eines solches Carnets: Am Zoll werden keine Gebühren für die Einfuhr
der Waren fällig, auch die Abfertigung an den Grenzen erfolgt schneller.«
Um das Carnet A.T.A. zu
erstellen, benötigt der Logistikpartner detaillierte Listen aller zu
transportierender Gegenstände. Alle Abteilungen des Hamburg Ballett sind
gefragt: Technik, Requisite, Maske, Kostümmitarbeiter listen auf, was sie für
das Gastspiel und die vier unterschiedlichen Ballette mitnehmen. Dazu müssen
sie genaue Angaben zu Anzahl, Größe, Gewicht und Material der Ware machen. Die Warenliste
allein reicht aber noch nicht aus. Alle Gegenstände, die keine Seriennummer
haben, über die sie eindeutig zugeordnet werden können, müssen außerdem
fotografiert werden. Denn viele der Gegenstände sind mit spezifischen Begriffen
aus dem Ballett versehen – und welcher Zöllner kann sich ohne Foto schon
vorstellen, was mit dem »Blumenwalzer-Kleid« oder dem Hut der »Betrunkenen
Tante« gemeint ist.
Fotos der Kostümteile für das Carnet
Der Logistikpartner
übernimmt dann die Erstellung und korrekte Formatierung der Listen und
kontrolliert die eindeutige Nummerierung, Beschriftung und Zuordnung der Fotos,
die ebenfalls Teil des Carnets werden. »Mit dieser Arbeit sind wir ungefähr
zwei Tage beschäftig«, sagt Simone Krammer. In unserem Fall ist das Carnet am
Ende über 800 Seiten lang und 15 cm dick geworden. Insgesamt 3521 verschiedene
Posten enthält die Liste. Dabei kommen interessante Zahlen zum Vorschein: Wer
hätte gedacht, dass man für ein Ballettgastspiel 56 falsche Schnurrbärte
benötigt?
Ausschnitte des Carnets
Aus den Warenlisten ergibt
sich auch der Gesamtwert der Fracht, der für den Transport abgesichert werden
muss. Der Warenwert wird von der zuständigen Industrie- und Handelskammer
überprüft. Die IHK eröffnet anschließend auch das offizielle Carnet-Dokument, HEED!
sendet es per Kurier nach Hamburg, von wo aus die Verladung des
Gastspiel-Equipments stattfindet. Bevor sich die Ladung auf den Weg nach
Hongkong und Peking machen kann, ist noch eine sogenannte Zollbeschau notwendig.
Simone Krammer erklärt: »Wir beantragen und stimmen den Termin der Zollbeschau mit
dem Zollamt ab. Der Zöllner kontrolliert dabei vor Ort die Ware und vergleicht
sie mit dem Carnet. Generell hat der Zoll jederzeit die Möglichkeit, jedes Teil
der Fracht zu kontrollieren. Aber bei so einer großen Menge an Kleinteilen wird
meist nur stichprobenartig kontrolliert, ob die Ware mit dem Carnet
übereinstimmt. Der Zöllner stempelt anschließend den Export aus Deutschland ab,
dann darf sich das Equipment per See- oder Luftfracht auf den Weg machen.«
Kostümfotos aus dem Carnet
Unsere Ladung ist in Bezug
auf das Freigabeverfahren unkompliziert. Für bestimmte Fracht gibt es aber
Sonderregelungen: »Gefahrengut muss man natürlich separat anmelden und
kennzeichnen«; erläutert Simone Krammer. »Das trifft auf unsere Ladung aber
nicht zu. In manchen Ländern muss man bspw. für Requisitenwaffen sogenannte
Unbedenklichkeitsbescheinigungen ausfüllen, die bestätigen, dass es sich nur um
Attrappen handelt.« Das Holzgewehr für das Ballett »Beethoven-Projekt« wird deswegen
im Carnet eindeutig mit dem Zusatz »Toy« und dem Hinweis »Not a weapon«
gekennzeichnet.
Während der kompletten Reise begleitet das Carnet die Ware, bei jedem Wechsel in ein anderes Land muss das Dokument vom Zoll abgestempelt und freigegeben werden. Und am Ende des Gastspiels? »Zurück in Deutschland muss wiederum der Re-Import bestätigt werden. Sobald der Zoll in Deutschland die Sendung für den Re-Import freigegeben hat, dürfen wir die Ware wieder in Hamburg zustellen.«
Das erste Gastspiel des Balletts »Anna Karenina« hat die bühnentechnischen Mitarbeiter vor einige Herausforderungen gestellt. Im Kurzinterview erzählt der technische Produktionsleiter des Hamburg Ballett, Vladimir Kocić, wie man ein Ballett auf eine andere Bühne bringt und warum Klebeband dabei eine wichtige Rolle spielt.
Vladimir, Freitagbend wurde »Anna Karenina« zum ersten Mal in Baden-Baden aufgeführt. Wie geht die technische Abteilung an das erste Gastspiel eines Balletts heran?
Vladimir Kocić: Man überlegt natürlich bereits bevor das Gastspiel anbricht, was die neue Bühnensituation für das Stück bedeutet. In Baden-Baden sind wir bereits seit 20 Jahren zu Gast – wir kennen die Bühne dementsprechend gut und wissen, was auf uns zukommt. Für mich beginnt die eigentliche Arbeit aber erst, wenn man vor Ort ist und seine Ideen in die Tat umsetzt. Was hier anders ist als in Hamburg: Die Bühne des Festspielhauses hat ein etwas breiteres Portal und nur eine Seite, die für die ›Verwandlung‹, also für den Wechsel von Bühnenbild und größeren Requisiten, genutzt werden kann. Die andere Seite ist so schmal, dass dort nur die Tänzer auf- und abgehen können. Alle Abläufe wie z.B. der Wechsel des Bühnenbilds, müssen an diese andere Bühnensituation angepasst werden.
»Anna Karenina« verlangt nach absoluter Präzision und Disziplin. Es gibt so viele Verwandlungen des Bühnenbilds, die nahtlos funktionieren müssen. Doch, wenn man gut plant, probt und mit so tollen, engagierten Leuten, wie wir sie haben, zusammenarbeitet, lässt sich alles umsetzen. Wir überlegen ja im Vorhinein nicht, welches Stück sich in Baden-Baden gut aufbauen und zeigen lassen könnte, und fällen so die Entscheidung. Im Vordergrund steht immer die künstlerische Wahl: Welches Stück möchte das Hamburg Ballett mit nach Baden-Baden bringen? Und wir, die technischen Mitarbeiter, finden dann zusammen mit Herrn Neumeier Wege, dies möglich zu machen. Alles ist eine Frage der Vorbereitung und des Timings. Schwierig ist relativ – man muss flexibel sein.
In »Anna Karenina« bewegt sich auch das Bühnenbild auf der Bühne: Es gibt mobile Wände, die nach einer eigenen Choreografie von Schülern der Abschlussklassen unserer Ballettschule gedreht und verschoben werden. Was ist notwendig, damit diese Abläufe auf einer neuen Bühne reibungslos funktionieren?
Klebeband! Wir helfen unseren sogenannten ›House-Movern‹ mit unterschiedlichen farblichen Markierungen am Boden. Die Markierungen zeigen den korrekten Stand der Wände in verschiedenen Szenen an – natürlich haben unsere Ballettschüler nach einigen Vorstelllungen schon ein Gespür für die richtigen Drehungen und korrekten Platzierungen bekommen. Die Markierungen sind eine zusätzliche Hilfestellung, falls im Eifer des Gefechts Verwirrung aufkommt. Dieses Mal sind außerdem einige Ballettschüler dabei, die zum ersten Mal als ›Mover‹ im Einsatz sind. Sie müssen erst einmal ein Gespür für die Beweglichkeit des Bühnenbildes bekommen; das üben wir in den Proben. Außerdem werden sie in Hamburg bereits unglaublich gut von ihrer Lehrerin Ann Drower darauf vorbereitet: Sie erklärt ihnen die Raumwege und benutzt Hilfsmittel wie Stangen oder Tische, um die Drehungen zu erläutern.
Wie haben sich die Markierungen für die Vorstellungen in Baden-Baden verändert?
Zuerst orientiert man sich an den ursprünglichen Markierungen aus den Hamburg-Vorstellungen und prüft dann, was sich aufgrund der anderen Bühnenmaße verändern muss. Die Bühnengassen, das Seitenlicht, die Wände etc. geben uns Orientierung. Für jedes Requisit, das platziert wird, gibt es auch eine Markierung am Boden: Ob es die Stühle sind, die Treppe im Haus von Anna Karenina, der lange Tisch im zweiten Akt… da kommt einiges zusammen. Allein für die Platzierungen der beweglichen Wände gibt es ca. 28 unterschiedliche Markierungen! Das ist schon ein eigenständiges Zeichensystem. Und um das auf die neue Bühne zu übertragen, haben wir sechs Stunden lang geklebt. Dann beginnen die Proben, in denen sich wiederum viel verändern kann. Herr Neumeier arbeitet in Baden-Baden oft an seinen Stücken, auch damit sie auf der etwas größeren Bühne richtig zur Geltung kommen. Wir sind jederzeit auf Änderungen eingestellt: Notieren, übertragen, weitermachen. Bis am Ende alles stimmig ist.
In Baden-Baden findet an diesem Wochenende das erste
Gastspiel von John Neumeiers Ballett »Anna Karenina« statt. Mit aus Hamburg
angereist ist dafür neben Bühnenbild, Kostümen und Schwingboden auch ein ganz besonderes
Requisit: Der Modellzug, der während des Stücks am vorderen Bühnenrand entlangfährt.
Nach der ersten Bühnenprobe erklärt Requisiteur Peter Schütte, woher die
Eisenbahn kommt und wie sie auf der Bühne zum Fahren gebracht wird.
Herr Schütte, was für ein Zug ist bei »Anna Karenina« im Einsatz?
Peter Schütte: Die Eisenbahn aus »Anna Karenina« ist eine sogenannte ›Gartenbahn‹, die größte elektrische Modelleisenbahn. Unser Zug setzt sich allerdings aus unterschiedlichen Zugteilen mehrerer Hersteller zusammen. Wir haben uns das Angebot angeschaut, getestet und dann verschiedene Modelle für unseren Zug kombiniert: Schienen, Lok, Waggons – jeweils nur das Beste vom Besten sozusagen. Denn das ganze System soll natürlich so zuverlässig wie möglich fahren, sich nicht entkuppeln, nicht zwischendrin stehen bleiben oder entgleisen. Dafür müssen wir die Gleise jedes Mal besonders sorgfältig verlegen. Man kann schon sagen, dass der Zug eines der anspruchsvolleren Requisiten ist.
Wie viel Meter legt der Zug von einer Bühnenseite zur anderen zurück?
Hier in Baden-Baden sind es schätzungsweise 25 bis 26 Meter.
Die Schienen führen über die gesamte Portalbreite und ein paar Meter hinter die
Kulissen. Weil das Bühnenportal in Baden-Baden etwas breiter ist als in
Hamburg, ist die Strecke auch entsprechend länger. Auf jeder Bühnenseite sitzt
während der Vorstellung ein Kollege der Requisite; man verständigt sich über
Funk darüber, wann der Zug losfahren und wie schnell er fahren soll. Die
Steuerung erfolgt über einen Trafo.
Am Ende des Balletts verunglückt der Zug – wie wird dieser Effekt erzeugt?
In der Mitte der Bühne gibt es eine Weiche. Die ist während
der gesamten Zeit für eine gerade Fahrt eingestellt. Vor dem ›Unfall‹ stellen
wir die Weiche auf Kurvenfahrt um. So fährt der Zug, wenn er die Weiche
erreicht, nicht mehr auf die andere Bühnenseite zu, sondern macht eine kleine
Drehung in Richtung der Szenerie. Dort fährt er auf einen kurzen verbogenen
Gleisstumpf auf, der extra so präpariert ist, dass der Zug entgleist. Dazu
kommt noch ein pyrotechnischer Effekt mit einem Knall, Funken und Rauch, den
wir per Fernsteuerung auslösen.
Fährt während der Vorstellung eigentlich immer der gleiche Zug?
Am Anfang hatten wir tatsächlich nur einen Zug im Einsatz, der nach jeder Fahrt von Hand auf den Schienen umgedreht werden musste, damit er wieder in die entgegengesetzte Richtung fahren konnte. Nun arbeiten wir mit drei Zügen parallel, was die Arbeit leichter macht. Die drei Züge sind übrigens alle schon im ersten Teil zu sehen. Sie werden aber weiterhin analog von uns gesteuert, digital programmiert ist dabei nichts – komplette Handarbeit also.