Xue Lin zu Anna Karenina
Seit dem 29. April und noch bis zum 11. Mai 2019 feiern wir ein regelrechtes »Anna Karenina«-Festival. Zum ersten Mal seit der Hamburg-Premiere im Juli 2017 hat unser Publikum die Gelegenheit John Neumeiers jüngstes Handlungsballett in gleich vier verschiedenen Besetzungen zu erleben! Neben der ursprünglichen Hamburg-Besetzung mit Anna Laudere und Edvin Revazov als Anna Karenina/Alexej Wronski, werden auch die Besetzungen der Koproduktionspartner aus Kanada und Russland zu Gast in der Hamburgischen Staatsoper sein.
Sehr gelungen ist bereits das Debüt der neuen Besetzung aus unserer Compagnie: am 1. und 2. Mai tanzten unsere Solisten Xue Lin und Jacopo Bellussi das Hauptpaar und ernteten dafür gebührenden Applaus! Im ersten Teil der Reihe »3 Fragen an Anna Karenina« haben wir mit Xue Lin über ihr Debüt und die Rolle der Anna Karenina gesprochen.
Xue, Anna Karenina ist die tragische Titelfigur in Leo Tolstois Roman und John Neumeiers Ballettadaption. Sie ist eine Figur, die in den unterschiedlichsten Medien interpretiert wurde und kulturübergreifende literarische Bedeutung hat. Wie setzt man sich als Tänzerin mit solchen Charakteren auseinander und wie hast du dich auf die Rolle der Anna Karenina vorbereitet?
Xue Lin: Ich hatte schon zu Beginn der Saison angefangen die Schritte zu lernen und bevor wir zur Tournee nach China gereist sind, bestätigte John Neumeier, dass ich auf jeden Fall zwei Vorstellungen tanzen werde. Das führte dazu, dass ich mir viele Gedanken über die Geschichte machte. Ich habe das Buch von Leo Tolstoi mit nach China genommen und es gelesen. Außerdem habe ich mir den »Anna Karenina«-Film mit Keira Knightley gleich zwei Mal angeschaut.
Die Schritte zu können ist nicht so schwer wie zu lernen, die Geschichte zu erzählen. Also musste ich irgendwie eine Idee davon bekommen, wie ich den Charakter spiele. Nachdem ich mir viele Videos angesehen hatte, bekam ich ein Bild von Anna Karenina. Aber als ich tanzte, habe ich gemerkt, dass es mir am leichtesten fällt sie zu verkörpern, indem ich ich selbst bin. Ich habe nicht daran gedacht »In diesem Moment muss ich dies tun, jetzt das spielen.« – Ich musste nichts spielen. Auch unsere Ballettmeister sagen immer: »Lass dich von der Geschichte leiten und spreche mit deinem Herzen, tanze mit deiner Seele!« Das habe ich versucht.
Anna Karenina ist ein vielseitiger und emotionaler Charakter. Wie bringst du die Emotionen auf die Bühne und was war die größte Herausforderung für dich?
Ich versuchte mich in Anna Kareninas Situation hineinzuversetzen – das hat mir geholfen, die Geschichte zu verstehen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich in den Situationen fühlen würde. Ich bin der Meinung, dass man mit den Erfahrungen, die man in seinem eigenen Leben macht, sich manches vorstellen kann. Zum Beispiel ein Kind zu vermissen – ich habe zwar selbst kein Kind – aber ich versuchte mir vorzustellen, wie es sich anfühlen würde das Kind zu verlassen oder von der Person, die man am meisten liebt, verlassen zu werden. Ich stellte mir vor, wie ich mich verhalten würde, wenn mein ganzes Leben zusammenbricht.
Was mich herausforderte, war vor allem der Anfang des Balletts. Ich hatte Bedenken, dass ich nicht wie eine Mutter oder Ehefrau oder ›Frau‹ aussehe. Aber durch die Proben lernte ich, wie ich stehen und mich positionieren muss. Das fiel mir anfangs nicht leicht, aber am Ende habe ich mich wohl gefühlt.
Für das Hamburger Publikum warst du die erste Neubesetzung der Anna Karenina. Du folgst auf Anna Laudere, die an der Kreation der Anna Karenina beteiligt war. Wie war das für dich und warst du dadurch nervöser als sonst?
Tatsächlich habe ich nicht so viel darüber nachgedacht, dass Anna Laudere bisher die einzige Anna Karenina in Hamburg war. Ich hatte aber auch keinen Druck, denn die Ballettmeister und Anna selbst haben mir ihr vollstes Vertrauen gegeben und mir sehr geholfen! Anna war in fast jeder Probe dabei – sie hat mir so viel Selbstvertrauen gegeben! Ich habe nicht darüber nachgedacht, dass es schlecht laufen könnte. Ich sagte mir, dass ich ich selbst sein muss und mit meiner Seele tanzen muss, denn das ist das Wichtigste! Ich hatte die beste Unterstützung von Anna und bin so dankbar, dass sie da war! Sie war so nett und hat mir von Anfang bis zum Ende mit Allem geholfen. Sie hat bei der Vorstellung zugesehen und ich habe zu ihr gesagt, dass es mir Ruhe und Selbstvertrauen gibt, dass sie da ist. Auch Anna sagte, dass sie da sei um mich zu unterstützen.
Es war auch schön mit Jacopo zu arbeiten. Er lernt so schnell und ist ein guter Freund. Dadurch waren wir sehr entspannt und nicht nervös. Dann kam der erste Durchlauf mit John: Es war eine Herausforderung für uns, denn wir hatten plötzlich so viele Dinge im Kopf – der explodierte fast durch die ganzen Informationen und den Input. Aber dennoch blieben wir beide sehr entspannt, denn am Ende ist das, was zählt, am Abend die Geschichte zu erzählen!
Ihr wollt mehr über Xue Lin erfahren? Schaut euch ihren Steckbrief an!
Lisa Zillessen
Im zweiten Teil der Serie »3 Fragen an Anna Karenina« sprechen wir mit Gasttänzerin Svetlana Lunkina vom National Ballet of Canada über die Rolle Anna Karenina und ihre Zusammenarbeit mit John Neumeier.