Matias Oberlin ist seit Beginn der Saison 2023-24 neuer Erster Solist beim Hamburg Ballett. Für unseren Blog spricht er über die Rollen eines Bösewichts, die er aktuell in Hamburg (Stanley in »Endstation Sehnsucht«) und auf Gastspiel in Baden-Baden (Der Dorn in »Dornröschen«) verkörpert.
Matias, erst einmal gratuliere ich dir sehr herzlich zu deiner Beförderung zum Ersten Solisten, wohlverdient! Als neuer Erster Solist hast du dich Anfang dieser Spielzeit in Hamburg in der Rolle des Stanley Kowalski in »Endstation Sehnsucht« präsentiert. Was sind die besonderen Herausforderungen an dieser Rolle? Wie schaffst du es nach einer Vorstellung aus dieser Rolle des Bösewichts wieder herauszukommen?
Matias Oberlin: Eine der Herausforderungen der Rolle besteht darin, dass ich mich nicht persönlich davon beeinflussen lasse. Ich liebe es jedoch, diese Art von Rollen zu interpretieren, und ich hatte in letzter Zeit mehrfach Gelegenheit, sie zu erkunden. Deshalb versetze ich mich auch sehr stark in sie hinein, denn als Künstler möchte ich Teile von mir entdecken, die ich noch nicht kenne. Ich glaube, dass wir alle eine »böse« Seite in uns verborgen haben, warum sollten wir sie also nicht ergründen, und wo könnte man das besser tun als in einer Rolle wie Stanley.
Zu Beginn des Arbeitsprozesses für diese Rolle hat mich diese dunkle Seite sehr belastet, und ich habe mit meiner Mutter darüber gesprochen. Sie sagte, dass ich nach den Aufführungen oder Proben einfach mal kräftig durchatmen sollte, damit diese Facette wieder verschwindet. Und das hat wirklich gut funktioniert. Die Unterstützung meiner Freunde und Familie war eine große Hilfe.
Jetzt sind wir hier in Baden-Baden und tanzen in unserer zweiten Gastspielwoche »Dornröschen« im Festspielhaus. Die Rolle des Dorns, die du bereits in Hamburg verkörpert hast, kann man auch zu den »bösen« Rollen in deinem Repertoire zählen. Wer ist der Dorn und welche Rolle spielt er in John Neumeiers Ballett?
Der Dorn ist der Widersacher der Rose, die Aurora beschützt. Er stellt das Hindernis dar, gegen das der Prinz kämpfen muss, um den Zauber zu brechen und seine Liebe zu treffen, die 100 Jahre lang geschlafen hat. Er spielt eine sehr wichtige Rolle in der Geschichte, denn natürlich kann es das Gute nicht ohne das Böse geben.
Baden-Baden hat für das Hamburg Ballett eine lange Tradition. Was gefällt dir besonders an der Stadt? Gibt es einen Lieblingsort, den du neben Proben und Vorstellungen im Theater immer wieder aufsuchst?
Baden-Baden ist für mich wie eine zweite Heimat. Seit ich vor 10 Jahren in der Compagnie anfing, komme ich immer wieder hierher, und so gibt es viele Orte, die ich Jahr für Jahr immer wieder gerne besuche. Ich bin ein bescheidener Mensch, daher finde ich, dass das Schönste an der Stadt die Stadt selbst ist. Ich liebe es, durch die Straßen zu ziehen und die schöne Natur zu genießen, die Baden-Baden umgibt.
Vielen Dank für das Interview, lieber Matias, und viel Erfolg weiterhin in Baden-Baden!
Für die Premiere der Neufassung von John Neumeiers »Dornröschen«-Ballett (Dezember 2021) überarbeitete John Neumeier seine Choreografie neu. In den Theaterwerkstätten wurden die Bühnenbilder und Kostüme von Jürgen Rose einzeln durchgesehen und teilweise neu angefertigt, so sind im Malsaal sind zwei neue Bühnenprospekte in anspruchsvoller Handarbeit entstanden.
Es ist ein modernes Gebäude mit großzügigen Proportionen im Hamburger Stadtteil Rothenburgsort, in dem seit November 2018 auf knapp 20.000 m2 Fläche die Werkstätten und Fundi der Hamburgischen Staatsoper beheimatet sind. In diesem Gebäudekomplex befindet sich auch der Malsaal, hier werden Bühnendekorationen wie zum Beispiel Bühnenprospekte in allen gewünschten Stilrichtungen und Größen gestaltet.
Die Theatermaler*innen haben an zwei brandneuen Prospekten für die Premiere der Neufassung von John Neumeiers »Dornröschen« gearbeitet. Die beiden Bühnenprospekte »Nacht« und »Sommer-Winter« sind Teil des Bühnenbildes und wurden nach den Vorgaben des Bühnen- und Kostümbildners Jürgen Rose in den Werkstätten angefertigt. Jürgen Rose hat seine Idee in klein und per Hand vorgemalt. Der Vorteil gegenüber einer digitalen Vorlage ist, dass sie 1:1 mithilfe eines Beamers vergrößert werden kann. Das erleichtert die Arbeit der Theatermaler*innen enorm, die beide Prospekte nach Roses Vorlage auf dem Boden des Malsaals liegend malen.
Die Auswahl des Materials richtet sich nach der Wirkung, die der Prospekt auf der Bühne haben soll. Die Herstellung von Tüllprospekten, die auf der Bühne, im Zusammenwirken mit der Theaterbeleuchtung, eine transparente Wirkung erzielen, ist die »Hohe Schule« der Theatermalerei. Die Anforderungen an den »Sommer-Winter«-Prospekt sind anspruchsvoll: Er soll zum einen eine sommerliche Baumlandschaft repräsentieren, je nach Bedarf aber auch eine kahle Winterszenerie. Hier kommt ein klassischer Theaterstoff zum Einsatz, der so Einiges kann: Gobelin-Tüll.
Wird der auf Gobelin-Tüll bemalte Prospekt von hinten beleuchtet, ist die Winterstimmung sichtbar: Dunkle Baumsilhouetten mit wenig Blättern, die Landschaft kühl und karg. Wird der Prospekt hingegen von vorne beleuchtet, ist der Sommer erlebbar mit blühenden Bäumen und sattgrünen Blättern (wie auf dem Aufmacherbild zu sehen).
Das ist Theatermagie »at its best«: Allein mit der Projizierung der richtigen Lichtverhältnisse können einzelne Elemente des Prospektes erscheinen oder wieder verschwinden. Die beiden Theatermaler Mariano Larrondo und Yorjander Capetillo Hernández haben rund fünf Wochen an dem technisch anspruchsvollen »Sommer-Winter«-Prospekt gearbeitet.
Der »Nacht«-Prospekt wurde auf Schirting gemalt. Die Silhouetten der Bäume sind schwarz, das tiefe Blau des Nachthimmels erzeugt eine geheimnisvolle und mystische Stimmung. An diesem Bühnenprospekt arbeiteten die beiden Theatermaler circa dreieinhalb Wochen.
Am 19. Dezember 2021 kommen die beiden neuen Prospekte endlich zum Einsatz und können ihre Magie auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper entfalten. Wir alle sind gespannt darauf, sie als Teil der neuen »Dornröschen«-Fassung bestaunen zu können.
Im Rahmen des Venedig-Gastspiels gibt unser Erster Solist Jacopo Bellussi sein Debüt als Armand Duval in John Neumeiers »Die Kameliendame«. Kurz vor der Abreise beantwortet er mir meine drei Fragen:
»Die Kameliendame« ist eines der beliebtesten und bekanntesten Ballette von John Neumeier, zahlreiche Compagnien weltweit haben dieses Werk in ihr Repertoire aufgenommen. Die Rolle des Armand Duval ist eine, nach der viele Tänzer in ihrer Karriere streben und die stets einen Höhepunkt darstellt. Was bedeutet es für dich, als Armand Duval zu tanzen? Und noch dazu dein Debüt in deinem Heimatland Italien zu geben?
Jacopo Bellussi: »Die Kameliendame« ist ein ganz besonderes Ballett, es ist eng mit dem Namen John Neumeier verbunden. Es war schon immer ein großer Traum von mir die Rolle des Armand tanzen zu dürfen. Die »Kameliendame« ist eines der ersten Ballette von John Neumeier, die ich als Kind live erlebt habe. Als ich 11 Jahre alt war und nach Mailand zog, um an der Accademia del Teatro alla Scala zu studieren, durfte ich mit meinen Mitschüler*innen die Generalprobe von »Die Kameliendame« besuchen – es war Alessandra Ferris Abschiedsvorstellung. John Neumeiers »Sylvia«-Version war die erste Ballett-DVD, die ich geschenkt bekommen habe. Diese beiden Ballette haben also eine Vergangenheit in meinem Leben und waren mit dem Namen John Neumeier verbunden, bevor ich überhaupt wirklich wusste, wer er ist. Eigentlich waren es drei Ballette: Mein Ballettlehrer hatte ein Bild von »Romeo und Julia« in der Schule hängen. Wie ich später herausfand, war es ein Motiv aus John Neumeiers Ballettfassung!
»Die Kameliendame« ist ein wunderschönes Ballett. Auch wenn es viele weitere schöne Ballette von John Neumeier gibt, so viele verschiedene Stilrichtungen. Es ist fast schon ein wenig traurig, wenn einige „nur“ die »Kameliendame« kennen.
Jacopo Bellussi mit Ida Praetorius bei den Proben im Ballettsaal (c) Kiran West
Die Rolle des Armand zu tanzen ist mit vielen Emotionen verbunden. Die Erinnerungen an meine Kindheit und meine ersten Berührungspunkte mit John kommen hoch. Gleichzeitig ist es für mich als Italiener natürlich auch besonders in meinem Heimatland zu tanzen. Nicht, weil ich mich hierfür mehr anstrenge, ich gebe auf der Bühne immer mein Bestes. Es ist wie die Kirsche auf dem Sahnehäubchen. Ein großer Schritt in meiner Karriere, den ich nie vergesse werde. Viele Familienmitglieder und Freunde werden zu meiner Debütvorstellung ins Teatro La Fenice kommen. Ich spüre Aufregung, auch Druck, und fühle mich geehrt, dass John Neumeier mir diese Gelegenheit gibt. Heute Vormittag hatten wir einen ersten Probedurchlauf im Ballettstudio – es wird also passieren!
Im Mittelpunkt der »Kameliendame« stehen drei zentrale Pas de deux, die John Neumeier im 1., 2. und 3. Akt platziert. Sie verdeutlichen die unterschiedlichen Stadien der Liebe zwischen Marguerite und Armand. Du tanzt an der Seite von Ida Praetorius, die mit dem Hamburg Ballett ihr Debüt in der Titelrolle gibt. Was ist das Herausfordernde an John Neumeiers Partnering? Und wie bereitet ihr euch auf euer gemeinsames Debüt vor?
Eigentlich hat Ida Praetorius die Titelrolle schon einmal getanzt, in Kopenhagen mit dem Royal Danish Ballet. Aber du hast schon Recht, es ist sicherlich anders die »Kameliendame« mit dem Hamburg Ballett zu tanzen, insofern ist es irgendwie auch ein Debüt.
In der »Kameliendame« ist Marguerite die Erfahrene im Leben. Armand ist in gewisser Weise viel naiver, er entdeckt bestimmte Aspekte des Lebens erst durch sie. Es ist hilfreich, dass ich mit Ida eine Partnerin habe, die diese Rolle schon kennt und die mich führen kann – das passt zur Geschichte, die wir erzählen. Ida konnte mir zum Beispiel sagen, welche Dinge Ballettmeister*innen mit ihr besprochen haben, als sie die Rolle zum ersten Mal einstudiert hat.
Jacopo Bellussi und Ida Praetorius im Ballettsaal (c) Kiran West
Ich habe auch außerhalb der Bühne eine gute Beziehung zu Ida. Das ist immer hilfreich, vor allem auch für das Partnering, das du in deiner Frage ansprichst. Die Partnerarbeit in Johns Balletten ist knifflig und technisch sehr anspruchsvoll, Ida und ich vertrauen uns gegenseitig. Tatsächlich haben wir gerade erst das White-Pas de deux zusammen in Italien getanzt.
Wir hatten nur wenig Zeit das ganze Ballett einzustudieren. Also haben wir auch in der Freizeit gemeinsam gearbeitet und uns die Zeit genommen, an den drei Pas de deux zu arbeiten. Auch Kevin Haigen hat uns sein Wissen über das Ballett weitergegeben. Das Erstaunliche an der »Kameliendame« ist: Du kannst 20 verschiedene Paare in den Hauptrollen sehen, und erlebst dabei 20 ganz unterschiedliche Interpretationen.
Dass wir nur wenig Zeit zum Proben hatten, ist am Ende gar nicht schlecht. Armand ist vor allem im ersten Teils des Balletts ein junger Mann, dem Dinge passieren, die so nicht geplant waren und die er sicher so nicht erwartet hätte. Die kurze Vorbereitungszeit hilft mir, diese Spontaneität zu bewahren, mich quasi in die Rolle zu stürzen und die Dinge auf mich zukommen zu lassen.
Proben im Ballettsaal des Teatro La Fenice für »Die Kameliendame« (c) Kiran West
Du initiierst viele eigene Projekte, zuletzt eine Charity-Gala für Kinder mit Herzproblemen in deiner Heimatstadt Genua. Erzähl uns, wie hat das angefangen und was sind die nächsten geplanten Projekte?
Ich habe immer gesagt, dass ich eines Tages Ballettdirektor werden möchte, das ist immer noch mein Traum. Alles begann im August 2018, als in meiner Heimatstadt Genua der Ponte Morandi einbrach. 43 Menschen starben bei dem Unglück, Hunderte, die in Häusern unter der Brücke wohnten, wurden obdachlos. Die Brücke verband den Ost- mit dem Westteil der Stadt, jede*r in Genua fährt über sie. Ich wollte den betroffenen Familien meine Anteilnahme zeigen und organisierte meine erste Wohltätigkeitsgala mit dem Titel »Hommage an Genua«, deren Erlös dem Viertel und den Familien zugutekam, die vom Einsturz der Morandi-Brücke betroffen waren. Die Gala kam gut an – eine der Personen, die gekommen war, um die Familien der Opfer zu vertreten, bat mich zu einer Gedenkveranstaltung fünf Jahre nach dem Unfall wiederzukommen.
Ich habe diese Idee, jedes Jahr eine Benefiz-Gala in Genua zu organisieren. Ich möchte helfen in zweierlei Hinsicht: Zum einen möchte ich den großen Tanz wieder in meine Heimatstadt Genua zurückzubringen. Das Nervi Festival war eine der wichtigsten Festivals in Italien, Compagnien aus aller Welt waren zu Gast. Im Laufe seiner Geschichte tanzten hier die berühmtesten Künstler, darunter Margot Fonteyn und Rudolf Nurejew. Diese Tanz-Tradition möchte ich weiter fortführen.
Zum anderen möchte ich jährlich eine bestimmte Organisation oder ein bestimmtes Projekt unterstützen, durch Benefiz-Tanzgalas. 2022 wurde ich zum »Ambasciatore di Genova nel mondo« (Botschafter Genuas in der Welt) ernannt, und das ehrt mich und motiviert, diese Wohltätigkeitsprojekte für meine Heimatstadt auch in Zukunft weiterzuführen. Die nächsten Projekte sind bereits in Planung!
Vielen Dank für das Interview, lieber Jacopo, und ein herzliches Toi, toi, toi für dein Debüt in »Die Kameliendame«!
Über 45 Jahre ist John Neumeier von dem »Hamlet«-Stoff fasziniert und arbeitet an immer wieder neuen Ballettfassungen. Eine Frage steht dabei immer im Vordergrund: Wie kann man einem so umspannenden Klassiker der Weltliteratur gerecht werden und ihn für die Bühne des Balletts adaptieren? Bevor die neueste Version »Hamlet 21« auf der Bühne des Festspielhaus Baden-Baden zu erleben ist, möchten wir auf eine kleine Zeitreise gehen und die Entwicklung der einzelnen »Hamlet«-Versionen aufzeigen. Schaut selbst!
John Neumeier ist seit drei Jahren Ballettdirektor des Hamburg Ballett. Im Januar dieses Jahres feiert seine erste »Hamlet«-Version Premiere, aber nicht in Hamburg und mit seiner Compagnie, sondern in New York mit den damaligen Startänzer*innen Gelsey Kirkland als Ophelia, Erik Bruhn als Claudius, Marcia Haydée als Gertrude und Mikhail Baryschnikow als Hamlet. William Carter verkörpert den Geist.
Mikhail Baryshnikow ist es auch, der John Neumeier überhaupt dazu bringt, ein Hamlet-Ballett zu kreieren.
»Baryschnikow wollte diese Rolle so gern tanzen, dass sein damaliger Agent Sheldon Gold mich jeden Tag mit Anrufen bombardierte. Misha schlug Dmitri Schostakowitsch Film- und Schauspielmusik zu Hamlet vor. Mich dagegen faszinierte eine ungewöhnlich starke Komposition des amerikanischen Komponisten Aaron Copland, Connotations for Orchestra«.
Daher wird die erste einaktige Fassung »Hamlet Connotations« genannt, angelehnt an die assoziative, fragmentarische Struktur des Balletts, das für nur 5 Tänzer*innen kreiert ist.
1976
Nach der Uraufführung von »Hamlet Connotations« in New York, regt die Tänzerin Marcia Haydée, die schon als Hamlets Mutter Gertrude in New York tanzte, eine zweite Fassung für das Stuttgarter Ballett an. Nach dem Tod von John Cranko wird sie 1976 zur Ballettdirektorin dieser Compagnie ernannt.
Heraus kommt »Der Fall Hamlet«, eine von der Ausstattung vereinfachte Version, die emotional umso intensiver ist und im November 1976 in Stuttgart Premiere feiert. Ein Jahr später wird die Choreografie auch in Hamburg und mit Tänzer*innen der Hamburger Compagnie gezeigt.
In einer Programmnotiz von John Neumeier für die Stuttgarter Fassung steht: »Das Ballett erzählt keine Geschichte. In ihren Aussagen stellen sich die vier Figuren den Fall vor. Jeder muss sich mit einem Mordfall auseinandersetzen, muss über die Leiche schreiten, um in einer möglichen Zukunft weiterleben zu können.«
1985
Die Urfassung zu »Hamlet 21« entsteht in Kopenhagen für das Royal Danish Ballet. Für die Eröffnung des neu renovierten Opernhauses lädt man John Neumeier dazu ein, ein Ballett mit einem dänischen Thema beizusteuern. Der Choreograf willigt ein und kreiert seine dritte Hamlet-Fassung mit dem Titel »Amleth«. In »Amleth« verwendet John Neumeier erstmals Elemente der Vorgeschichte von Saxo Grammaticus und verknüpft sie mit dem berühmten Shakespeare-Stoff.
Die »Gesta Danorum« von Saxo Grammticus, um 1200 auf Latein herausgebracht, gilt heutzutage als eine der wichtigsten Quellen für die frühe dänisch-nordische Geschichte und enthält die Amlethus-Sage, die als Inspirationsvorlage für Shakespeares »Hamlet« diente. In der Geschichtssammlung werden der Krieg zwischen Norwegen und Dänemark sowie die Hochzeits Geruths thematisiert. Durch das Einbinden der Amlethus-Sage bekommen wir auch wertvolle Einblicke in die Kindheit des Titelhelden und die Beziehung zu seiner Mutter Geruth.
»Amleth« ist John Neumeiers erste abendfüllende Hamlet-Version. Die Tänzer*innen stattet er in wikingerartige Kostüme aus, die das Geschehen des Stücks historisch verorten. Diese Ausstattung wird sich nicht lange halten. Die dänische Königin Margrethe II, die eine Bewunderin von John Neumeiers Werken ist, antwortet nach der Premiere des Stücks auf die Frage, wie es ihr gefallen habe: »Es hat vielleicht ein bisschen zu viel Geschichte«.
Die Beschäftigung mit dem »Hamlet-Stoff« zieht sich fort. John Neumeier denkt sein »Amleth«-Ballett weiter und kreiert eine Neufassung für seine Hamburger Compagnie. Das Konzept, Shakespeares »Hamlet« mit der Amlethus-Sage von Saxo Grammaticus zu verbinden, behält er bei. Von den Wikinger-Kostümen verabschiedet er sich und verlegt die Handlung in eine moderne Epoche zwischen den 1930er und 1960er-Jahren.
Für John Neumeier ist das zentrale Dilemma in Shakespeares »Hamlet« die Verantwortung für die Vergangenheit. Der junge Mann will eigentlich studieren, interessiert sich für das Theater und soll nun Blut-Rache verüben. Dieser Grundkonflikt wird in dem Pas deux zwischen Hamlet und dem Geist seines Vaters deutlich, der von seinem Sohn Rache an seinen Mord durch den eigenen Bruder verlangt. Dieses Pas de deux gibt es in dieser Form übrigens schon seit der allerersten »Hamlet«-Version von 1976.
Wie schon beim Vorgängerballett »Amleth« lässt sich John Neumeier von der Musik Michael Tippetts inspirieren.
2013
Unter dem Titel »Shakespeare Dances – Die ganze Welt ist Bühne« zeigt John Neumeier Kurzformen seiner Ballette »Wie es Euch gefällt«, »Vivaldi oder Was ihr wollt« und »Hamlet«.
In »Hamlet« konzentriert er sich dabei auf die Kernszenen , darunter die Begegnung der Titelfigur mit dem Geist seines verstorbenen Vaters und deren Auswirkungen.
Das vorerst letzte Ballett zum »Hamlet«-Stoff feiert im Juni 2021 Premiere in Hamburg. Ursprünglich schon für März 2020 geplant, muss die Neuversion coronabedingt mehrere Male verschoben werden. John Neumeier nutzt die Zeit und ergänzt während der Corona-Wartezeit das Stück um eine neue Rahmenhandlung, die das Geschehen um Hamlet als Tagtraum in einem Klassenzimmer verortet.
»Die Schauspiele William Shakespeares waren während meiner gesamten Karriere eine bleibende Inspirationsquelle. Aber wenn man 45 Jahre von einem Stoff fasziniert ist und so lange daran arbeitet, muss es dafür einen guten Grund geben. Shakespeares Drama Hamlet ist sicher ein Wahrzeichen der Weltliteratur. Es ist ein Werk, von dem wir voraussetzen, dass es wesentlich ist, von dem wir annehmen, dass wir es kennen sollten. Viele von uns haben Hamlet in der Schule gelesen. Möglicherweise sollte auch mein Ballett in einem Klassenzimmer beginnen?«
Diesen Gedanken macht John Neumeier wahr. Seine vorerst letzte Ballettversion von »Hamlet« eröffnet die 46. Hamburger Ballett-Tage. Dieses Wochenende feiert »Hamlet 21« seine Baden-Baden Premiere und ist für insgesamt drei Vorstellungen im Festspielhaus zu erleben (7., 8. und 9. Oktober).
Damit endet unsere kleine Zeitreise. Und wer weiß, vielleicht müssen wir schon bald diesen Blog um ein weiteres »Hamlet«-Ballett aktualisieren.
Das Hamburg Ballett eröffnet im Festspielhaus Baden-Baden die erste Ausgabe des Tanzfestivals »The World of John Neumeier« mit drei Vorstellungen von »Beethoven-Projekt II« (1.-3. Oktober). Ida Stempelmann, Ensemblemitglied beim Hamburg Ballett, tanzt eine führende Solorolle in diesem Ballett von John Neumeier. In unserem Blog spricht sie über die Kreation und über ihre weiteren Auftritte in Baden-Baden.
Ida, in Baden-Baden tanzt du dieses Jahr in mehreren Theatern. Im Festspielhaus sehen wir dich dieses Wochenende in John Neumeiers »Beethoven-Projekt II«. In deinem Steckbrief für unseren Blog sagtest du, dass deine schönste Erinnerung mit dem Hamburg Ballett der gesamte Kreationsprozess von »Beethoven-Projekt II« war. Was war so besonders daran?
Ida Stempelmann: Erstmal war es natürlich sehr besonders, weil es meine allererste Kreation mit John Neumeier war und es immer eine Überraschung war, was wir als Nächstes machen würden. Es ist wirklich eine besondere Zeit, die man da im Studio verbringt und ich konnte sehen und Teil davon sein, wie ein Ballett von John Neumeier zu Stande kommt!
Dann fiel die Kreation auch in eine Zeit, wo endlich etwas mehr Normalität in die Theater zurück gekehrt ist nach den sehr strengen Corona-Regelungen. Wir durften uns beim Tanzen wieder berühren. Die Uraufführung von »Beethoven-Projekt II« war die erste Aufführung, wo das Orchester uns wieder begleiten durfte, in diesem Ballett spielte das Orchester sogar mit uns auf der Bühne.
Ida Stempelmann und Atte Kilpinen, im Hintergrund das Orchester in »Beethoven-Projekt II« (c) Kiran West
Es war so schön das Orchester spielen zu hören und auf der Bühne zu sehen. Nachdem Corona-bedingt die Premiere (ganze 7-mal!) verschoben werden musste, unsere Vorfreude endlich wieder vor Publikum zu tanzen immer mehr wuchs, war es wirklich ein ganz besonderes Gefühl unsere Freude am Tanzen wieder mit Menschen teilen zu können.
Du tanzt auch in »Die Unsichtbaren« für das Bundesjugendballett im Theater Baden-Baden. Erzähl mal, wie wurdest du überhaupt Teil des Projekts? Wen verkörperst du in »Die Unsichtbaren«?
Nach einer »Matthäus-Passion«-Probe im April rief John Neumeier mich zu ihm und erzählte mir von dem Projekt, erklärte worum es gehen würde und fragte mich, ob ich bei der Produktion mitmachen wollen würde. Darüber musste ich keine Sekunde nachdenken, ich habe sofort ja gesagt!
Es ist ein sehr interessantes und wichtiges Thema und ich liebe das BJB. Wir haben etwas über einen Monat fast täglich mit John Neumeier im Studio verbracht und sehr intensiv an dem Werk gearbeitet. Es war für mich eine große Bereicherung, so tiefgründig zu arbeiten und in die Geschichte unserer Kunstform in Deutschland einzutauchen.
Ida Stempelmann mit dem Bundesjugendballett in »Die Unsichtbaren« (c) Kiran West
In dem Stück verkörpere ich keine bestimmte Figur. Die einzige Figur, die durchgehend derselbe Charakter bleibt, ist Isabella Vértes-Schütter als Mary Wigman. Sie ist es auch, die uns wie ein roter Faden durch den Abend führt. Wir Tänzer verkörpern verschiedene Situationen, Erinnerungen und Personen, die eine Rolle in Mary Wigmans Leben gespielt haben. Manchmal agieren wir als wir selbst – als das BJB, eine Gruppe, die sich mit dem Thema des Abends auseinandergesetzt hat.
Zwischen Proben und Vorstellungen ist oft nicht sehr viel Zeit, aber gibt es etwas an Baden-Baden, was dir besonders gefällt? Einen Ort, Platz, Café, das du noch besuchen möchtest?
Letztes Jahr sind wir einen Berg hochgewandert und haben dort einen Stand gefunden, wo man Honig von einem lokalen Imker kaufen kann. Es ist schön von so viel Natur umgeben zu sein. Und die Kartoffelsuppe bei Café König ist superlecker!
In unserer Reihe »Das Hamburg Ballett in Zahlen« veröffentlichen wir regelmäßig interessante Zahlen und Fakten rund um das Hamburg Ballett. Was verbirgt sich wohl hinter der heutigen Zahl?
Unsere Tänzerinnen und Tänzer sind in Baden-Baden angekommen und freuen sich auf die allererste Ausgabe des Festivals »The World of John Neumeier«. Im Festspielhaus tanzt unsere Compagnie John Neumeiers Ballette »Beethoven-Projekt II« (1.-3.10.) und »Hamlet 21« (7.-9.10.). In den kommenden Tagen wird auf der Bühne des Festspielhauses fleißig geprobt. Unsere Technik-Crew ist bereits seit ein paar Tagen vor Ort und hat im Voraus alles für die Ankunft unserer Tänzerinnen und Tänzer vorbereitet: Die LKW, voll mit Kostümen, Bühnenbild und Requisiten, entladen, die Kulissen aufgebaut und den Tanzboden ausgelegt. Insgesamt 400 Quadratmeter Schwingboden und zwei Sätze PVC (etwa 800 Quadratmeter) wurden aus Hamburg mitgenommen und vor Ort verlegt.
Ein Tanzboden besteht in der Regel aus einem Unterboden und einem Deckbelag, auch Tanzteppich genannt. Die Eigenschaften des Deckbelags richten sich nach den stilrichtungsabhängigen Bedürfnissen der einzelnen Institutionen. Bei uns besteht der Tanzteppich aus PVC. Er darf nicht glatt sein, damit unsere Tänzerinnen und Tänzer nicht ausrutschen. Er sollte aber auch nicht stumpf sein, denn dann bleiben die Tänzer »kleben«, was wiederum zu Verletzungen wie Bänderrissen führen kann. Unter dem Tanzteppich ist ein sogenannter Schwingboden unumgänglich. Der etwas nachgiebige Boden, bestehend aus »schwingenden« Platten, schont die Gelenke unserer Tänzerinnen und Tänzer und reduziert Verletzungsrisiken. Ein professioneller Tanzboden ist somit eines der wichtigsten Utensilien und darf bei keiner unserer Tourneen fehlen!